Göttinger Predigten im Internet, hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch


3. Sonntag nach Trinitatis
20. Juni 1999
Predigttext: Lukas 15,1 –3.11b-32
Verfasserin: Vikarin Dörte Keske

Liebe Gemeinde,

I.

Ich vermute, daß fast jeder von Ihnen diese Geschichte nacherzählen könnte, selbst, wenn er gerade aus dem Schlaf geweckt worden ist.

Das ist wohl die bekannteste und uns vertrauteste Geschichte aus dem Neuen Testament. Und so scheint es manchmal leichter, sich einen sperrigen, unbekannten Text zu erobern, als sich einer so bekannten Geschichte zu widmen, bei der schon beim Vorlesen vermutlich alle wissen, worum es geht, und was ich wohl dazu sagen werde.

In der Kirchengeschichte ist es die Beispielerzählung für Bekehrung, für Buße und Umkehr zu Gott: Der reuige Sünder, der seine Schuld bekennt und zu Gott zurückkehrt, wird von ihm nicht abgewiesen, sondern mit Freude wieder aufgenommen. Die Geschichte war immer schon der Inbegriff für Gottes bedingungslose Gnade und Liebe zu den Menschen.

Manchen ist sie in Erinnerung, mit dem moralisch klingendem Kehrreim: Bleib zu Hause und nähre dich redlich. Eher banal und langweilig.

Aber auch viele andere Spuren ziehen sich durch die Literatur- und Kunstgeschichte. Auch daher ist sie uns vertraut Ich habe z.B. die beeindruckende Schwarz-Weiß-Radierung von Rembrandt vor Augen. Immer wieder hat dieses Thema die Menschen beschäftigt. Offenbar ist es der Ausdruck einer ganz tiefen Sehnsucht und der Frage nach liebender Annahme und Geborgenheit bei Gott, die sich in diesen Bildern verdichtet und eine Antwort bekommen hat. Vergebung und Annahme durch Gott gehören zu den Kernstücken unseres Glaubens. In jedem Vaterunser bitten wir darum.

Vertraut ist uns die Geschichte nicht zuletzt, aber da besonders, weil jeder sich aus seinem eigenem Erleben als Vater und Mutter und-oder als Tochter und Sohn darin wiederfindet und sich erinnert fühlt.

Und ich glaube, daß sie auch eine der schönsten Erzählungen der Bibel ist. Angefangen bei ihrem kunstvollen und geschlossenen Aufbau: Ein Familien-Drama in vier Akten und mit nur drei handelnden Personen. Nacherzählend könnte man die sich aufbauende, zuspitzende Dramatik und den großen Spannungsbogen darstellen, den diese Geschichte zeichnet. Beginnend mit einem ganz normalen und natürlichen Anfang, mitten aus dem Leben gegriffen. Der erwachsen werdende Sohn, der sich abnabelt und selbstständig werden will. Über die Erlebnisse und das Scheitern in der Fremde, bis hin zu dem Höhepunkt des beeindruckenden Freudenfestes bei seiner Rückkehr. Dieses Happy-End könnte das Ende sein, aber der Spannungsbogen wird noch einmal weitergeführt. Der ältere Sohn reagiert zunächst stinkesauer, verständlicherweise, aber wie er sich letztlich gegenüber seinem Bruder und Vater verhält, ob sie einen Weg zueinander und miteinander finden, erfahren wir nicht. Die Erzählung bleibt offen und spannend.

II.

Schauen wir uns die Geschichte genauer an.

- Es geht nicht um die eher alltägliche Handlungsabfolge von "verlieren – suchen – finden" eines Objektes, sondern um den keineswegs alltäglichen Ablauf von Entfremdung – Verlorenheit und Heimkehr eines Subjektes, eines Menschen: Das Ausprobieren und Austarrieren von Distanz und Nähe mit all seinen Folgen .

- Und was ist schwerer: Losgehen oder Loslassen?

Wie der Vater den Abgang des Sohnes trägt, wird nicht gesagt. Die scheinbare Gelassenheit in dem Wissen darum, daß er diese Entwicklung nicht aufhalten kann und daß weder ein Nachlaufen, noch ihn zu suchen, Sinn macht, ist uns zwar theoretisch allen bekannt, und doch überraschend. Diese innere Freiheit, die nicht ratend, behütend und den Weg am liebsten vorgebend den Sohn bedrängt und das Reizvolle an dem Ausprobieren eigener Wege nimmt, zeichnet den Vater aus.

Erst seine überschwengliche Freude am Ende läßt etwas von seiner zärtlichen Liebe und seinem Schmerz erahnen. Das rührt an. Diese Freude, wenn ein Kind zurückkehrt, und dann auch noch in dem Zustand, ist nicht typisch, sondern etwas ganz Besonderes und Einmaliges. Dieser Vater jedenfalls macht mir deutlich, das ein Zuhause, eine Heimat durch Liebe und Barmherzigkeit konstituiert wird, durch die Qualität der Beziehungen und nicht nur ein bestimmter Ort ist.

