Göttinger Predigten im Internet, hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch


7. Sonntag nach Trinitatis
18. Juli 1999
Predigttext: Johannes 6,30-36
Verfasser: Esko Ryökäs

VERTRAUEN ZU JESU GIBT DEM LEBEN GRUNDSICHERHEIT

Text: Joh 6,30-36
V. 30 Da sprachen sie zu ihm: Was tust du für ein Zeichen, damit wir sehen und dir glauben? Was für ein Werk tust du? V. 31 Unsere Väter haben in der Wüste das Manna gegessen, wie geschrieben steht (Psalm 79,24): «Er gab ihnen Brot vom Himmel zu essen.» V. 32 Da sprach Jesus zu ihnen: Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Nicht Mose hat euch das Brot vom Himmel gegeben, sondern mein Vater gibt euch das wahre Brot vom Himmel. V. 33 Denn Gottes Brot ist das, das vom Himmel kommt und gibt der Welt das Leben. V. 34 Da sprachen sie zu ihm: Herr, gib uns allezeit solches Brot. V. 35 Jesus aber sprach zu ihnen: Ich bin das Brot des Lebens. Wer zu mir kommt, den wird nicht hungern; und wer an mich glaubt, den wird nimmermehr dürsten. V. 36 Aber ich habe euch gesagt: Ihr habt mich gesehen und glaubt doch nicht.



Predigt

Der Text des Tages stellt Jesus als das Brot des Lebens heraus. Der Ausdruck "das Brot des Lebens" ist nicht leicht zu verstehen. Dessen Bedeutung bleibt für das alltägliche Leben oft fremd. Jesus als "das Brot des Lebens" bedeutet u.a., daß das Vertrauen zu Jesus dem Leben die Grundsicherheit gibt. Um dieses zu veranschaulichen, nehme ich aus dem Text drei Fragen:
1. Das Leben bedeutet nicht nur zu besitzen und zu kaufen.
2. Im Umgang mit anderen kann man Erfolg haben oder sich täuschen.
3. Das Grundvertrauen zum Leben entsteht nicht allein aus Wissen.

Dazu will ich drei Geschichten erzählen.

1. Vor zwanzig Jahren hatte ich schon sechs Monate in Westdeutschland studiert. Ich hatte mich an die Lebensweise des automobilen Staates gewöhnt. Fast jeder Student hatte ein Auto, und viele Familien besaßen mehrere Autos. Der Unterschied zur Heimat war nicht groß, aber ich mußte mich schon an die deutsche Lebensweise gewöhnen. Parkplätze waren überfüllt, und in den Städten gab es überall Autos.

Zu Frühjahrsbeginn beschloß ich, die Leipziger Messe zu besuchen. Sie war eine vielseitige Veranstaltung, auf der die sozialistische DDR ihr Können und ihre Errungenschaften vorstellte. Das feine Porzellan oder die Atmosphäre in der dreigewölbten Thomas-Kirche von Bach waren jedoch nicht die eindrucksvollsten Erlebnisse der Messe-Reise. Es wurden natürlich viele Errungenschaften und viele kulturelle Ereignisse angeboten, aber darauf war ich gefaßt. Am Sonntagmorgen beim Blick aus dem Fenster sah ich etwas Neues und Ungewöhnliches. Auf der Straße standen nur ein paar Wagen, fast alle waren Trabis. Bei einem Wagen war ein Mann mit Wassereimer und Waschlappen beschäftigt. Er hatte seinen Sohn bei sich, der auch mit eigenem Lappen den Trabant polierte. Vater und Sohn sprachen wenig miteinander, aber alle beide waren augenscheinlich glücklich. Der Sohn pflegte den Wagen seines Vaters und war an der gemeinsamen Arbeit beteiligt. Der Vater lehrte seinen Sohn, und gemeinsam pflegten sie ihre Errungenschaft, den eigenen Wagen.

Ich wußte, daß die Trabis in der DDR wertvoll waren. Sie zu beschaffen, war schwierig, obgleich man die nötigen Mittel hatte. Und der Preis war nicht so entscheidend wie im Westen. Ich war von der Gemeinschaft der Familie, eben von dem gemeinsamen Interesse beeindruckt. Vater und Sohn gehörten zusammen, sie erfreuten sich an der Zusammenarbeit. Die Hauptsache war letztendlich nicht der Wagen, sondern das Familienleben. Das Glück war offensichtlich, fast handgreiflich. Die Anzahl der Wagen war klein - sowohl im Vergleich zu Westdeutschland als auch zu den nordischen Ländern, aber das Glück, es war etwas Außergewöhnliches. Es gründete sich nicht auf Autos und eigentlich auch nicht auf das Nichtvorhandensein der Autos. Die Atmosphäre entfaltete sich in der Familie, in der Gemeinschaft. Sie war nicht mit Geld zu beschaffen, sie konnte man nicht im Laden kaufen. Eben dieses glückliche Gefühl der unersetzlichen Zusammengehörigkeit konnte man auf der Straße von Leipzig am Sonntagmorgen
erleben.

