Göttinger Predigten im Internet, hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch


6. Sonntag nach Trinitatis
11. Juli 1999
Predigttext: 5. Mose 7, 6-12
Verfasser: Karl W. Rennstich

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Liebe Gemeinde!

Die Gnade der Erwählung und das Schicksal der Erwählten

Denn du bist ein Volk, das dem Herrn deinem Gott, heilig ist. Dich hat der Herr, dein Gott ausgewählt, damit du unter den Völkern, die auf der Erde leben, das Volk wirst, das ihm persönlich gehört (V 7)

Die Auffassung von Volk und Volkstum in der Bibel ist sehr unterschiedlich. Im Alten Testament wird das Schicksal der Völker in einer sinnbildlichen Darstellung in der Erzählung vom Turmbau zu Babel (Gen 11) gedeutet. Denkmal, Namen und Ruhm sind Symbolworte dafür, daß man "nicht zerstreut werde". Der Erzähler der Geschichte vom Turmbau zu Babel will die Lehre verkünden, daß Gott allein der Herr der Geschichte ist.

Gott verwirrte die Sprache. Die Folge war das Ende des Turmbaus, der bis in den Himmel reicht und die Zerstreuung über die Erde. Gott trennt, was ohne ihn geschaffen wird und sich schon dadurch gegen ihn richtet. Damit ist aber noch nicht erklärt, was eigentlich Volk bedeutet. Vielmehr liegt die geschichtliche Wirklichkeit des Geschichtsbild etwa des 7. vorchristlichen Jahrhunderts hier zugrunde.

Daraus wird deutlich, daß es so etwas wie eine allgemeine Völkerverwandtschaft gibt: "Er hat gemacht, daß von Einem aller Menschen Geschlechter stammen, die auf dem ganzen Erdboden wohnen" (Apg 17,26). Die Strafe für den Turmbau ist die Sprachverwirrung, infolge deren die Völker sich bis heute nicht mehr verstehen. Der eine sagt etwas und der andere mißversteht ihn, auch wenn er dasselbe Wort benutzt. In 5 Mose 32,8, dem "Lied Mose" heißt es: "Als der Höchste den Völkern ihr Erbe verlieh, als er die Menschenkinder sonderte, da bestimmte er die Grenzen der Völker nach der Zahl der Gottessöhne".

Nach biblischer Überzeugung liegt das Heil niemals im "Volkstum". Die Propheten verkündigen einen Universalismus. Jesus bringt diesen zur Vollendung und zur Erfüllung. Er setzt sich dabei im Gegensatz zur nationalen Entwicklung in Israel, das sich als das erwählte Gottesvolk gegenüber allen anderen Völkern verstand und daraus einen Absolutheitsanspruch geltend machen wollte. Die in der Berufung Abrahams anhebende Heilsgeschichte findet in dem neuen Gottesvolk ihre Erfüllung. So wird der natürlich Volksbegriff vom religiösen Volksbegriff unterschieden. Das neue Volk Gottes gründet nicht in Blut und Boden, vielmehr in Gott, der in der Geschichte handelt.

Juden und Griechen, Männer und Frauen sind eins in Christus. Gottes Heilsplan wird durch Jesus Christus an dem neuen "Gottesvolk" vollendet. Die Ekklesia ist die aus den Völkern herausgerufene, neue Gemeinschaft. Christen nennen sich nach Jesus Christus. Sie unterscheiden sich von anderen dadurch, daß sie den gekreuzigten und auferstandenen Jesus als ihren Herrn anerkennen und nach seinen Weisungen leben. Christianoi (Christen) wurden sie in Antiochien genannt, weil den gekreuzigten und auferstandenen Jesus als Messias verkündigten und weil sie einander so lieb hatten.

Dieses neue Gottesvolk findet seine Darstellung in der Mahlgemeinschaft mit dem Menschensohn, der über die Grenzen des alten Gottesvolkes hinaus an die Völkerwelt weist. Der neue Bund umfaßt alle, die Menschenantlitz tragen. Jesu Botschaft gilt allen Menschen.

