Göttinger Predigten im Internet, hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch


Sonntag Trinitatis
30. Mai 1999
Predigttext: Jesaja 6
Verfasser: Prof. Dr. Klaus Schwarzwäller

I.
Liebe Gemeinde:

"Von allen Seiten umgibst du mich und hältst deine Hand über mir. Solche Erkenntnis ist mir zu wunderbar und zu hoch; ich kann sie nicht begreifen. Wo soll ich hingehen vor deinem Geist, und wo soll ich hinfliehen vor deinem Angesicht? Führe ich gen Himmel, so bist du da. Bettete ich mich in die Hölle, siehe, so bist du auch da. Nähme ich Flügel der Morgenröte und bliebe am äußersten Meer, so würde mich doch deine Hand daselbst führen und deine Rechte mich halten..."

So betet Psalm 139 in grenzenlosem Staunen. Unsere Welt mag gottlos sein durch und durch und das Universum sich in unausdenkbare Weiten und Zeiten erstrecken: Ich bin in Gottes Hand - bin in seiner Hand geborgen, wo immer ich bin, wohin immer ich gerate, wohin immer ich gehe oder mich wünsche. Ob ich in den Himmel des Glücks entrückt werde, ob ich mir meine eigene Hölle bereite oder von anderen in eine unserer modernen Höllen verbracht werde, ob ich an den äußersten Rand von allem gedrängt werde, ob ich inmitten unter Menschen vereinsame und verloren gehe: Ich bin und bleibe in Gottes Hand. Ich bin und bleibe in der Hand des himmlischen Vaters, der seinen Sohn zwar in Verzweiflung stürzte, so daß er schrie: "Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?" Doch der ihn gleichwohl nie aus der Hand ließ - Ostern hat's offenbar gemacht.

"Solche Erkenntnis ist mir zu wunderbar und zu hoch", sinnt der Beter; "ich kann sie nicht begreifen." Mit ihm wir alle nicht. Daß in dieser unserer gottleeren Welt voller Brutalität, Ungerechtigkeit und Tod Gott uns - daß Gott mich und jeden unter uns mit seiner Hand umfängt, mich und jeden von uns in seiner Hand birgt, selbst noch in den Höllen unseres Jahrhunderts, auch noch in der Einsamkeit des süchtigen Strichjungen: Sagen können wir das zwar. Doch erfassen, verstehen? Wer von uns wüßte, was damit gesagt ist - es wäre denn, er/sie hätte es irgendwann und irgendwo tatsächlich erfahren oder bei anderen gesehen? Und auch dann ist und bleibt es wunderbar und zu hoch für uns.

Beide Erfahrungen sind alt: daß Gott uns in seiner Hand hält, wo immer wir stecken, und: daß das ein Wunder ist und unbegreiflich. Als Jesus ans Kreuz, und in den Tod ging und danach in die Herrlichkeit des Vaters zurückkehrte, haben seine Jünger das aus unmittelbarer Nähe miterlebt. Das ließ sie nicht ungeschoren! Und ehe sie Zeit hatten, sich darauf einzustellen, fanden sie sich zu ihrer eigenen Überraschung auf einmal erfüllt von der Gewißheit, vielmehr geradezu von der körperlich spürbaren Erfahrung seiner Gegenwart und begannen - man muß sich das einmal vorstellen! Wer waren die denn schon?! Diese paar Leutchen einer neuen jüdischen Sekte! Begannen also, hiervon begeistert und angetrieben, Jesus Christus und seine Auferstehung zu verkündigen und öffentlich geltend zu machen. Damit nahm von Jerusalem das seinen Ausgang, was wir viele Jahrhunderte später im Rückblick als "Weltmission" bezeichnen. Kurzum, sie hatten in Weisen, die nicht vorhersehbar waren und aller Vorstellungen spotteten, sie hatten bis hinein in ihre Lebensläufe erfahren: "Von allen Seiten umgibst du mich und hältst deine Hand über mir." Begreife das, wer kann!

