Göttinger Predigten im Internet, hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch


5. Sonntag nach Trinitatis
4. Juli 1999
Predigttext: Johannes 1, 35-42
Verfasserin: Doris Gräb

Exegetische, systematische und homiletische Vorentscheidungen, hier klicken!

Liebe Gemeinde!

Von einer zunächst beiläufigen Begegnung zwischen Jesus und den Johannes-Jüngern wird uns da berichtet. Scheinbar Gleichgültiges wird uns erzählt. Und mitten in dieser Erzählung dann diese beiden zunächst fast belanglos wirkenden Sätze:

Wen sucht ihr? – Kommt und seht!

Gewiß, dem Evangelisten Johannes ging es damals in der Aufnahme dieser eher beiläufig geschilderten Begegnung um die erste Jüngerberufung: Andreas und Simon Petrus, sie gelten als die ersten in der Nachfolge Jesu.
Doch, wie es eben manchmal ist: das Wesentliche steht auch hier zwischen den Zeilen.

Oder, anders gesagt: diese beiden so allgemein klingenden Sätze können gerade in ihrer Allgemeinheit so auch mir, auch uns heute morgen gelten.
Unmittelbar zu verstehen, zumindest im Rahmen eines Gottesdienstes:
Wen sucht ihr?
Weswegen seid ihr hier, ihr Gesunden und ihr Kranken? Ihr Mühseligen und Beladenen, ihr Glücklichen und Dankbaren?

Wen sucht ihr? – Kommt – und seht!
Wie gesagt, im Rahmen eines Gottesdienstes ist uns die Antwort ja schon fast in den Mund gelegt.
Denn: Gott suchen wir. Nach Ihm fragen wir, dem Grund unseres Seines. Dem Sinn unseres Lebens. Dem Ziel, dem wir entgegengehen.
Deswegen sind wir hier, um uns Seiner Nähe zu vergewissern. Um uns unserer selbst zu vergewissern. – Um unser unruhiges Herz in Ihm Ruhe finden zu lassen.

Wen sucht ihr? – Die ersten Antworten von uns Gott-Suchern hier im Gottesdienst mögen so aussehen.
Aber: wie wäre es denn, wenn wir hinausgehen würden? Hinaus aus den schützenden Kirchenmauern auf die Straßen unserer Stadt?
Wen sucht ihr? – Eilige Passanten auf der Fußgängerzone am Samstagvormittag so gefragt:
Ich glaube, vielfältig wären die Antworten, so unterschiedlich wie die Gesichter.
Ob dort, auf den Straßen unserer Stadt, allerdings auch Gott-Sucher dabei wären?
Ich wage es nicht zu sagen, ob sie draußen auf der Straße so in die Tiefe denken würden.
Andererseits höre ich, daß beispielsweise in psychiatrischen und psychotherapeutischen Gesprächen vermehrt solche Fragen gestellt werden.
Was ist es mit mir und mit meinem Leben?
Was ist es mit Gott, dem scheinbar allmächtigen und alles verursachenden Gott?
Was ist es mit dieser Welt und den Menschen mit ihrem selbstüberzogenen Autonomiestreben?

Beides also beobachten wir gerade außerhalb unserer schützenden Kirchenmauern: daß diejenigen, die Gott suchen, zahlreicher werden. Und leider meistens nicht mehr in unseren Kirchen nach Ihm suchen. – Daß es, umgekehrt, aber auch immer mehr Zeitgenossen gibt, die Gott vergessen haben. Die auf unsere Frage: wen sucht ihr? – alle möglichen, nur nicht diese eine Antwort geben würden. Denn:

"Sie haben bei uns vielfach schon vergessen, daß sie Gott vergessen haben" – sagte vor kurzem der Bischof der Kirche von Sachsen-Anhalt.

Aber was nun?
Wie gerne würde ich trotzdem den Gott-Vergessenen hinterherlaufen. Weniger, um sie mit meiner Frage zu behelligen, als vielmehr, um sie einzuladen:
Kommt und seht!
Kommt, ihr, drinnen oder draußen, ihr, drinnen in der Kirche oder in den Krankenzimmern! Kommt, ihr da draußen, die ihr offenbar ganz andere Probleme und Verpflichtungen habt, kommt und schaut mit mir hin, wo Gott ist.
Wie Gott in eurem Leben da ist, schon ehe ihr mit der Suche begonnen habt.
Denn: dieses möchte ich manchem Gott-Sucher, ob drinnen oder draußen, doch zuallererst sagen:
Gott ist keine Welterklärung. Gott läßt sich nicht einsetzen als Ursache von diesem oder jenem Ereignis.
Weder dein Glück noch dein Unglück hat er verursacht. Er ist auch nicht für deine Krankheit verantwortlich. Gott ist keine objektiv feststellbare Größe, die wir – mit entsprechender Anstrengung – suchen und auch finden könnten.

