Göttinger Predigten im Internet, hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch


Predigtreihe: Die Antithesen in der Bergpredigt

18.2.1999
Passionspredigt über Mt. 5,13; 21-26
Verfasser: Prof. Dr. Axel Denecke

I

Rigoros -erfrischend rigoros, erschreckend rigoros- überfällt Jesus (nach der Komposition des Matthäus) seine Gemeinde in der Bergpredigt, nachdem er zuvor noch auf so freundliche Weise mit dem neunmaligen "Selig seid ihr...." uns Gottes Heil zugesprochen hat. Und jetzt - so als paßte es in die Passionszeit, wie die berühmte Faust auf das Auge- "Ihr seid das Salz der Erde!" Basta! "Wenn nun das Salz kraftlos wird..., ists zu nix mehr nütze. Man solls wegschütten, damit es die Menschen zertreten!" Also wir werden dann zertreten, wenn ich das Wort vom Salz wörtlich nehme, nicht nur auf die Jünger damals, sondern auf uns heute beziehe. Das ist stark, hart, wirklich passioniert, passionszeitgemäß rigoros! Erfrischend rigoros? Erschreckend rigoros?

Schaue ich mich um in unser noch christlichen, grad mal eben noch halbwegs christlichen bundesrepublikanischen Welt, so hab ich -ohne daß mich der Teufel der Schwarzmalerei reitet- schon den Eindruck: Das Salz ist wohl weithin kraftlos geworden. Na und was macht man dann: man schüttet es weg, ‘zertritt’ es. Im Klartext: Es geht an uns Christen mit freundlicher Nicht-Beachtung vorbei. Nicht mal aggressiv gegen uns rebellierend, das wäre ja noch was. Dann würde man wenigstens ernst genommen. Sondern durchaus freundlich, wohlwollend oder auch mitleidig lächelnd, hier und da generös noch eine Spalte in der Tageszeitung gewährend, aber im Grunde doch am Rande gar außerhalb des Geschäfts des harten Streits um Normen und Werte fürs kommende Jahrhundert. Betrachtet man die vielen Talkshows im Fernsehen, z.B. bei der durchaus seriösen Runde bei Sabine Christiansen, (von all den exhibitionistischen Nachmittagsquasselshows bei den Privaten gar nicht zu reden), wo ab und an nicht nur gesellschaftlich, sondern auch kirchliche relevante Themen verhandelt werden, so kommt das ‘Salz’ des Christen nicht vor oder es wird durch Exoten repräsentiert, die wie eine Karikatur christlicher Wertmaßstäbe wirken. Und hier in der Medienstadt Hamburg, wo ich selbst als halbwegs ‘öffentliche Person’ zu Hause bin, ist es nicht viel anders. Ein generös zugestandener Sonntagskommentar dann und wann, aber Theodor Fontane in meinem Ohr: "Doch wenn ich weiter geschlafen hätt und tät von alledem nichts wissen, würd mir was fehlen? Tät ichs vermissen?"

Man kanns drehen und wenden wie man will, so ist es! Nix da mit Salz, das wir doch - nach Jesu rigoroser Zumutung - sind. Nichts da! Eben doch stumpf? Kraftlos? Weggeworfen? Zertreten?

Kein Lamento bitte an dieser Stelle, kein wehleidiges Beschwören besserer alter Zeiten, sondern - Passionszeit ist ja! Bußzeit! In sich gehen! Ehrliche Bestandsaufnahme! Seelisches Großreinemachen! - nüchterne Wahrnehmung dessen, was ist. Nichts da mit "Salz der Erde"! Oder etwa doch? Jesus redet so rigoros - erfrischend, erschreckend rigoros - "Freunde, ihr seid das Salz der Erde. Ob ihr wollt oder nicht, ob euch recht ist oder nicht. Ihr könnt gar nichts dagegen machen. Es sei denn, es ist in euch kraftlos geworden. Doch dann..."

Also ein wirklich passender Einstieg in die Passionszeit, die wir als Christen ebenso ernst nehmen wollen, so wie dieses Wort von uns als ‘Salz der Erde’.

II

Ebenso rigoros geht’s nun zu in der sog. 1. Antithese, die in der Bibel mit den schlichten Worten "Vom Töten" überschrieben ist. "Die Alten haben auch gesagt ..., ich aber sage euch..." Wenn das nicht rigoros ist, entschieden, scharf und klar. Sehen wir es uns genauer an. Was sagten die "Alten"? Wir kennen alle das Gebot: "Du sollst nicht töten". Und es wird auch gleich mit einer Androhung verbunden. "Wer aber tötet, soll des Gerichts schuldig sein". Ganz klar! Braucht man nichts dazu zu sagen, sieht jeder ein, so läuft ja auch unsere Rechtsprechung.