Und es wurde immer wieder nicht begriffen und aus diesem Nichtbegreifen heraus verbogen, verzerrt, durchlöchert. Vielleicht hat dabei eine Rolle gespielt, daß Wunderbares, das uns zu hoch ist, immer wieder unsere Besserwisserei herausfordert, die uns dazu treibt, es aufzulösen, es banal zu machen, es als belanglos, womöglich Trug hinzustellen. Jesus erfuhr das während seiner Wanderschaft am eigenen Leibe; und an dem Wunder seiner Person, seines Weges und seines Werkes wetzen bis heute sich diejenigen billig ihre Schnäbel, die nicht die Reife haben, mit Goethe "das Unbegreifliche schweigend zu verehren". (Erst vorige Woche, pünktlich zu Pfingsten, hat Rudolf Augstein seinen SPIEGEL einschlägig geziert und uns belehrt, Religion habe keine Zukunft, "mit welchem Gott auch immer".)

Jedenfalls hat der Glaube keine Zukunft, wenn wir uns nicht - begreifbar oder nicht - in Gottes Hand geborgen und von ihr geführt wissen und fühlen. Die frühe Kirche hat das gewußt und darum diese Erfahrung als Dogma formuliert - das Dogma von der Dreieinigkeit. Es hält fest: Seit vor meiner Geburt bis nach meinem Leben umgibt mich Gott; er umgibt mich von innen und von außen, er geht mir voran selbst in Höllen und bis hinein in den Himmel, und zwar Gott, er, immer der eine selbe Gott, wir begegnen ihm nun als Vater und Schöpfer, als Sohn, "der niederfuhr und auferstand" (EG 184,4), oder als Geist, der unsere Herzen erfüllt. "Von allen Seiten umgibst du mich...": Das Dogma von der Dreifaltigkeit nagelt das gleichsam fest und versucht, dieses Undenkbare aussagbar zu machen. Und wenn wir singen: "Ehr' sei dem Vater und dem Sohn und dem Heiligen Geist...", dann preisen wir mit dieser Formel zugleich, daß der eine Gott uns von allen Seiten umgibt und als Schöpfer, als Erlöser und als Lebenskraft in seiner guten Hand bewahrt - was immer mit uns geschieht.

"Von allen Seiten umgibst du mich..." - daraus hat man allerdings auch gemacht "Er sieht alles! Selbst deine geheimsten Gedanken! Hüte dich!" Also ein Alb? Eine Umschreibung für: "Von allen Seiten überwachst du mich" - mit der Aussicht, daß er zur gegebenen Zeit abstrafen wird? So hat man's oft, viel zu oft mißbraucht. Aber Gott ist kein Geheimdienstchef! Sondern er ist - ja, und nun mag etwas von Sinn und Gehalt der Trinitätslehre aufleuchten: Er umgibt mich von allen Seiten als mein Schöpfer und Vater, als mein Erlöser und Bruder und als Heiliger Geist, der mir neues Leben schenkt. Also nicht als "big brother", sondern als dreieiniger, dreimal heiliger Gott. Daß er Gott ist und heilig - die ganze Bibel und die Kirche aller Jahrhundert hat gewußt: Das heißt freilich auch, daß er nicht jede Schweinerei und jede Gottlosigkeit stillschweigend hinnimmt wie ein Ölgötze. Er schlägt auch zu. Er schlägt gegen das Unrecht zu - er tat's bis hin zum Tode seines Sohnes am Kreuz von Golgatha, wo Jesus Christus für alles Unrecht aller Menschen starb. Er hat es damit auf sich selbst genommen. Denn wir - wir müßten zugrunde gehen oder daran ersticken, bliebe es auf uns liegen.

"Von allen Seiten umgibst Du mich und hältst deine Hand über mir..." - zuweilen eine milde, zärtliche Hand, zuweilen eine harte, unerbittliche Hand: manchmal will's scheinen, als wäre sie lahm oder eingeschlafen, manchmal, als könnte sie nur zuschlagen - selbst der, der am Kreuz schrie, konnte das nicht mehr durchschauen, als er sterben mußte. Doch er erstand von den Toten und vereinigte sich mit dem Vater; seither singt das Kinderlied mit allem Recht: "Stets auch mir zur Seite still und unerkannt, daß es [nämlich "das Christuskind"] treu mich leite an der lieben Hand."

