Göttinger Predigten im Internet, hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch


Predigtreihe: Die Antithesen in der Bergpredigt

Datum: 28.3.99
Text: Matthäus 5, 43-48
Verfasser: Prof. Dr. Klaus Schwarzwäller

Liebe Gemeinde!

Ich erinnere mich noch gut: Als ich etwa 17 war, wurde in dem hektographierten Blatt der evangelischen Jugend meiner Heimatkirche eine lebhafte Diskussion ausgetragen über das angemessene Verhalten - mit den damals üblichen Jugendfragen: Tanzen, Rauchen, Liebe, Sex, Gehorsam usf. Die Tendenz war ingesamt eher weit als eng. Da erschien eine Zuschrift, die den letzten Vers unseres Textes zitierte: "Darum sollt ihr vollkommen sein, gleichwie euer Vater im Himmel vollkommen ist." Daran wurden steile Folgerungen geknüpft.

Der Vers ließ mich erschrecken - das also hatte Jesus gefordert! Das klang mir zwar "gesetzlich", doch immerhin - Jesus selbst! Irgendwann später las ich dann die ganze Bergrede und stieß auf dieses sechsfache: "Ihr habt gehört, daß gesagt ist - ich aber sage euch", und ich fand, daß Jesus ganz, ganz hohe Forderungen stellt. Doch ich war in dem Alter, wo mir keine Forderung zu hoch war, wo man große Ziele sucht; zudem war ich durch meine Erziehung dazu gebracht, diese Sätze wörtlich zu nehmen und unmittelbar auf mich zu beziehen. Christlich leben, das war nunmehr - insgesamt gesehen - ein Ringen um Reinheit. Natürlich trug es mir täglich bitterste, wenn auch unsichtbare Niederlagen ein. Ja, ich brauchte in der Tat den Sündenheiland, der mich Tag um Tag tröstete und mir wieder Mut gab zur nächsten Runde des Scheiterns... Zehn Jahre später sprach man im Blick auf meinen und die unzähligen ähnlichen Fälle von der "ekklesiogenen Neurose". Doch da war weit und breit niemand, der dieses Wort des Herrn - immerhin des Herrn! - wegradierte: "Darum sollt ihr vollkommen sein, gleichwie euer Vater im Himmel vollkommen ist."

Und heute? Wer sich nicht mit der billigen Ausrede beruhigt, daß man mit der Bergpredigt "die Welt nicht regieren" kann - natürlich nicht! - , wer sie vielmehr ernstnimmt, der kommt hier um Kompromisse und ums Lavieren nicht herum und muß einsehen, daß sie nicht für diese Welt ist. Damit ist sie allerdings praktisch außer Gültigkeit gesetzt als eben gut und hehr, doch unerreichbar. Zu meiner Zeit hörte ich niemanden, und auch heute ist es nicht geradezu ein lauter Chor, der das zurechtrückte, der da in die Ohren rieb: NEIN! Jesus predigt doch nicht Moral! Ich werde den Eindruck nicht los: Moral ist immer noch gefragt, und die Kirchen fühlen sich ihr verpflichtet. Die Bergrede aber wurde und wird uns darüber weiterhin zum Ideal - erhaben, unsere Sehnsüchte bestätigend, doch unwirklich und hoffnungslos überfordernd, wo man ihr zu folgen versucht.

Als ob da stünde, wir sollten vollkommen sein wie Gott - und was das heißt, ist zuvor in sechsfacher Weise gefordert, vom Verbot des Zürnens bis zum Gebot der Feindesliebe. Doch da steht: "...gleichwie euer himmlischer Vater": der, der die Sonne aufgehen läßt über die Bösen und über die Guten, der da weiß, was wir brauchen, bevor wir darum bitten, der, wie die Vögel und die Lilien, so auch seine Menschen ernährt. Das klingt denn doch anders. Natürlich ist Gott gemeint von Jesus. Doch Gott nicht allgemein, übermächtig und drohend, Gott auch nicht weltfern, entzogen und gleichgültig. Nein, vielmehr Gott, der sich uns zuwendet, der uns Vater und als dieser uns gut ist, mit uns Mitleid hat, der sich unser Geschick zu Herzen gehen läßt. Nein, wir sollen uns nicht an Gott messen, sondern Jesus erinnert uns an unseren himmlischen Vater! Der aber ist kein moralischer Diktator, sondern der liebt.