2. Im alltäglichen Leben strebt man immer nach besserem Leben. Das, was mit Geld nicht zu erreichen ist, bleibt oft unbeachtet. Es ist so leicht, Reklame zu lesen und in Geschäften Glück zu suchen. Die Sachen scheinen anfangs Befriedigung zu bieten.
Man geht leicht an den anderen Menschen vorbei. Dennoch braucht man sie, nicht als Helfer, sondern weil sie dem Leben Inhalt geben.

Dieses wird oft in Programmen der Konfirmandenunterrichtslager hervorgehoben. In Finnland nahmen 90,8 % 1995 von allen 15jährigen Finnen am lutherischen Konfirmandenunterricht teil, und von diesen besuchten 82 % den Unterricht im Freien, im Lager. Die Lager dauerten von einigen Tagen bis zu zwei Wochen, aber fast immer wurde in ihren Progammen Nachdruck auf die Gemeinschaft, auf das Erleben der Gemeinschaft gelegt.

2.1 Johannes war in der Mitte des Konfirmandenunterrichtslagers ein wenig müde geworden. Das Abendprogramm versprach wieder etwas Ungewöhnliches. Der Pfarrer hatte ihn gebeten, Handtuch und Trainingsschuhe mitzunehmen. Als er an die Reihe kam, wurden ihm außerhalb des Abendklubs die Augen mit dem Handtuch verbunden, und danach wurde er hereingeführt. Ihm wurde gesagt, daß sein Gleichgewicht jetzt getestet würde. Er sollte auf einen breiten Holzstock geführt werden, der danach in die Luft gehoben würde. Er sollte sich auf andere Lagerteilnehmer stützen, die neben ihm stünden. Das ist nicht schwierig, dachte Johannes und ging munter neben seinem Begleiter. Aber der Holzstock war nicht so dick und breit. Er konnte seinen Fuß auf den Stock stellen, aber nicht beide nebeneinander. Nun wurde der Stock angehoben. Johannes hielt sich mit an den Händen seiner Kameraden und dann an ihren Köpfen fest. Er hatte an beiden Händen einen Menschen. Der Holzstock schwankte. Nun wurde er
gehoben. Die Köpfe seiner Mitschüler versanken immer mehr. Ach, es fiel einem nicht leicht, stehen zu bleiben, als man nichts sehen konnte. Er hielt nur noch an den Haaren seiner Kameraden fest. Die Köpfe waren schon ganz unten. Aber sein Griff war fest. Andere Menschen waren jetzt äußerst wichtig. Der Holzstock aber schwankte.

Nun bat der Pfarrer Johannes, zur rechten Seite des Holzstockes zu springen. Es kam ihm tollkühn vor, aus solcher Höhe und mit verbundenen Augen zu springen. Johannes hielt sich immer noch an den Haaren der anderen fest und versuchte, sich vorsichtig in eine Querstellung auf dem Holz zu bringen. Er duckte sich etwas und hatte etwas Angst, weil er nichts sehen konnte. Und dann sprang er herunter, ins Leere...

Plötzlich stieß er gegen Fußboden. Johannes riß den Band ab und bemerkte, daß das Holz die ganze Zeit nur ein wenig höher gewesen war als der Fußboden. Nur die Mitspieler hatten sich immer niedriger gebückt. Die ganze Gruppe lachte und Johannes mit ihr. Ach, was für ein Erlebnis, aber lustig.

2.2 Johannes bemerkte, daß die anderen Menschen wichtig sind. Mit ihnen kann man sogar mit verbundenen Augen gehen. Aber man kann sich nicht immer auf andere Menschen verlassen. Sie können auch hinterhältig sein, ihr eigenes Interesse oder ihren eigenen Ruhm suchen. Für Johannes geschah dies alles halb im Scherz. Aber zuweilen begegnet man auch den reellen Grenzen des Lebens, da fragt sich einer, worauf er sich verlassen kann.