"Von allen Seiten umgibst du mich..." - auch von innen her, in Herz und Gedanken. Wie sonst wäre es möglich, daß Menschen glaubten - daß sie an diesen so unsichtbaren und ins Leiden stoßenden Gott glaubten und ihn vertrauten? Bei Licht betrachtet, erscheint es als absurd, und unsere eigenen Zweifel und ungelösten Fragen bestätigen's. Und trotzdem - ! Zweifel mögen uns bis zur Zerstörung jeder Zuversicht erfüllen, und doch bleibt eine Gewißheit, in die wir uns sinken lassen - können: Gott hält mich. Er hält mich in all dem Elend um mich herum und im eigenen Leben und sieht mich durch das häßliche Zerrbild von mir hindurch, das ich bin und in dem ich mir selber fremd bin und nicht gut bin, sieht mich als den Menschen, den er einst schuf und der ich gerne wäre und von mir aus nie sein kann. - Ich selber bin zu realistisch und aufgeklärt, um mir das auszudenken. Doch es ist in mir. Auch als Heiliger Geist umgibt uns Gott und läßt uns nicht aus seiner Hand.

"Von allen Seiten umgibst du mich und hältst deine Hand über mir..." - das Dogma von der Dreieinigkeit hält fest; somit auch der, der sich aus Liebe zu uns in Folter, Entwürdigung und Tod gab. Der uns kennt und unsere Erfahrungen teilt. Und der uns längst den Himmel aufschloß und zu Kindern des dreimal heiligen Gottes erhob. Von allen Seiten umgibt Gott uns und hält seine Hand über uns; selbst in der Hölle und am Rande allen Lebens ist er bei uns. Und wenn uns Hören und Sehen, wenn uns selbst Schreien und Glaube vergehen - "so wird uns doch seine Hand führen und seine Rechte uns halten": die gute, die feste, die harte und die zärtliche Hand Gottes: des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes.

Amen



II.
Jesaja 6:
Das Jahres, da der König Usia starb, sah ich den Herrn sitzen auf einem hohen und erhabenen Stuhl, und sein Saum füllte den Tempel. Seraphim standen über ihm, ein jeglicher hatte sechs Flügel: mit zweien deckten sie ihr Antlitz, mit zweien deckten sie ihre Füße, und mit zweien flogen sie. Und einer rief zum andern und sprach: Heilig, heilig, heilig ist der Herr Zebaoth: alle Lande sind seiner Ehre voll! daß die Überschwellen bebten von der Stimme des Rufens, und das Haus ward voll Rauch. Da sprach ich: Weh mir, ich vergehe! Denn ich bin unreiner Lippen, und wohne unter einem Volk von unreinen Lippen; denn ich habe den König, den Herrn Zebaoth, gesehen mit meinen Augen. Da flog der Seraphim einer zu mir, und er hatte eine glühende Kohle in der Hand, die er mit der Zange vom Altar nahm, und rührte meinen Mund an und sprach: Siehe, hiermit sind deine Lippen gerührt, daß deine Missetat von dir genommen werde, und deine Sünde versöhnt sei. Und ich hörte die Stimme des Herrn, daß er sprach: Wen soll ich senden? Wer will unser Bote sein? Ich aber sprach: Hier bin ich, sende mich! Und er sprach: Gehe hin und sprich zu diesem Volk: Höret, und verstehet's nicht; sehet, und merket's nicht! Verstocke das Herz dieses Volks, und laß ihre Ohren hart sein, und blende ihre Augen, daß sie nicht sehen mit ihren Augen noch hören mit ihren Ohren, noch verstehen mit ihren Herzen, und sich bekehren und genesen. Ich aber sprach: Herr, wie lange? Er sprach: Bis daß die Städte wüst werden ohne Einwohner, und die Häuser ohne Leute und das Feld ganz wüst liege. Denn der Herr wird die Leute fern wegtun, daß das Land sehr verlassen wird. Und ob noch der zehnte Teil darin bleibt, so wird es abermals verheert werden, doch wie eine Eiche und Linde, von welchem beim Fällen noch ein Stamm bleibt. Ein heiliger Same wird solcher Stamm sein.


Liebe Gemeinde:

Das ist ein schwerer, ein bedrückender Text. Der dreimal heilige Gott sucht sich einen Boten, den er senden kann, damit dieser - man glaubt es schier nicht, und es scheint auch nicht zur Bibel zu passen, und doch ist es so: damit dieser Juda, also den Restteil von Gottes erwähltem und geliebtem Volk; also damit er Juda verderbe. Oder genauer noch: ins Verderben reite. Er soll ihnen predigen gerade nicht, damit sie zur Besinnung kommen, umkehren, einen Neuanfang machen. Er soll ihnen predigen, damit sie aufgrund seiner Predigt sich verbohren und verstocken und zielsicher ins Verderben laufen. So wichtig ist das - und so ungeheuerlich, daß es gleich zweimal dem Propheten auferlegt wird. Ja, er soll jeden einzelnen der Sinne der Menschen seines Volkes vertäuben, damit sie sehenden Auges und hörenden Ohres wie Lemminge in die Katastrophe drängen.