Und die Vollkommenheit? Nun, Jesus hat nichts von moralischer Vollkommenheit gesagt; das ist nicht seine Art zu reden. Er sprach ganz anders und meinte entsprechend etwas völlig anderes als moralische Vollkommenheit. Er meint "vollkommen" im biblischen Sinne: ganz und gar, bruchlos, ohne ein Schielen zur Seite, ohne Nebenzwecke - das, was ältere Sprache als "Einfalt" bezeichnete. "Vollkommen" wie unser "himmlischer Vater" besagt also: Wie er uns zugewendet ist und darin verläßlich, treu und stets für uns offen, so sollen auch wir als seine Kinder sein: verläßlich, treu und offen für unsere Mitmenschen.

Immer noch hoch genug gestochen und als Forderung erdrückend - jeder normale Mensch möchte nämlich einmal Pause haben von alledem und nur sein, da sei, für sich sein, enfach so. Älteren klingt dabei noch im Ohr jener so preußische Satz des früheren Berliner Bischofs Otto Dibelius: "Ein Christ ist immer im Dienst." Dann wäre Christus ein preußischer Oberpräsident - ach nein! Ob wir es lernen, die Bergpredigt einmal nicht als Forderungen aufzufassen, Christus nicht als Moralprediger zu verkennen, den Glauben nicht als fromme Leistung mißzuverstehen? - Ja aber, da steht nun doch -

Ja da steht! Da steht, daß wir vollkommen, daß wir ganz hingegeben sein sollen wie unser himmlischer Vater uns gegenüber. Doch wer das jemals ernsthaft probiert hat, der weiß spätestens seit dann: Das ist nicht machbar. Das mag man wollen, danach mag man streben, darum mag man ringen - ach, das alles taten die Pharisäer auch, und sie strotzten von gutem Willen. Genau das! Genau das ist der Weg der alten, der vergehenden, der von Gott weder gewollten noch akzeptierten Gerechtigkeit. Man kann es ja doch nicht, zu mehr als am Ende dann verbissenem Streben reicht es nie; und einer, der hierin gewissenhafter und bemühter war als die meisten Anderen, Luther nämlich, machte dabei die deprimierende Erfahrung: Das ist der gerade Weg in den Haß gegen Gott, in die "Gottesvergiftung"! Es geht nicht. Man kann's nicht machen.

Man kann es so wenig machen wie wie das Verlieben oder wie den Impuls, sich bei etwas zu beteiligen, einfach dabeizusein. Wenn es nicht kommt, nicht aufsteigt in einem, dann passiert eben nichts; und wenn man's dann trotzdem bewerkstelligen will, dann entstehen nur Krampf und Peinlichkeit - jenes unfrohe Christentum, das ebenso bemüht wie verklemmt ist, wo nicht falsch, so daß es einen graust; denn in den Augen lauern dabei Mißgunst oder Geilheit - oder Tod.

Manchmal frage ich mich, ob man nicht selber an der Bergrede gescheitert sein muß, um zu begreifen: Sie ist gesprochen von dem, der sie erfüllte - der allein sie erfüllte. Ja, Jesus Christus war vollkommen in der einfältigen Hingabe an Gott und Nächsten; und was er hier sechsfach aufgibt bis hin zur Feindesliebe und zum Segen für seine Hasser, das kennzeichnet sein Leben - und das brachte ihn ans Kreuz; denn es war unerträglich: Es schnitt den Weg von Frömmigkeit und Moral, den Weg des guten Willens und des persönlichen Engagements ab. Dieser Weg ist seither zuende - es hat sich nur noch nicht herumgesprochen. Und stattdessen - ?

Stattdessen der neue Weg: der Vollkommenheit im Sinne der Hingabe, der Verläßlichkeit, der Treue, der Offenheit. Das aber macht man nicht, sondern das kommt von innen, quillt aus dem Herzen. - Schön und gut; aber mein Herz...?

