Göttinger Predigten im Internet, hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch


15. Sonntag nach Trinitatis
12. September 1999
Predigttext: Lukas 18, 28-30
Verfasser: Klaus Schwarzwäller


Predigt über Lukas 18,28-30
für Sonntag, den 12.9.1999, den 15. Sonntag nach Trinitatis
Verfasser: Prof. Dr. Klaus Schwarzwäller

Liebe Gemeinde!
Eben hatte Jesus den "reichen Jüngling", diesen gesetzestreuen, gerechten jungen Mann, traurig gemacht und vor den Kopf gestoßen mit der Forderung, alle Güter zu verkaufen, den Erlös an die Armen zu verschenken und ihm, Jesus, nachzufolgen. Das brachte der nicht übers Herz und zog bedrückt ab. Und dann hatte Jesus den Jüngern gegenüber noch nachgesetzt: "Es ist leichter, daß ein Kamel gehe durch ein Nadelöhr, als daß ein Reicher in das Reich Gottes komme." (V.25) Darüber wird diesen die eigene Situation bewußt: Sie hatten um Jesu willen alles verlassen und waren ihm nachgefolgt - einfach so, nur weil er sie in seine Nachfolge gerufen hatte. Nun weisen sie Jesus darauf hin - die darin steckende Frage braucht gar nicht eigens gestellt zu werden; sie liegt auf der Hand: "Und was ist für uns dabei herausgekommen?"

Ja - was kommt eigentlich dabei heraus, wenn Jesus einen Menschen in seine Nachfolge ruft, und dieser Mensch folgt dem Ruf? Um es klipp und klar auszusprechen: Rechnet es sich? Wird dieser Mensch wenigstens am Ende sagen können: Es hat sich gelohnt?

Die standen im Leben und kamen aus dem Alltag; Heilige im Sinne von Legende oder Fabel waren sie nicht, sondern nüchterne und - wie ihr Hinweis zeigt - nüchtern denkende und klar sehende Männer. Nun ist die Stunde der Wahrheit gekommen: Alles hatten sie um Jesu willen aufgegeben - und was hatte er ihnen zu bieten? Unterschwellig lauert dabei die Frage: Hat sich "der reiche Jüngling" nicht vernünftig, nicht klüger verhalten?

Jesu Antwort ist überraschend und unbefriedigend zugleich. Unbefriedigend - denn die Erfahrung lehrt: Wer um Jesu willen alles aufgibt und zurückläßt, ist ein Depp und kommt zu kurz. In einer diesseitigen, in Soll und Haben denkenden und berechnenden Welt sowieso. Doch auch in der Kirche und unter Frommen. Auch hier wird ein solcher Mensch - wie stets und überall - ausgenutzt, übergangen, benutzt, doch bei Gelegenheit auch gerne vorgezeigt und in Sonntagszeitung oder Schulfibel fallweise zum Vorbild stilisiert, womöglich Anlaß zu Worten wider den Materialismus... Und die Jünger selbst? Haben sie "in dieser Zeit" das Verlassene "vielfältig wieder empfangen"? Soweit wir wissen: kaum; sondern als Exponenten der ersten christlichen Gemeinde teilten sie deren Los: Bedrückung, Verfolgung und Armut. Allerdings: sie waren seither nicht allein. Sondern sie hatten seither Familie und Zuhause, wo immer Christenmenschen lebten.

Und Jesu Antwort ist überraschend, und das gleich doppelt. Überraschend einmal darin, daß Jesus sich als nicht weltfern oder jenseitig fixiert erweist. Er versteht die unausgesprochene Frage sofort, er nimmt sie ernst und gibt Antwort. Eine Antwort, die die Jünger erhöht und auszeichnet. Denn in ihr steckt: Ich weiß, ich weiß doch nur zu gut, daß ihr um des Reiches Gottes willen alles zurückgelassen habt, was Menschen lieb ist, was Menschen bindet, was menschliche Werte überhaupt ausmacht; ihr, ihr habt vollzogen, was dieser junge Mann verweigert. Das habe ich durchaus im Blick: IHR SOLLT UND WERDET EMPFANGEN. In dieser Zeit bereits - nein, nicht in Mark und Pfennig, in Haben und Gewinn. Vielmehr indem ihr allüberall Menschen finden sollt und auch finden werdet, die euch sein werden, was ihr verließt: nächste Menschen, die euch tragen oder die, umgekehrt, euch Ziele und Sinn geben. Und insgesamt: Ihr sollt und werdet LEBEN, und dieses Leben wird neu sein und keine Einschränkung mehr kennen, auch dem Tode nicht. Kurzum, die Antwort lautet: Ich habe euch verstanden; ich weiß, was für euch auf dem Spiel steht. FÜR EUCH IST GESORGT.

Überraschend aber ist Jesu Antwort vor allem darin, daß er mit ihr in einen anderen, unerwarteten Zusammenhang stellt, und zwar ebenso selbstverständlich wie leise. Das macht, er bricht aus den normalen, den üblichen Zusammenhängen aus. Wir sind es gewohnt, in Soll und Haben zu denken, in Einsatz und Gewinn, in Investition und Rendite, kurzum: in Geben und Nehmen. Wer dieses Schema verläßt, ist entweder ein Verschwender, der es dick haben muß, um sich's leisten zu können, oder ein Spinner. So oder so aber gibt ein solcher Mensch Anlaß, nach seiner Verantwortlichkeit zu fragen. Um es scharf zu sagen: Das macht unsere Lebenswelt aus, daß gerechnet wird - gerechnet auch im nicht Berechenbaren, etwa: Wir haben die N.s nun schon so oft eingeladen; jetzt sind die auch mal dran; oder: Ich habe so viel von meiner Zeit und auch aus Eigenem hineingebuttert; ich sehe doch gar nicht ein, daß nun ausgerechnet der hier etwas sagt, der nur...; oder auch: Ich will nichts geschenkt; und wenn einmal die große Abrechnung kommt, dann will ich mit gutem Gewissen sagen können...

