Göttinger Predigten im Internet, hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch


14. Sonntag nach Trinitatis
05. September 1999
Predigttext: Markus 1, 40-45
Verfasserin: Oda-Gebbine Holze-Stäblein

Liebe Gemeinde!

"Und es jammerte ihn, und er streckte die Hand aus, rührte ihn an und sprach: ‘Ich will’s tun; sei rein!" - Es geht um Berührung mit Krankheit. Fast zwangsläufig kommen wir alle irgendwann mit Krankheit in Berührung. Mit eigener oder mit der eines Familienmitgliedes, eines Freundes, einer Kollegin. Wir reden über Krankheit. (Je älter wir werden, desto lieber.) Wir hören fast täglich irgendetwas über Krankheit, und sei es auf dem Wege über eine umstrittene Gesundheitsreform.

Krankheit ist alltäglich, gewöhnlich - und zugleich ist sie unheimlich, außergewöhnlich. Wir haben Krankheit im Griff, zähmen sie unablässig mit Hilfe von Vorsorge, Medizin und Pflege - und zugleich hat sie uns im Griff, sind wir ihr ausgeliefert. Was weiß ich denn schon über meinen eigenen Körper? Weiß ich, ob nicht irgendwo in einer Zelle längst unkontrollierbares Wachstum, ein Krebs, begonnen hat? In Wahrheit, das merken wir, haben wir doch immer noch wenig im Griff.

Krankheit: der Ausnahmezustand im Leben. Sie wirft Pläne, Tages- und Lebensläufe, Beziehungen und den Glauben über den Haufen. Ja, auch den, wenn es wirklich dick kommt. Natürlich haben wir Rituale und Regeln im Umgang mit Krankheit entwickelt: Krankschreiben, Arztbesuch, Versicherung und Krankenkasse, Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, Krankenbesuche und Genesungswünsche, Hygiene und Schonkost. Es gibt - so scheint es - Gebrauchsanweisungen für Krankheiten. Alles ist geordnet. Jedenfalls für den, der Krankheit von außen wahrnehmen kann. Wir haben uns vielfältig abgesichert, um nicht zu nah mit Krankheit in Berührung zu kommen. Sie soll nicht das Gewebe unseres Lebens zerstören.

Aber manchmal gelingt das nicht mehr. Dann stellt sie uns. Ich höre noch die 74-Jährige, die zum erstenmal in ihrem Leben schwer krank geworden war: "Ich habe mein Leben immer gemeistert. Alles mußte hundertprozentig sein. Und jetzt liege ich brach..." Krankheit als Brache; als Zeit, wo nichts mehr weitergeht. Das Leben scheint den Atem anzuhalten. Endgültig? Krankheit: fruchtlose Zeit, wie ein Feld, das brachliegt?

Wer krank wird, entbehrt und verliert. Aber manchmal gewinnt einer dabei auch. Vor allem, wenn ein Kind krank wird: Wie wohl tun die besorgten Blicke der Eltern! Wie nett auf einmal die sonst so biestigen Geschwister sind! Es gibt Lieblingsessen und Besuch, vor allem aber Zuwendung der Mutter. Und die andern müssen jetzt mal zurückstehen. Und das Zweitbeste: keine Schule! - Auch Erwachsene gewinnen Zuzwendung, Rücksichtnahme, Schonung. Man kann sich so daran gewöhnen, daß man sich unbewußt in Krankheit flüchtet...

Aber wenn es eine schwere Krankheit ist; wenn sie langwierig ist; wenn es gar eine Krankheit zum Tode ist, dann wendet sich das Blatt. Die Länge trägt die Last. Es gibt Ermüdungserscheinungen bei Ärzten und Pflegern. Die anderen gewöhnen sich an die Krankheit, nur der nicht, der krank ist. Er leidet täglich, stündlich, immer. Die kurzatmigen Aufmunterungen (Kopf hoch! Wird schon wieder!) greifen nicht mehr. Die Gespräche am Krankenbett werden schwieriger und kürzer, versiegen wie ein Rinnsal im Sand. Immerhin: das ist schon viel, wenn Menschen das miteinander aushalten und nicht die Flucht ergreifen! Oft ist es anders, zumal dann, wenn die Hoffnung auf Heilung schwindet. Einsam wird der Kranke, ausgegrenzt aus der Welt der Lebenden, so, als wäre er schon tot.