Was mich selbst dabei bis zur Beklommenheit anspringt, ist: Dergleichen kennen wir. Es ist uns nicht fremd. Ich rede jetzt nicht z.B. von der Geschichte unseres Volkes in diesem Jahrhundert; ich denke nicht an die Kirchen. Not und Jammer sind groß über die Austrittswellen und die Einflußlosigkeit und die Gleichgültigkeit der - noch! - Kirchensteuerzahler und das geringe Ansehen und die Glaubenslosigkeit und ... und ... Wir kennen diese Klagelieder und mögen sie nicht mehr hören! Das war vor gar nicht so langer Zeit noch grundlegend anders. Damals erhoben sich warnende Stimmen, und in ihrem Gefolge wurde Kirchenkritik schier zur Mode - und lief aus wie eine Welle am flachen Strand. Vom "Schuß in Watte" hatte bereits zu meiner Schulzeit jemand geklagt - ach, es ist, als ob alle diese Stimmen nur eines erreicht hätten: daß man weder hörte noch wahrnahm, sondern im trutzigen Vertrauen auf den "Herrn der Kirche" - der unwillkürlich wie der Vorsteher der eigenen genommen wurde - auf den eingefahrenen Wegen verblieb. "Kirche weiter so!"

"Hin ist hin", wußte Luther anschaulich auszuführen: "Gottes Wort und Gnade ist wie ein fahrender Platzregen, der nicht wiederkommt, wo er einmal gewesen ist. Er ist bei den Juden gewesen; aber hin ist hin: Sie haben nun nichts. Paulus brachte ihn nach Griechenland. Hin ist auch hin: Nun haben sie den Türken..." Und so fort. Er schließt an: "Und ihr Deutschen dürft nicht denken, daß ihr ihn ewig haben werdet! Denn Undank und Verachtung wird ihn nicht lassen bleiben." Das wurde an Christenmenschen geschrieben. Und während wir in Deutschland uns sonntags in leeren Kirchen verlieren, fordern in islamischen Ländern Asiens Christen durch ihren bloßen Glauben die Mächte heraus, und in Somalia bekehren sich Menschen zu Christus mit der realen Chance, dafür am Kreuz zu enden. Wo sind wir heute? Ist für uns hin wirklich hin - hin?

"Ehr' sei' dem Vater und dem Sohn und dem Heiligen Geist, wie es war im Anfang, jetzt und immerdar und von Ewigkeit zu Ewigkeit", singen wir allsonntaglich im Gottesdienst als Antwort auf den Eingangspsalm, und in der Abendmahlsliturgie singen wir das dreifache "Heilig!" der Seraphen. Was singen wir da? Ist es uns klar? Ist uns deutlich, daß wir dabei den ehren und preisen, dessen Heiligkeit und Hoheit eines ausschließen: nämlich, daß wir mit seinem Namen und seinem Wort und seinem Willen so luschig verfahren, wie es unter uns innerkirchlich wie außerkirchlich gang und gäbe ist? Nein, ich übertreibe nicht. Ich sehe nicht, wo man bei uns in Kirche und Theologie tatsächlich und konsequent Ehre und Heiligkeit Gottes vor und über alles, vor und über wirklich ALLES, stellte. Gut, man muß die Realitäten sehen und auf sie Rücksicht nehmen. Als ob Jesaja und Petrus, als ob Elia und Jakobus Träumer gewesen wären - um vom Herrn selbst zu schweigen. Sie wußten nicht nur mit dem Kopf, sie lebten es: "Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von einem jeden Wort, das aus dem Munde Gottes geht." Bei uns wurde das - ein Bibelvers.
Ich kann durchaus so reden, denn ich selbst weiß mich - bedrückend genug - voll in das alles hineinverwickelt, und ich habe meinen Brecht auch gelesen: "Nur wer im Wohlstand lebt, lebt angenehm!"