Paulus, der Sohn jüdischer Eltern mit römischem Bürgerrecht und Namen, sowie griechischer Bildung und Sprache, aktualisierte Jesu Lehre im Hinblick auf die Völker- und Sprachenwelt seiner Zeit in einer Weise, die ihn weit über die Rabbiner hinaus erhob. Jesus sei - so betont er in seinen zwischen 49 und 63 n. Chr. verfaßten Briefen - zu den Heidenvölkern und Griechen ebenso gesandt wie zu den Juden. Alle Sprachen und Völker sollen sich vereinigen zum Lobe Gottes, so wie es in der Apokalypse des Johannes zum Ausdruck gebracht wird (Apk 7,9 u. 14,6). Dann werden die Unterschiede der Sprachen und Völker endgültig überwunden sein. So, wie die Kirche Jesu Christi, in einer globalen Welt des römischen Imperiums entstand, so hat sie auch heute wieder in einer globalen Welt am Ende des 20. Jahrhunderts, eine neue Bedeutung erhalten.

Der Gedanke der natürlichen Gleichheit aller Menschen führte bei den Griechen zum Gedanken des Weltbürgertums, der eine so große Rolle in der Geschichte der abendländischen Menschheit spielen sollte. Später wird die Heilsgeschichte Gottes mit den Menschen säkularisiert zur Menschheitsgeschichte, die mit der israelitisch-jüdischen Geschichte beginnt. Der jüdische Weltherrschaftstraum hatte sich mit dem griechischen Menschheitsgedanken vermählt und im römischen Imperialismus seine Gestalt gefunden.

Die Geschichte der Erwählung der Juden entspricht in ganz tragischer Weise ihrer Verfolgung und Ausgrenzung. Papst Paul IV. (1555-1559) formulierte unter Rückgriff auf die kirchliche Tradition im Jahre des Augsburger Religionsfriedens 1555 die nachfolgende Bestimmung: "Da es völlig und absurd und unzulässig erscheint, daß sie von Gott um ihrer Schuld willen zu ewiger Sklaverei verdammten Juden sich unserer christlichen Liebe und Duldsamkeit erfreuen, um uns unserer Gnade in schnöder Undankbarkeit mit Beleidigung zu vergelten und statt sich demütig zu beugen, sich an die Macht hereindrängen, angesichts dessen ferner, daß diese uns zur Kenntnis gebrachten Freiheiten ... soweit gehen, daß sich die Juden mitten unter den Christen und sogar in unmittelbarer Nähe der Kirchen ohne jegliches Abzeichen zu zeigen wagen, sich in den vornehmsten Straßen und Plätzen der Stadt, Gebiete und Orte, in denen sie weilen, einzumieten wagen und Immobilien erwerben und besitzen und Ammen und andere christliche Mägde in ihren Haushalt einstellen und noch auf verschiedene andere Weise den christlichen Namen schmähen und zu verachten wagen, sehen wir uns genötigt (...) die folgenden Anordnungen zu treffen, damit sie von der Frömmigkeit und Milde des apostolischen Stuhles angelockt, ihre Irrtümmer dennoch erkennen und sich bemühen, zu dem wahren Licht des katholischen Glaubens zu gelangen". (Willebald Paul Eckert, Hoch- und Spätmittelalter, Katholischer Humanismus, in: Karl Heinrich Rengsdorf / Siegfried Korzfleisch (Hrsg) Kirche und Synagoge, Handbuch zur Geschichte von Christen und Juden 1, Klett und Kotta Verlag Stuttgart 1968, S. 287 f.)