Kommt – und seht vielmehr, wie Gott in eurem Leben da ist. Schon immer. Es kommt nur darauf an, wie ihr versteht, was euch in eurem Leben widerfahren ist. Wie ihr eure Erfahrungen von Leid und Freude deutet – von Gott her seht und bedenkt.
Kommt, und seht eure Lebenserfahrungen auf Gott hin durch.
Was ist da nicht alles, was das Leben schwer – aber auch reich gemacht hat.
Nur Müh´ und Arbeit war dein Leben?
Nur geschuftet habe ich, an andere gedacht, für andere gelebt. Und jetzt, wo ich´s besser haben könnte, jetzt auf einmal diese Krankheit. Wie aus heiterem Himmel. – Solche Lebensbilanzen höre ich manchmal.
Ich kann sie, ehrlich gesagt, kaum ertragen. Und frage deswegen auch noch einmal nach – oder lade vielmehr ein:
Komm und sieh!
Sieh doch noch einmal genau hin: Was hat dich froh gemacht, auch in deinem scheinbar so mühseligen und beladenen Leben?
Wo gab es Höhepunkte? – Wann waren die Feste, an denen du glücklich warst? An denen du beschenkt wurdest? Mit Liebe zuallererst– und noch vielen anderen Dingen mehr?
Wann hast du dich erhoben gefühlt, und, wenn auch nur für einen Augenblick, gespürt: Mein Leben ist schön. Trotz allem. Es ist gut, wie es ist. Wie alles geworden ist.?

Komm – und sieh, ob Du dahinter nicht sogar noch mehr sehen kannst.
Dieses nämlich: daß ich bin, das verdanke ich nicht mir selbst. Daß ich leben darf, solches erleben darf, das ist Gnade.
Komm – und sieh so die Spuren Gottes in deinem Leben!
Aber auch umgekehrt: hat sich im Laufe deines Lebens nicht auch das Schwere zu verwandeln begonnen?
Komm – und sieh, ob du nicht, wie Hiob, nach allem Hadern und Klagen und allem Aufbegehren schließlich doch irgendwann sagen konntest: "Ich hatte von dir nur vom Hörensagen vernommen; aber nun hat mein Auge dich gesehen."

Also: nun sehe ich tiefer; sehe mehr, sehe auch in den schweren Erfahrungen Gottes Spuren in meinem Leben.
Erfahrungen, wie Gott in unserem Leben da ist.
Nicht objektiv von jedem wahrnehmbar.
Viel mehr Sache jedes Einzelnen, jeder Einzelnen, angesichts dieser oder jener Lebenserfahrung zu sagen:
Das ist mir geschenkt – ist mir geschickt worden. Das will ich annehmen als Gottes Willen.

Oder, sogar noch mehr, zu sagen, zu singen:
"Bis hierher hat mich Gott gebracht in seiner großen Güte. Bis hierher hat er Tag und Nacht bewahrt Herz und Gemüte. Bis hierher hat er mich geleit´, bis hierher hat er mich erfreut, bis hierher mir geholfen."

Ob ich so jene eher beiläufige Erzählung von der ersten Jüngerberufung auslegen darf? – Ob ich so jene scheinbar gleichgültigen Fragen auf uns beziehen – und mit existentiellem Gewicht versehen kann?
Wen sucht Ihr? Kommt – und seht!
Sucht nicht irgendwo außerhalb eurer selbst. In fernen Ländern oder exotischen Gefilden.
Wenn du nach Gott fragen willst, mußt du bei dir selbst suchen. Mußt in den Brunnengrund deiner Seele springen und von dort her dein Leben zu verstehen suchen.

Andreas und sein Bruder, Simon Petrus, sie werden in der Geschichte des Evangelisten nach diesem Gespräch zu Jesus-Jüngern; und sie folgen ihm fortan nach.
Viel leiser ist heute mein Ruf in die Nachfolge:
Kommt und seht, was euch bisher durchs Leben getragen hat!
Kommt und seht die Liebe, von der ihr bis zu diesem Tag gelebt habt.
Kommt und seht die Hoffnung, die euch auch durch schwere Erfahrungen hindurch geholfen hat.
Kommt und seht die Freundlichkeiten, die euch widerfahren sind, ohne daß ihr sie verdient hättet.
Darin findet ihr, wie Andreas und Simon Petrus, den Messias. Gott, der die Liebe ist.
In Christus Jesus. Gott sei Dank. Amen

Exegetische, systematische und homiletische Vorentscheidungen::

"Scheinbar Gleichgültiges wird erzählt; das Wesentliche verbirgt sich dahinter" – so urteilt R.Bultmann in seinem Kommentar zum Johannesevangelium über Joh 1, 38ff (R.Bultmann, das Evangelium des Johannes, 20.Auflage, Göttingen 1978, S.69ff).

Und das Wesentliche daran, das ist eben dies: die beiden Johannes-Jünger Andreas und Simon sind von jetzt an die ersten Jesus-Jünger.

Das steht hinter den beiläufigen Fragen nach der Wohnung Jesu und dem Wunsch, bei ihm bleiben zu können.

Mich allerdings fesseln geradc diese beiden so allgemein gehaltenen Sätze:

Wen sucht ihr? – Kommt und seht!

Ich will sie in meiner Predigt mit ganzem existentiellen Gewicht versehen. Ich will sie als Frage an mich und meine Predigthörer verstehen: Wen sucht ihr? Kommt und seht!

Die Suche nach Gott als dem vermeintlichen Verursacher des Leids - oder dem ersehnten Helfer in der Not – steht in allen Gesprächen am Krankenbett im Raum, ob ausgesprochen oder nicht.

Wichtig für meine Predigt ist mir im Rahmen dieser Frage dann die grundlegende theologische Entscheidung, Gott nicht als objektive supranaturale Größe außerhalb unserer selbst behaupten zu wollen, sondern als Grund unseres Seins, der schon da ist und zu dem wir uns jeweils ins Verhältnis setzen können.

Von unschätzbarem Wert war mir in dieser wie auch in vielen anderen Predigtvorbereitungen das Buch "Mit Gott leben" von Traugott Koch (Tübingen 1989).

Doris Gräb,
Pastorin im Klinikum Göttingen
Raseweg 2, 37124 Rosdorf
Tel.0551/781372


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