Mit seiner Antwort streift Jesus diese Zusammenhänge und dieses Denken einfach ab: Die um des Reiches Gottes willen etwas aufgegeben haben, die sollen und werden empfangen. Dabei meint »Reich Gottes«: was Jesus verkörpert und wofür er steht. Und die dafür hingegeben, die dafür sich selbst hingegeben haben, die sollen empfangen. Soll und Haben oder auch Einsatz und Gewinn sind die gewohnten Denkweisen dieser unserer Welt. Die des Reiches Gottes aber sind Hingabe und Empfangen. Hingabe - sie rechnet nicht, sie schielt auch nicht auf Vorteil, Gewinn oder Nutzen. Sie ist ganz und gar, selbstvergessen, im besten Sinne dieses alten Wortes einfältig. Empfangen - wer empfängt, lebt aus der freien Zuwendung anderer und ist darin wie ein Bettler oder wie ein Kind im Haus, so oder so also dem entnommen, sich das Nötige selber erarbeiten zu müssen.

Die Erinnerung an Bettler oder Kind im Haus stößt natürlich ab. Es ist nicht nur unser natürlicher Stolz, sondern auch unser elementares Recht, als Erwachsene für uns selber zu stehen. Unbestritten! Doch als Geschöpfe unseres Schöpfers - ? Auch in der Zeit der Nachkommen des Schafes Dolly und der von Pfaffen posaunten "Verantwortung für die Schöpfung" (Wir! Für die Schöpfung!!) sind wir von ihm abhängig wie je und eh und vor ihm bloße Bettler. Und dank Jesus Christus ist er unser Vater, sind wir also nicht zufällige Ameisen im All, sondern haben beim Schöpfer Hausrecht, und wir nehmen es wahr, indem wir beten: "Unser Vater im Himmel..."

Hingabe und Empfangen - das klingt frei und fürstlich, das spiegelt eine Welt, einen Geist, in denen Krämertum und Berechnung, in denen Erwerbsdenken und Streberei abgetan sind; das läßt vor unserem inneren Auge eine durch und durch menschliche Welt aufsteigen, eine Lebenswelt, in der es nicht an erster Stelle darum geht, ob sich etwas rechnet - weil nämlich die Neigung, ja der Zwang zum Rechnen überwunden ist. Hingabe und Empfangen als die Begriffe des Reiches Gottes - nehmen wir getrost das Geheimnis des Werdens von menschlichem Leben als dessen Inbegriff. Die Gegenwelt, die des Rechnens und des Erwerbdenkens, das ist die der Fabrikation, des Klonens und auch der Produktion von Menschen - alles mit hohem Aufwand nicht nur an Gelehrsamkeit und Technik, sondern nicht zuletzt insbesondere an Kapital; und es soll Rendite erbringen, und zwar nicht zu knapp -

Hingabe und Empfangen als gleichsam Strukturmerkmal des Reiches Gottes - in einer Zeit, wo zwischen römischen Katholiken und Lutheranern seit Jahr und Tag um die Rechtfertigungslehre gestritten und Einvernehmen gesucht wird, mag die Erinnerung nützlich sein: Dies, daß wir uns Gott einfach hingeben und darauf vertrauen, von ihm alles, alles zu empfangen - ohne Rechnen, ohne Abwägen - , das war es, was Luther als das Geschehen der Rechtfertigung verkündigte. Das, was er als Inbegriff und Summe des Evangeliums erkannte und ihm selber zum Lebensinhalt wurde.

Kurz vor seinem Tode hatte er auf einem Zettel notiert: "Wir sind Bettler, das ist wahr." Er war Gottes Bettler gewesen und darin stolz und stark; er hat etwas von dem vor unseren Augen erkennbar werden lassen, wie wir reichlich empfangen, wo wir dazu frei geworden sind, hinzugeben, uns selber hinzugeben.

Wir haben auch andere Beispiele vor Augen. Darum ist uns die - unausgesprochene - Frage der Jünger näher: Was kommt für uns dabei heraus? Und in dieser Frage stecken viele Zweifel, Skepsis und auch Mißtrauen gegen große Worte.

Es gibt allein die Antwort, die Jesus gibt - eine Antwort, die herausführt aus dem Schema von Geben und Nehmen, die hineinführt in die Welt von Hingabe und Empfangen; eine Antwort, die er selber bewährt hat mit seinem eigenen Weg und die Gott bestätigt hat mit Ostern:

Es ist niemand, der ein Haus verläßt oder Eltern oder Brüder oder Weib oder Kinder um des Reiches Gottes willen, der es nicht vielfältig wieder empfange in dieser Zeit, und in der zukünftigen Welt das ewige Leben.

Amen


Lied: EG 346

Klaus Schwarzwäller
Email: kschwarzl@gwdg.de

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