Weil die Menschen mit der Hexenjagd aufhörten, hätten sie die Wissenschaft erfunden, meint René Girard in seiner Beschreibung der modernen Zeit. Das moderne Abendland vergesse die Offenbarung und interessiere sich nur noch für die Nebenprodukte. Es habe daraus Waffen und Machtinstrumente geschmiedet, und heute kehre sich der Vorgang gegen es selbst. "Es verstand sich als Befreier und findet sich als Verfolger wieder. Die Söhne verfluchen ihre Väter und werden zu ihren Richtern. In allen klassischen Formen des Rationalismus und der Wissenschaft entdecken zeitgenössische Forscher Überreste von Magie. Unsere Vorgänger sind keineswegs mit einem Schlag aus dem Kreislauf von Gewalt und Heiligem ausgebrochen, wie sie es sich vorstellten, sondern sie haben abgeschwächte Varianten von Mythen und Ritualen wiederhergestellt". (René Girard, Der Sündenbock, Zürich 1988, S. 290.)

Bereits 1835 beschrieb Heinrich Heine »Die Dialektik des Guten« am Ende seiner Abhandlung »Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland« daß eines Tages neue Kräfte aufbrechen würden, die pietätlos mit Schwert und Beil, den Boden unseres europäischen Lebens durchwühlen würden mit dem Ziel, die letzten Wurzeln der Tradition auszurotten...

Das Christentum habe zwar verdienstvollerweise die brutale germanische Kampfeslust zu besänftigen vermocht, doch ganz zu zerstören wäre ihm nicht gelungen und wenn der »zähmende Talisman, das Kreuz, zerbreche, dann rassele wieder empor die Wildheit der alten Kämpfer, die unsinnige Berserkerwut, wovon die nordischen Dichter soviel singen und sagen würden. Es würde dann krachen, wie es niemals zuvor in der Weltgeschichte gekracht habe, weil der deutsche Donner endlich sein Ziel erreicht habe.

Das Heil sollte nun von den Deutschen kommen. Diese deutsche Revolution beschrieb dann Heinrich Himmler mit den beschwörenden Worten:

»Von Euch werden die meisten wissen, was es heißt, wenn hundert Leichen beisammenliegen, wenn fünfhundert daliegen oder wenn tausend daliegen. Dies durchgehalten zu haben und dabei- abgesehen von Ausnahmen menschlicher Schwäche - anständig geblieben zu sein, das hat uns hart gemacht. Dies ist ein niemals geschriebenes und niemals zu schreibendes Ruhmesblatt unserer Geschichte.«

Diese Geschichte ist noch nicht zu Ende wie wir gegenwärtig in vielen Teilen der Welt erleben. Der Neue Mensch kann auch zum großen Fluch werden. Die Geschichte der Religionen ist auch die Geschichte der Suche nach dem Neuen Menschen.

Wie wächst ein Mensch ins Gute hinein?

"Nicht weil ihr zahlreicher als die anderen Völker wäret, hat euch der Herr ins Herz geschlossen und ausgewählt; ihr seid das kleinste unter allen Völkern . Weil der Herr euch liebt und weil er auf den Schwur achtet, den er euren Vätern geleistet hat, deshalb hat der Herr euch mit starker Hand herausgeführt und euch aus dem Sklavenhaus freigekauft, aus der Hand des Pharao, des Königs von Ägypten" ( V 7-8).