Aussatz heißt die Krankheit, von der hier ein Mensch durch Jesus befreit wird. Lepra, medizinisch ausgedrückt. Aber ‘Aussatz’ sagt genauer, was das eigentliche Problem ist: das Ausgesetzt- Sein. Wer von Lepra befallen wurde, wurde ausgeschlossen aus der Gemeinschaft der Gesunden. Wie sollten sie sich auch sonst gegen Ansteckung schützen? Aussatz war damals, anders als heute, eine nicht beherrschbare Krankheit. Ähnlich wie Aids heute, obwohl es da enorme Fortschritte in der Therapie gibt. Aber heilbar ist Aids (noch) nicht. Und wir wollen uns nichts vormachen: auch der Krebs ist noch nicht wirklich beherrscht, trotz aller Forschungserfolge, trotz aller Fortschritte in der Medikation und Therapie. Darum macht er doch so viel Angst. Und dann bricht eben auch heute, auch unter uns, das auf, was dem Aussätzigen in dieser Geschichte das Leben zur Hölle macht: die Krankheit isoliert; Berührungsangst wird unüberwindbar.

Die Übereinstimmung geht noch weiter. Wieviele Menschen glauben heute insgeheim oder sagen laut, daß z.B. Aids eine Strafe Gottes sei für einen moralisch anrüchigen Lebenswandel! Wieviele sagen, wenn sie krank werden: Womit habe ich das verdient! Warum gerade ich!? Wer im Altertum leprakrank wurde, galt als ein von Gott für seine Sünden bestrafter und geschlagener Mensch. Er war im medizinischen und religiösen Sinn unrein, unberührbar. Wenn also die Gesellschaft einen aussetzte, dann tat sie das guten Gewissens. Sie vollzog ja nur sichtbar das unsichtbare Strafgericht Gottes über einen Menschen. Gott war der eigentlich Aussetzende. Gott stieß einen sündigen Menschen in die Krankheit des Aussatzes. So dachte man. - Übrigens: Vielleicht waren die Aussätzigen damals sogar besser dran als z.B. ein aidskrankes Kind heute. Sie halfen sich gegenseitig, fanden in ihrer Krankheit unter den Kranken Solidarität. Aidskranke Kinder finden häufig keinen Lehrer, der sie zu Hause unterrichtet; niemanden, der mit ihnen spielt.

"Der Aussätzige kam zu Jesus, bat ihn, kniete nieder und sprach zu ihm: Willst du, so kannst du mich reinigen." Es ist wichtig an dieser Geschichte, daß der kranke Mensch selber handelt. Er geht auf Jesus zu, kniet nieder, redet, bittet. Er schickt sich nicht in sein Geschick. Er hat noch nicht resigniert. Ist das seine eigene menschliche Leistung? Sicher auch. Aber vielleicht ist der Mut des Kranken, sich an Jesus zu wenden, auch ein Zeichen für die verborgene, aber unzweifelhaft vorhandene Güte Gottes; ein Mut, der schon selber aus dem lebenschaffenden Geist Gottes kommt! "Welche der Geist Gottes treibt, die sind Gottes Kinder", sagt Paulus. Wie oft wissen sie es selber nicht und sind es doch, sind von Gottes Geist getragen, von Gottes Händen schon längst geleitet. Wie gut, daß Gott nicht wartet, bis wir im Kopf und im Herzen so weit sind. Seine Güte ist zuvorkommende Güte!