4. Margareta wollte wissen, wo ihre Grenzen liegen. Sie hatte schon Stromschnellenfahrt, Bergsteigen und Marathonskilaufen geübt. Nun wollte sie auch den Bungee-Sprung probieren. In der Stadt war am Meeresstrand eine Sprungmöglichkeit für alle Tollkühnen veranstaltet. Ein hoher Kran auf einem Lastwagen ragte weit über Wohnhäuser und die Kirchen heraus. An dessen Spitze wurde ein Korb gehoben, aus dem alle Interessenten springen durften, nachdem sie zuerst eine hübsche Menge Geld bezahlt hatten.

Margareta war Studentin und hatte nicht viel Geld. Aber als die Möglichkeit sich ergab, etwas ganz Neues zu erleben, war sie sofort bereit. Dafür war das Geld immer irgendwo aufzutreiben. Zwei Wochen fasten, und schon hatte man das Geld. Eifrig stieg Margareta in den Korb ein, und sie wurde hochgehoben.

Margareta war im Korb nicht allein. Der Mitarbeiter erklärte ihr die Spielregeln und befestigte die Bänder an ihren Fußgelenken. Er erklärte, daß man aus dem Korb nur quer abwärts springen dürfe. Sonst bestünde Verletzungsgefahr. Er fragte auch nach, ob sie alle schweren Sachen aus ihren Taschen herausgeholt habe. Margareta hörte mechanisch zu und nickte gehorsam mit dem Kopf. Oberflächlich war sie ganz ruhig. Kann ich mich auf die Bänder verlassen? Kann ich mich den Versicherungen des Mitarbeiters zufriedenstellen? So dachte sie. Und die Vernunft wiederholte: Dies haben Tausende vor dir gemacht, dir passiert nichts. Aber das Meer wogte sehr weit unten,und die Bänder waren ziemlich dünn. Auch die Kirchen sahen so klein aus. Und da oben wehte der Wind. Obgleich der Mitarbeiter das wiederholte, was Margareta schon wußte, beruhigte sie sich nicht. Der Wind schaukelte den Kran immer heftiger.

Als der Mitarbeiter in über hundert Metern Höhe das Startzeichen gab, zögerte Margareta ein Weilchen. Gleichzeitig seufzte sie ein kleines Gebet an Gott. Die Worte drangen einfach durch ihre Lippen. Und dann der Sprung herunter. Das Meer wartete auf sie, wogte und wartete. Dessen Schoß kam näher und näher, als ob es sie in seine Arme nehmen wollte. Der Wind brauste in ihren Ohren und ihr Haar baumelte. Das Meer kam näher, schrecklich näher und näher.

Und jetzt, jetzt spannten sich die Bänder. Sie funktionierten. Das Blut stieg ihr in den Kopf. Der Wind heulte in ihren Ohren. Die Bänder drückten schmerzhaft ihre Fußgelenke. Margareta dachte: Halten sie? Ich weiß, sie halten, aber wenn sie trotzdem gerade jetzt brechen? Wird mein Sprung langsamer, bevor ich ins Meer herunterfalle? Sie sah schon die Fische an der Meeresoberfläche, die auf einen Gast warteten. Aber dann hielt die Bewegung inne und gleichzeitig begann der Sprung hoch. Es war ein wirklicher Ruck, und dann ging es wieder abwärts. Das Pendel machte noch viele Schwingungen, unendlich lange, aber nicht mehr so fürchterlich.

Margareta wurde heruntergelassen. Der Mitarbeiter empfing sie und gab ihr ein Handtuch für das Abtrocknen des Schweißes. Sie hielten! Ach, die Bänder hielten. Der Mitarbeiter war im recht. Es lohne, sich auf seine Versicherungen zu verlassen. Aber es kam ihr wirklich tollkühn vor, obgleich das Gefühl schon zu weichen begann. Nur die Stärke des Erlebnisses war noch im Sinne vorhanden.