Über mein Herz verfüge ich bekanntlich nicht, sondern umgekehrt: Mein Herz verfügt über mich, denn mein Herz, das BIN ich. Darum hier jenes in unseren Ohren so mißverständliche, weil immer wieder moralisch aufgefaßte Sollen: "Darum sollt ihr vollkommen sein..." Das ist keine Forderung - so beschränkt war Jesus nicht, daß er nicht gewußt hätte: Es ist Unsinn, das zu fordern. Es ist vielmehr ein Verfügen. Es ist das Verfügen dessen, der die Bergrede sprach UND hielt, sein Verfügen über die, die er sich zu seinen Jüngern erkor, also über die, die zu ihm gehören. Als wollte er sagen:

Indem ihr zu mir gehört, hat der ganze Krampf, hat der ganze moralische Zwang, hat der knechtische Wille, das Gott Wohlgefällige zu tun, ein Ende. Das ist aus und vorbei. Ich verfüge: Ihr sollt nunmehr ganz und gar, ihr sollt mit euren Herzen mir gehören oder vielmehr dem, für den ich stehe: dem Vater im Himmel. Dem sollt ihr einfältig und ohne Schielen zugehören als dem, der es gut mit euch meint und der in unerschütterlicher Treue zu euch und für euch steht. Wie sich das gestaltet, wie sich das lebt? Ich gebe euch sechs Beispiele, und hier ist das sechste: "Liebt eure Feinde und bittet für die, die euch verfolgen." Indem ihr ganz und gar dem himmlischen Vater hingegeben seid - nein, nicht: dann empfangt ihr die Kraft dazu; dann wärt ihr schon wieder auf dem Weg des guten Willens und der frommen Pflicht. Sondern indem ihr dem himmlischen Vater hingegeben seid, passiert es euch, daß ihr unvermutet, unvermutet auch für euch selbst, plötzlich das Unmögliche wollt und könnt: Euren Feinden Liebe schenken, dem Schlagenden euch ausliefern, klar und wahrhaftig reden, die Ehe halten, im Mitmenschen trotz aller Schlüsselreize nicht zuerst das Sexualobjekt sehen, dem Bruder nicht mit Zorn und Herabsetzung begegnen, sondern zugewandt und offen. Nein, machbar ist das nicht. Doch indem ihr zu mir gehört, da SOLL es so sein, denn da SOLLT ihr ganz und gar mir gehören, so wahr ich euch zu mir rufe, und daraufhin AUS EUREN HERZEN HERAUS LEBEN UND HANDELN.

Und in diesem Sinne sage ich euch: Liebt eure Feinde und segnet die, die euch mit Schimpf und Fluch entgegentreten. Laßt sie euch zu Herzen gehen. Ja - sie tun weh, sie verletzen, sie überfordern auch immer wieder und fordern schier unwiderstehlich dazu heraus, ihnen auf ihrer Ebene der Bosheit, der Mißgunst oder des Hasses entgegenzutreten: "Mit mir NICHT! Ich will dich schon kleinkriegen!" Das steigt auf aus den Tiefen unserer selbst. Doch unser Herz - ?

Wenn das sich der Augen bedient, dann erkennen wir in den Feinden und uns Verfluchenden statt dessen - Menschen. Menschen, angewiesen auf Gottes Schenken und sein Erbarmen gleichwie wir selber. Menschen, von Gott geschaffen und doch höchst unvollkommen - wie wir auch. Menschen, gewollt und geliebt vom Herrn als verloren und doch zu schade fürs Verderben - abermals: so wie wir. Menschen bei alledem, denen wir wohl wollen, auch wenn wir uns gegen sie verwahren müssen: Denn wir alle leben aus der einen selben Liebe und Gnade Gottes.

So klingen die sechs "Antithesen", wie dieses sechsfache "Ihr habt gehört - ich aber sage euch..." auch genannt wird; so klingen sie aus mit einer Zusammenfassung, die nicht fordert. Sie tut mehr: Sie beschlagnahmt. Sie nimmt unsere Herzen in Beschlag. Dem Vater im Himmel gehören sie nunmehr. Und indem wir ihm und daraufhin unseren Herzen trauen, wird in unserem Leben selbst Unmögliches unvermutet möglich - vielleicht für uns selber unmerklich. Denn Herz und Aufmerksamkeit sind nun unversehens beim Nächsten.

Amen.


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