Wie kann ein Mensch lernen, Gutes und Böses zu unterscheiden? Neuere Forschungen haben gezeigt, daß das nicht geschieht durch Strafe und durch Androhung von Strafe. Wenn von Gottes Zorn und Strafe die Rede ist, muß deutlich sein, daß diese nicht seiner Liebe widerspricht, daß Gottes Wille nicht zweierlei sein kann, einerseits ein liebender und barmherziger und seiner Barmherzigkeit treuer Wille, und andererseits zugleich der Wille, zu vergelten, zu hassen und zu töten. Was wird damit gewonnen, daß die Aufforderung - Gottes Gebot zu halten - ausgerechnet nach der Schilderung dessen erfolgt, was mit denen geschieht, die seine Gebote mißachten. Sollen wir etwa seine Gebote halten, weil uns sonst tödliche Strafe droht, das wäre falsch. Haltet die Gebote Gottes hat einen anderen Sinn. Der Grund ist: Wir sollen Gottes Gebote halten, weil er uns Gutes getan hat, weil er uns aus der Not geführt, weil er unser Leben gerettet hat, weil er, sich und uns selber, treu geblieben ist in seiner Barmherzigkeit, die ihn mit jedem von uns verbindet, was der Text nicht ausdrücklich sagt, aber doch intendiert ist eben dieses: Gerade darin, in diesem rettenden, erlösenden Handeln, gibt Gott sich und seinen Willen zu erkennen. Diesem lebensrettenden und erhaltenden Willen entspricht das Gebot: Haltet die Gebote, tut das Gute, weil du Gutes erfahren hast. Das ist der Sinn der Aussage.

Liebe ist so wie das Wasser, das weiß wäscht, die Welle, die die andere Welle in die Hand nimmt. So wie im Weinberg die Traube schwillt und schließlich springt und zu Boden fällt. Die Liebe kann wie ein Stein, den anderen Stein erweichen. Liebe ist wie ein durch jedes Feuer gehender Salamander, den kein Schauer jagt und nichts schmerzt.

Den Prozeß des Wachsens faßt das Hohe Lied der Liebe (1 Kor 13,9 - 13) so zusammen:

"Denn unser Wissen ist Stückwerk und unser Weissagen ist Stückwerk. Wenn aber kommen wir das Vollkommene so wird das Stückwerk aufhören. Da ich ein Kind war, da redete ich wie ein Kind und hatte kindliche Anschläge: da ich aber ein Mann ward, tat ich ab, was kindlich war. Wir sehen jetzt durch einen Spiegel in einem dunklen Wort; dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich stückweise; dann aber werd ich erkennen, gleichwie ich erkannt bin. Nun aber bleibt Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die größte unter ihnen".

Das Gute kann man deshalb tun, weil man Gutes erfahren hat. Dem Guten kann man umsomehr vertrauen, weil es sich als verläßlich erwiesen hat und sich auch im engen Verfehlen in sein Gegenteil verkehrt hat.

Amen .

Dogmatische und homiletische Entscheidung:

Unser Text bietet eine Fülle anregender Stichworte, die gleichsam summarisch und kenntnishaft wesentliche Glaubensinhalte zusammenfassen: "Du bist ein heiliges Volk" (V 6). Einfach und schlicht wird behauptet und zugesagt: Das Attribut "Heiligkeit" ist kein vom Menschen verdientes oder gar verdienstliches, sondern alleiniges Geschenk und Zusage Gottes. Nur so ist es erklärbar, daß beispielsweise wider allen menschlichen Augenschein, Gott erwählt, was eigentlich überhaupt gar keine "Erwählung" verdient hat. Das Volk Israel wurde nicht erwählt, "weil ihr größer wäret" (V 7).

Wir schauen im Leben fast immer nur auf das, was uns "groß" daherkommt. Das Kleine fällt nur schwer "ins Auge". Was "vor Augen liegt" ist wenig beeindruk-kend. Gott aber schaut genau dahin, wo wir als Menschen achtlos vorübergehen.

Aus seiner Liebe heraus bestimmt Gott seine Verheißung. Selbstgefällige Erwählungsprotzerei wird als Lüge bestraft. Daraus resuliert: "So haltet nun die Gebote, Gesetze und Rechte (V 11).

Wer in der Liebe Gottes ist, der strebt in allem seinem Denken und Trachten nach dieser Liebe. So konkret wie Gott an seinem auserwählten Volk gehandelt hat, so konkret handelt er auch an uns, heute und jeden neuen Tag, den er uns aus Liebe schenkt. Das ist der Inhalt der biblischen Botschaft. Das Geheimnis der Liebe ist unerklärbar.

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Pastoralkolleg Urach
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