Eigentlich wunderte sich Margareta nur über eine Sache. Sie hatte gebetet. Sie wußte nicht, wie es ihr eingefallen war, aber so war es geschehen. Und es mutete sie gut an. Sie konnte nicht ganz auf den Mitarbeiter vertrauen. Die Beruhigung auf der Ebene des Bewwußtseins befriedigte sie nicht. Ein andersartiges Vertrauen ergab sich aus dem Gebet. Und es beruhigte. Dieses Erlebnis, nicht der Bungee-Sprung, sondern das Erlebnis des Betens, blieb erstrangig. Die Kraft zum Leben ergab sich aus dem Bewußtsein, daß man zu Gott, zu Jesus beten kann. Als sie erkannte, daß man Jesus vertrauen konnte, daß man darauf vertrauen konnte, daß Jesus das menschliche Leben hört und versteht, war es leicht zu springen. Es verwunderte Margareta und sie freute sich darüber.
4. Den Lebensinhalt kann man nicht mit Geld erwerben. Glück und Gemeinschaftlichkeit sind nicht durch Geld zu erreichen. Mit Geld kann man Sachen, Produkte, auch Erlebnisse bekommen, vielleicht sogar Freunde. Aber auch die Freunde können irrelführen, so wie im Fall von Johannes.
Das Vertrauen ist die Grundbedingung des gemeinsamen Lebens. Margareta erlebte dies tief. Gleichzeitig bemerkte sie, daß es vor einer erlebnisreichen Erfahrung gut ist, daß man sich auf Jesus verlassen kann; auf ihn kann man wirklich vertrauen. Jesus war Gott, aber er war selbst auch Mensch. Er weiß, wie es dem Menschen geht, und weil er Gottes Sohn ist, kann er auch helfen. Dies gibt dem Leben die Grundlage. Daraus bekommt man Lebensbrot.

Der heutige Text lautet:

Johannes 6, 35
Jesus aber sprach zu ihnen: Ich bin das Brot des Lebens. Wer zu mir kommt, den wird nicht hungern; und wer an mich glaubt, den wird nimmermehr dürsten.



Homiletische Bemerkungen

Exegetische Analyse

Dieser Text ist ein Teil eines größeren Ganzen. Darin analysiert der Evangelist die Gottheit von Jesus durch die Beschreibung als das Brot des Lebens. Der Text umfaßt keine exegetisch widersprüchlichen Elemente. Die Ganzheit ist deutlich. Der Text erhellt sein Hauptthema.


Homiletische Analyse

Die Frage nach dem Inhalt des Lebens ist immer aktuell, besonders im kapitalistischen Bezugszusammenhang. Die bildlichen Ausdrücke im Text sind nicht alltäglich in der städtischen Umgebung. Es lohnt sich, die Predigt auf den Gedanken des Textes aufzubauen, nicht auf seinen Ausdrücken.

Der Grundgedanke besteht darin, daß man im Leben das Wissen über Jesus, Glauben an ihn und Vertrauen auf ihn braucht. Es beseitigt im Menschen die Bedrängnis zu suchen und gibt ihm den Lebensinhalt. In der Predigt lohnt es sich, zuerst zu problematisieren, was das Wichtigste im Leben ist. Danach kann man den Glauben als Lebensinhalt und das Vertrauen als Hauptcharakter des Glaubens hervorheben. Der sich aus dem vertrauensvollen Glauben ergebende, alltägliche Lebensinhalt bildet die Botschaft: Erst der, der im Vertrauen lebt, kann ein sicheres Leben führen.

Die Predigt wurde durch drei Geschichten erfaßt, weil ich darauf vertraue, daß den Geschichten zugehört wird. Sie reißen mit sich. Eine gute Predigt ist eine gute Geschichte, von der aus man sich den Hauptinhalt der Predigt einprägen kann, und dies geschieht sogar ohne Erläuterung des Inhaltes. Der einsichtige Zuhörer versteht den Text, und der einsichtige Prediger schreibt so, daß der Zuhörer seine Predigt versteht. Der heutige Text gründet sich nicht auf eine Geschichte, weil ich sie nicht finden konnte. Zuerst reduzierte ich den Text auf eine dreigliedrige Struktur, und dann brachte ich die Geschichten in diese Teile ein, um die Idee des Textes zu beleuchten. Die Ganzheit setzte kleine Zwischenpassagen voraus, die aus der Numerierung zu lesen sind. Ob das Resultat gelungen ist, soll der Leser entscheiden.

Ich habe mir selbst Gedanken gemacht, ob sich diese Predigt besser zum Lesen oder zum Sprechen eignet. Ich hoffe, daß sie in beiden Rollen funktioniert.

Ich nehme gern Kommentare über die Predigt und Predigttechnik entgegen. Paßt die Predigt für einsichtsreiche Leser?
Meine Adresse ist:
esko.ryokas@helsinki.fi.

Esko Ryökäs
Docent, Assistent
University of Helsinki



[Zurück zur Hauptseite] [Zum Archiv] [Zur Konzeption]