- Und der Sohn?

Er zieht ja nicht nur in die Fremde.

Für den jüdischen Hörer zu Jesu Zeit gab es kein drastischeres Bild für Demütigung und das Scheitern eines Menschen. In die Fremde zu gehen, hieß, in die Gottglosigkeit, in die Gottesferne zu gehen. Und die Schweine als unreine Tiere geltend bedeuteten: Noch tiefer kann man nicht mehr sinken, wenn man die Schweine nicht nur hüten muß, sondern vor Hunger auch noch nach deren Futter verlangt.

Am Ende jedenfalls befindet er sich an der Grenze des Todes.

Der entscheidende Punkt ist, daß er das selber merkt und sich nach dem Leben sehnt. Wir wissen, daß der tiefste Punkt im Leben immer auch Ort der Entscheidung ist. Entscheidung, die niemand anders abnehmen kann. Da ging er in sich, heißt es im Text. Und das ist das Eigentliche: D. h., er fand die innere Kraft zur Einsicht und zur Umkehr. Er fand, woran er anknüpfen konnte. In seiner Seele war es nicht leer, sondern voller Erinnerungen, Bilder und Sehsüchte von seinem zu Hause. Durch das unerfüllte Verlangen nach dem Schweinefutter war die Erinnerung an die "nährende" Kraft seines Vaterhauses hochgekommen: an das Brot für den Bauch und das Brot der Zuwendung und Liebe, der Achtung und Würde. Dieses "Erbteil" war noch nicht verpraßt. Anders ausgedrückt: In seiner kindlichen Prägung und Erziehung durch die Eltern ist offenbar ein Fundament gelegt worden, eine Grundlage des Vertrauens und der Annahme, woran er jetzt wieder anknüpfen kann. So folgt nicht die Depression, sondern der Entschluß, sich aufzumachen. Der Mut zu einer solchen Rückkehr ist wohl größer als der zum Aufbruch. Das setzt Urvertrauen voraus! So nackt und entblößt, wie er jetzt dasteht. Er hat sich geöffnet, in seinen Gefühlen, der Reue und Hoffnungen, und natürlich auch den Vorwürfen.

Ich möchte das nochmal betonen: Hier geht es nicht darum, moralisierend zu sagen: Wenn er nur will, kann der Mensch gut sein und richtig handeln. Wenn er das versäumt, ist er boshaft und für die Folgen selbst schuld, selbst verantwortlich. Es ist eben einfach damit getan, an der nächsten Weggabelung den richtigen Weg zu wählen. Ich kann meinen Weg zwar ändern und korrigieren, aber selbst erlösen kann ich mich nicht. Am tiefsten Punkt der Krise wird diese Ahnung deutlich. Es kann also nicht darum gehen, alles ungeschehen zu machen und die Zeit einfach nur zurückzudrehen, als ob Lebenswege sich wiederholende Kreise wären.

Am besten nachvollziehen und verstehen konnte ich das bei Erzählungen von Männern, die nach dem Kriegsende und oft noch nach langen Jahren der Kriegsgefangenschaft heimgekehrt sind, und wie schwer ihnen und auch den Zurückgebliebenen ihre Rückkehr, wir würden sagen "Re-Integration" fiel. Manchmal war das sogar überhaupt nicht mehr möglich.

Das Gleichnis läuft nicht wieder zum Ausgangspunkt zurück. Der Kerl bringt alles mit sich: seine Erfahrungen, sein Scheitern und das volle Risiko: Wie kann und wird es weitergehen? Er ist Heimkehrer, aber nicht einfach Rückkehrer.

- Und der Bruder?

Was dem Heimkehrer bevorsteht, ist nicht nur die Begegnung mit den Eltern, sondern auch die mit dem Bruder. So wie der eine in sich gegangen ist, so gerät der andere nun außer sich.

Ist er ein typisch älterer Bruder? Er war immer treu und hat sich Mühe gegeben. Er war immer pflichtbewußt und stolz auf seine Korrektheit. Unverschämte Kapriolen hat er nicht nötig gehabt. Und so lädt sich der offenbar lang aufgestaute Zorn des Selbstgerechten in seiner Protesthaltung ab. "Dieser dein Sohn da", wirft er dem Vater vor. Er spricht nicht von seinem Bruder. So distanziert und voller Ablehnung ist er, daß er keine brüderliche Beziehung mehr hat und auch nicht haben will. Und er weiß genau, daß "diese Person" ihr Erbteil mit Hurerei verschleudert hat. Mit aggressiver Abfälligkeit schleudert er das dem Vater ins Gesicht. Und besessen von seiner starren Ordnung und in seiner Wertvorstellung, verrechnet er die väterliche Liebe mit seiner jahrelang erbrachten Leistung, degradiert er Liebe zu Lohn.