Und nun Jesus, ganz rigoros: "Nicht erst wer tötet, sondern schon wer seinem Bruder (resp. Schwester) zürnt, wer ihn beschimpft, beleidigt... ist des Gerichts schuldig". Oh ja, es hört sich an wie ein verspäteter Karnevalsscherz, denn wer käme hier nicht hinter Gittern? Unser ganzes Land, ja auch unsere Kirche wäre ein einziges Gefängnis. Und manchmal hat man durchaus den Eindruck, es ist tatsächlich so. Trotzdem: Läßt sich nach dieser rigorosen Lebensdevise leben, wenn ich unterstelle, Jesus hat das alles nicht nur "symbolisch", so im übertragenen Sinn gemeint, sondern tatsächlich ganz wörtlich und direkt? Läßt sich danach leben? Machen wir also die Probe in unserem Leben?

1. Nein, so läßt sich nicht leben, natürlich nicht. Es überfordert uns Menschen heillos, weil wir alle - auch die Sanftmütigsten, Friedvollsten, Nachgiebigsten unter uns - diesen Edelmut von Natur aus nicht haben. Auch wenn wir guten Willens sind, gar Gott darum bitten, es jeden Tag immer wieder neu versuchen. Sehe ich mich um in unserer Gesellschaft - immer wieder neue ausländerfeindlichen Aktionen mit Todesfolge, jetzt gerade wieder in Guben, da ist ein zorniges Nein und unmißverständliche Verurteilung geradezu Anstandssache - oder sehe ich menschenverachtende Sendungen im Fernsehen, wo Zorn und Widerstand und Fluchworte mich übermannen. - Und auch Jesus selbst wurde bekanntlicherweise von einem - wie wir sagen - "heiligen Zorn" übermannt, als er sah, wie der "Tempel Gottes" zu einer "Räuberhöhle" verkam. Also Nein, so rigoros friedvoll und sanftmütig läßt sich nicht leben, darf man gar nicht leben. Einen verpäteten Faschingsscherz hat Jesus hier gemacht. Oder?

Nun kann man sagen: Was Jesus sagte, gilt gar nicht allgemein für jedermann oder jedefrau, so als Weltformel für sanftmütigen Umgang miteinander. Er hat es zu seinen Jüngern (und Jüngerinnen) gesagt, zu seiner "Brüdergemeinde", also zu uns in der Kirche, die wir als Christen bewußt seinem Weg folgen sollen und auch wollen. Und unser Lebensstil habe sich eben zu unterscheiden von denen anderer Menschen. Hoher Anspruch, hohe Verpflichtung. Die moralische Meßlatte liegt für Christen halt höher. - Oh ja, wenns so gemeint ist, sieht die Bilanz fast noch schlimmer aus. Denn manchmal hab ich den Eindruck, in der Kirche geht’s trotz aller, vielleicht gar wegen aller Beschwörung der "Brüderlichkeit" (neuerdings sagen wir dazu "Geschwisterlichkeit", aber das hat in der Sache nichts geändert) keinen Deut besser zu. Zorn, üble Nachrede, gehässiger Neid, süffisanter Sarkasmus, hinterfotziges Mobbing ... ach und all die anderen Spielarten, den "Bruder" und die "Schwester" ins Abseits zu stellen, sind eher die Regel als die Ausnahme. Denk ich z.B. an den vitalen Existenzkampf um eine Berufsperspektive junger Theologen, angehender Pastoren/innen. Denk ich an die Verteilungskämpfe in Synoden um Geld, in Pfarrkonventen, Kirchenvorstandssitzungen um Ansehen und Einfluß. Genug von allem: Wir scheitern an unseren - an Jesu - zu hohen Ansprüchen. Und ganz ehrlich: Wer hat sich denn wirklich schon ganz konkret (und nicht nur in frommen Gedanken) vor dem Gang zum Abendmahl mit seinem Bruder versöhnt (vv.23-24), welcher Bruder hats dann auch angenommen und es nicht nur als gutgemeintes Wortgeklimper empfunden? Und vor allem: Wie hat sichs auf den weiteren Umgang miteinander ausgewirkt?