Und nun steht da: "Und es jammerte ihn." Wörtlich: sein Inneres, seine Eingeweide, wurden bewegt. Jesus beschäftigt sich nicht nur im Kopf mit dem Elend des Menschen. Er leidet es am eigenen Leib mit. Es geht ihm an die Nieren, macht ihm das Herz schwer, schlägt ihm auf den Magen. Wie gut unsere Sprache doch ist! Aber Jesus ergreift nicht die Flucht - "Ich kann das nicht mitansehen!" - geht nicht auf Distanz, spiegelt und verliert sich nicht in der eigenen Befindlichkeit. Er streckt die Hand aus und rührt den kranken Mann an. Ich bin sicher: er tippt ihn nicht nur an, mit spitzem Finger sozusagen. Vielleicht hat er ihn in den Arm genommen. Den grauenvollen Anblick einer von Krankheit zerfressenen Nase und den Gestank ausgehalten, ohne sich abzuwenden. Jesus kann mehr, als ich könnte. Weil er nicht in erster Linie die Krankheit sieht, sondern den Menschen, der leidet. Darum überwindet er Berührungsangst, wird mit-menschlich. Und das ist schon viel. Aber noch nicht alles.

Jesus rückt eine falsche Theologie, eine falsche Religion zurecht. Denn in ihm handelt Gott. Der Aussätzige weiß das. Er hat Jesus nicht nur als irgendeinen Wunderheiler angesprochen. Er hat vor ihm gekniet, wie man vor Gott kniet. Und jetzt weiß er: "Gott berührt mich in meiner Krankheit. Es ist nicht wahr, daß er mich mit dieser Krankheit getraft hat, daß er sich von meinem Leben abgewendet hat und nichts mehr mit mir zu tun haben will. Er hat mir etwas geschickt in dieser Krankheit: eine Botschaft. Ich muß sie entziffern. Aber sicher ist ab jetzt: Er kennt mich mit Namen. Ich bin sein."

"Ich will’s tun; sei rein!" Jesus geht über Berührung und Zuwendung hinaus, weit über das, was auch uns erschwinglich wäre. Er wendet das Geschick, macht das Leben des Kranken neu, bringt ihn neu zur Welt, in jedem Sinn. "Und so, wie ich das an dir tue, wird Gott das an allen tun. Siehe, ich mache alles neu!" Gott und Welt sind untrennbar miteinander verbunden. "Weder Hohes noch Tiefes, weder Krankheit noch Einsamkeit, weder Krebs noch Aids können uns von der Liebe Gottes scheiden, wie wir sie in Jesus Christus gesehen haben." So würde es Paulus heute sagen.

‘Meine Krankheit trennt mich nicht vom Grund meines Lebens. Ich bin nicht entwurzelt, nicht ausgeliefert an namenloses Entsetzen. Gott hat seine Hand schon nach mir ausgestreckt, unter mein Leben geschoben. Ich werde nicht versinken.’ Wer die Brachzeit einer Krankheit so wahrnehmen kann, ist schon von Jesus angerührt. Ein brachliegendes Feld ist kein totes Feld. Tote Felder gibt es nicht. Ein braches Feld kann neu bepflanzt und besät werden. Neues Leben kann aus ihm hervorkommen. Am Ende das endgültig neue Leben; es wird aus der Höhe gesät.

Vielleicht wird nun auch verständlich, warum Jesus nicht will, daß die Kunde von seiner Tat überall verbreitet wird. Die wundersüchtigen Menschen suchen das Spektakel, damals wie heute. Sie suchen ein Wunder, das ihr bisheriges Leben wiederherstellt; das sie wieder so sein läßt, wie sie waren. Das Wunder Jesu bietet mehr. Es bietet ein geheiltes Leben aus dem wiedergewonnenen Vertrauen heraus: Ich darf wieder unter dem mir zugewandten Antlitz Gottes, unter seinem Segen, leben. Gott hat mit meinem Leben zu tun. Er wird mich nicht ohne Hoffnung lassen. Er sät mich neu aus, wenn die Zeit reif ist. Amen.

Superintendentin Oda-Gebbine Holze-Stäblein
Burgdorf


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