Das macht diesen Mann nicht gerade sympathisch, und doch ist seine Reaktion nachvollziehbar. Ist dieses Werk des Vaters nicht wirklich etwas übertrieben, wenn er den abgewrackten Heimkehrer fast wie einen König ausstaffiert und feiert?

III.

Vielleicht fragt sich ehrlicherweise der ein oder andere von Ihnen, warum man sich um jeden Einzelnen, der wieder in die Kirche eintreten möchte, so bemüht, während die jahrelang Kirchentreuen so selbstverständlich hingenommen werden.

Ich bin auf dem Dorfe aufgewachsen und kann mich noch sehr gut daran erinnern, wie spannend es war, und was an Emotionen ausgelöst wurde, wenn einer die festgefügte Sozialisation der Dorfgemeinschaft verlassen hat, oder wenn einer aus dem gesamten Jahrgang nach Haupt- oder Realschule noch auf eine weiterführende Schule ging. Der- oder diejenige war nicht immer schon das schwarze Schaf, konnte dann aber schnell dazu gemacht werden. Da kam der Neid hoch und die Angst, selber etwas zu verpassen. Da war viel Mißgunst zu spüren, und vor allem hatte man plötzlich die Frage an sich selbst, wie langweilig und bieder das eigene Leben eigentlich ist. Wer nicht Abschied nimmt, ist "zu Hause" nicht voll da? Die Angst zu versauern, die Angst, zurückzubleiben, während der andere sich die Freiheit nimmt und geht, entsteht, wächst.

Und wie aufregend und spannend es erst war, wenn jemand zurückkehrte! Die erste Wiederbegegnung! Bis hin zu der Frage, ob und zu welchem Preis so jemand überhaupt wieder in die Gemeinschaft aufgenommen wurde.

Der Preis, den der Ältere hier zahlt, ist zunächst der Verlust an Freude und der Verlust von Gemeinschaft. Wie erstarrt steht er plötzlich außen vor, fühlt sich fremd und verloren. Es ist deutlich: Durch die Rückkehr eines verloren Geglaubten kann man nicht mehr dort stehenbleiben, wo man eben noch stand. Es braucht einen neuen Platz in unseren Häusern und in unseren Herzen. Der Ältere steht für die Schwierigkeiten, ein anderer zu werden. Wenn er sich nicht bewegen läßt, wenn keine lebendige Begegnung geschieht und die Beziehung zum Bruder nicht wieder aufgenommen wird, droht er nun verlorenzugehen.

Aber auch ihm geht der Vater entgegen. Der Vater im Gleichnis steht nicht nur für die Liebe und Barmherzigkeit Gottes. Er steht besonders für das versöhnende und lebensspendende Vaterwort Gottes. Seine Worte und Gesten ermöglichen die Beziehung zu seinem heimgekehrten Sohn und wollen auch die zwischen ihm und dem älteren Bruder erneuern. Eine erneuerte Beziehung zu gewinnen, zu den Gechwistern und zu Gott, ist mehr als Rückkehr und Umkehr.

Wo das gelingt, gibt es Grund zu feiern.

IV.

Und das noch als Letztes: Die Heimkehr des verloren geglaubten Sohnes und die Freude des Vaters sind geprägt von großer Körperlichkeit. Den Sohn treibt der Hunger nach Hause. Der Vater läuft ihm entgegen, umarmt und küßt ihn und kleidet ihn neu ein. Es wird geschlachtet, gegessen und getrunken, gesungen und getanzt.

Freude und Gemeinschaft sucht förmlich nach körperlichem Ausdruck. Zum Wort kommt die lebendige und lebensstiftende Geste. Das Wiederfinden von Verlorenem wird gefeiert. Glaube, Hoffnung und Liebe brauchen und suchen sich Bilder, Symbole und körperliche Gesten. Weil dort mehr geschieht, als was mit Sprache ausgedrückt werden kann. Alles, was sinnlich verarmt und sich auf Worte beschränkt, droht ja zu vertrocknen. Glaube, Hoffnung und Liebe, auch die Liebe zwischen Menschen, braucht nicht nur die notwendige Sprache, um Wünsche, Gefühle und Ängste auszudrücken. Sie braucht auch die körperlichen Zeichen: Gesten und Berührungen, Lachen und Weinen. Davon und dadurch leben wir. Was ginge uns verloren, wenn wir das nicht täten, nicht mehr könnten? Gerade auch in der Kirche, wo das Feiern als eine Dimension gelebten Glaubens und der Gemeinschaft zunehmend wieder entdeckt wird.

Wo das gelingt, gibt es Grund zu feiern. Amen.

Vikarin Dörte Keske,
Kirchengemeinde Göttingen-Nikolausberg
Wackenroderweg 10
37075 Göttingen
Tel.: 484725


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