Nein, auch unter "Geschwistern" gilt: So läßt sich nicht leben, so leben wir jedenfalls nicht. Jesu rigorose Moral: "Ich aber sage euch.." hält der Wirklichkeit, gerade auch der christlichen, nicht stand. Auch wenn es noch so passioniert vorgetragen ist. Das ist alles "erschreckend" rigoros. Kein ‘Salz der Erde’ da, vom ‘Licht der Welt’ noch ganz zu schweigen.

2. Ja, so läßt sich leben, durchaus, grad weil Jesu Wort nicht nur "erschreckend", sondern auch "erfrischend" rigoros ist. Unter zwei Voraussetzungen:

a) Wenn jeder nicht auf den anderen schaut, obs da klappt - in der Kirche, in unserer Gesellschaft - und da natürlich sofort entdeckt, daß es nicht klappt. Sondern wenn jeder bei sich selbst beginnt, bei sich ganz persönlich, ganz unabhängig davon, wies bei anderen aussieht. "Du bist der Mann", "Du bist die Frau", die hier angeredet ist, Du ganz persönlich und ganz direkt, ohne daß Du auf den/die andere/n schielen mußt. Bei Dir beginnt es, wenn es beginnt. Und wenn ich wirklich bei mir beginne, dann habe ich gar keine Zeit, kann man sich gar nicht den Luxus leisten, auf andere zu schielen. Und ich hab genug damit zu tun, bei mir selbst zu beginnen, in mir und in meiner kleinen aber überschaubaren Welt mit mir so erfrischend rigoros zu sein und zu sehen, wieweit ich damit komme.

b) Hier wird kein "Ist-Zustand" von Jesus festgestellt. So ist es also bei mir, bzw. so solls, muß es gar bei mir sein. Hier wird vielmehr ein Ziel anvisiert, auf das hin ich mein Leben orientiere. Frei nach Paulus: "Nicht daß ichs ergriffen hätte, ich jage ihm aber nach, weil ich davon ergriffen worden bin". Also nicht: So soll es sein, muß es sein - und leider - verdammt noch mal - scheitere ich immer wieder, weils so erschreckend rigoros ist. Und auch nicht: So ist es bei mir und ich kann mich vergnügt damit beruhigen, daß ich ja laut Jesu Zusage ‘Salz der Erde’ schon bin und auch so leben. Sondern: Ich weiß für mich, wo es langgeht, welcher Lebensstil für mich der richtige ist. Und ich werde nicht müde werden, mich daran, an Jesu Lebensstil, zu orientieren. Ich werde wohl - das sagt meine Lebenserfahrung - dies Ziel in meinem Leben nie erreichen, aber ich arbeite daran, bleib nicht stehen, sondern gehe immer weiter, mal stolpernd, mal auch fallend, aber unbeirrt das Ziel vor Augen, das ich als richtig erkannt habe, heilsnotwendig zunächst für mich, ja und dann... vielleicht strahlt es ja auch nach außen aus, zieht andere mit hinein in diesen ‘way of live’. Also zum Glück ist Jesu "Ich sage euch..." so erfrischend rigoros, zu meinem Glück. Denn nun weiß ich, wo es langgeht in meinem Leben. Das will ich ganz ernst nehmen und peu a peu - ohne mich zu überfordern, ohne mich unter einen gesetzlichen Zwang zu stellen, ohne andere daran zu messen, ohne zu resignieren, wenn ich meine Mittelmäßigkeit sehe, ohne zu stolz auf kleine Zwischenerfolge zu sein - daran arbeiten, damit leben, meinem Leben so eine innere Gestalt und ein äußeres Ziel zu geben.

Ja also, danach läßt sich leben. Durchaus. Und es gibt auch konkrete Beispiele dafür. Dabei muß ich nicht nur an so große, oft uns viel zu große Menschen wie L. Tolstoi und D. Bonhoeffer denken, die das ganz ernst und wörtlich genommen und in ihrem Leben zum mindesten ansatzweise verwirklicht haben. Ich denke einfach - das ist doch erlaubt - an mich selber und erinnere mich an Situationen, wo ich in diesem Geist gehandelt, gelebt habe (sehr ansatzweise nur, zugegeben, aber doch immerhin, ich bin ja erst auf dem Wege). Und jeder kann da bei sich selbst beginnen, "in sich gehen", sich betrachten und vielleicht wird er Spurenelemente davon durchaus entdecken. Vielleicht? Ich denke: bestimmt! Und dann erinnern wir uns auch an Situationen in Synoden und Pfarrkonventen und bei Familienkonferenzen und gar in politischen Gremien, wo das ansatzweise geklappt hat, wo gegen alle Verletzungs- gar verbale Tötungsgelüste "Versöhnung", "Verständigung", "Verzeihung" sich ausbreiten, wo ohne daß Diktat der alles zudeckende Sanftmut sich der Zorn durch friedenschaffende Maßnahmen in Verständnis verwandelt. Das gibt es durchaus, vielleicht mehr als wir Skeptiker vorschnell denken.

Also: Erfrischend rigoros ist das, was Jesus sagt. Er muß es so rigoros sagen, weil wir - zunächst jeder ganz persönlich, also Du und Du und ich - nur so aufmerksam gemacht werden auf Fähigkeiten und Talente, die durchaus in uns drinstecken, die Gott von Anfang an in uns hineingelegt hat und die trotz all unserer Unvollkommenheit und unseres Versagens ("Sünde" kann mans auch nennen) durchaus noch in uns stecken, wieder in uns stecken, weil Jesus wieder zutage gefördert hat. Erfrischend, beglückend, befreiend rigoros redet Jesus hier.

III

Und so gilt am Ende natürlich: "Ihr seid das Salz der Erde". Wir sind es, wenn wir uns an Jesu Lebenstil halten, wenn das unsere Zielvorgabe ist und wir uns daran orientieren. Salz der Erde sind wir gerade darin, daß wir nicht nachlassen, diesen Lebensstil ernst zu nehmen, daß wir nicht irre werden, uns daran zu orientieren. Und damit natürlich bei uns selbst zu beginnen. Dann ist es auch erlaubt, ja notwendig, dies gesamtgesellschaftlich "einzufordern", oder freundlicher gesagt: immer neu an diesen Lebensstil zu erinnern. Salz der Erde sind wir, wenn wir unbeirrt weiter darauf vertrauen, so läßt sich sinnvolles Zusammenleben durchaus regeln. Salz der Erde sind wir, wenn wirs - zugegeben: mit unserer kleinen Kraft - einfach vorleben. Mag sein, daß es Kreise zieht, daß es ansteckt, daß dieser Stil sich gar als allgemein "vernünftig" erweist. Das Bild vom "Salz in der Suppe", daß die Suppe würzt und erst wirklich genießbar macht, darf hier durchaus verwandt werden. "Genießbar" ist unser Leben wirklich nur, wenn stellvertretend für die, die es nicht wollen und nicht können, dieser Lebensstil Jesu zum mindesten unterschwellig das Miteinander prägt, vielleicht gar heimlich zur Anstandssache wird. Nicht alle müssen da mitmachen, bewahre Gott, es reicht bereits aus, wenns einige sind, vielleicht auch noch ein paar mehr, denn das Salz im Übermaß kann ja auch die Suppe versalzen.

"Ihr seid das Salz der Erde", sagt Jesus erfrischend, beglückend, befreiend rigoros zu sein, konkret zu Dir, zu Dir und natürlich auch zu mir. Ich glaube, wir haben guten Grund, dies ernst zu nehmen und uns einfach daran zu halten. Es ist so und Jesus traut es uns zu, daß wirs wirklich sind. Und daher brauchen wir auch keine Spekulationen darüber anzustellen, was denn geschieht, wenn das Salz stumpf wird, öd und fad, und also weggeworfen wird. Das brauchen wir nicht, denn wir sind ja Salz der Erde. Oder?

Nachbemerkung: Es ist eine gute Entscheidung, die sog. Antithesen der Bergpredigt, die einen Zyklus an den sechs Passionssonntagen bilden sollen, mit dem Wort vom "Salz der Erde" (Mt 5,13) zu verbinden. Damit ist zwar eine interessegeleitete Auslegung der Antithesen vorgegeben, aber jede Auslegung ist interessegeleitet und daher ist es gut, dies vorher auch offen zu sagen. - Daß Christen ‘Salz der Erde’ sind (Präsens, nicht Futur! Indikativ, nicht Konjunktiv!) zeigt sich darin, ob und wie sie die Antithesen in ihrem Leben umsetzen. Und umgekehrt gilt auch: Wenn die Antithesen konkret das Leben der Christen/innen gestalten, dann sind sie tatsächlich ‘Salz der Erde’. Dies zu verdeutlichen, ist Aufgabe der Predigt.

Prof. Dr. Axel Denecke
(Hauptpastor St. Katharinen/Hamburg)
Herbert-Weichmann-Str. 34
22085 Hamburg
Fax-Nr. 0511 / 612024


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