Weithin ringsum erkenne ich Ratlosigkeit - Zeichen dessen, daß die Sinne wieder scharf und die Herzen wieder frei zu werden beginnen? Wer will das wissen? Jedenfalls können und sollen wir wissen: Gottes Volk, das Volk des alten wie des neuen Bundes, taumelt nicht durch bloßen Zufall oder aufgrund der Ungunst der Umstände in Verderben oder Untergang. Wenn es den dreimal Heiligen in seiner Geduld und Langmut über alle Maßen hinaus herausgefordert oder vielmehr: verachtet hat, dann ist er selber, der dreimal heilige Gott; er ist es dann, der sein Volk den Weg in den Untergang führt, ja, nachgerade treibt. Auch dazu bedient er sich seiner Propheten. Ihnen ist auferlegt, durch die Verkündung von Gottes Willen die Krankheit hochzutreiben und den Tod herbeizuführen. - Es gibt auch heute Propheten. Billig, gar gemütlich ist ihr Amt wahrhaftig nicht.-

Wir aber können seither zweierlei wissen - ach, wir wissen's längst, doch es ist oft bloßes, wo nicht totes Wissensgut. Dies nämlich, daß zum einen der Weg zur Buße und zu Gott uns nicht jederzeit offensteht, auch nicht, wenn Gott sein Wort erklingen läßt. Es gibt das, daß er uns einfach nicht mehr will. Und dann ist sein Wort für uns, wie immer es auch lautet, Verderben und Ende. Und daß zum anderen wir dazu verdammt sind, in geistlicher Ödnis und Gottesfinsternis zu bleiben, wenn nicht Gott selbst uns zu ihm zurückwendet. Wir von uns aus und ohne ihn können nur zappeln wie eine Fliege am Fänger.

Vielleicht - vielleicht sehe ich alles bei uns gar zu düster. (Dieser Einwand, ist er begründet, würde mir das Herz leichter machen!) Doch ich bin mir dessen gewiß, daß eines bei uns verschüttet ist: daß Gott heilig ist, ja, dreimalheilig. Wüßten wir es, vieles was in seinem Namen geschieht, würde weder in seinem Namen noch überhaupt geschehen. Wüßten wir es, kirchliche Amtsträger wie akademische Theologen sagten mehr und redeten weniger. Wüßten wir es, Christen hätten denen etwas mitzuteilen und zu geben, die in Not sind und die von ihnen um des bloßen Namens willen, als Christen, von ihnen etwas erwarten oder immerhin erhoffen. Soweit und solange wir nicht wirklich wissen, daß Gott heilig ist, können wir dem nicht entgehen, in der Not allgemeiner Wortverwirrungen so irgendwie im Strome zu lavieren. Denn ist Gott nicht heilig unter uns, so kann es keine beständigen tragenden Werte geben.

Die letzten Sätze unseres Textes stammen mit großer Wahrscheinlichkeit nicht aus Jesajas, sondern aus späterer Hand. Das macht sie für uns besonders wertvoll. Wer sie einfügte, tat dies - gemäß altem Brauch - als Bestätigung und Kommentar: "Ja, so haben wir es erfahren, so ist's gekommen, so hat es Gestalt gewonnen." In dieser Erfahrung steckt ein Überschuß gegenüber dem Befehl an Jesaja: Gott hat nicht ausrotten lassen, sondern abgeschlagen wie einen großen Baum. Ein Stumpf ist stehen geblieben. Und der soll "ein heiliger Same" sein - ein Rätselwort, das Hoffnung weckt. Wir wissen, aus dem "Stumpf Isais" kam am Ende Jesus Christus. Und wir hoffen, aus dem Sumpf der Kirchentümer unserer Zeit möge frisches, kräftiges Grün sprießen.

Machbar ist das nicht. Machbar ist nicht einmal, daß wir's erfassen. Doch wir können es auf uns wirken lassen: Gott ist dreimal heilig. Er ist heilig als der Vater, heilig als der Sohn, heilig als der heilige Geist. Heilig - er, Gott, vor und über allem.

Amen


[Nachbemerkung:
Die assoziative Verknüpfung des dreifachen "Heilig" von Jes.6 mit der Trinität ist für uns nicht mehr nachvollziehbar, sondern führt für uns auf die Ebene jenes Witzes, wonach das Eichhörnchen auf dem Baum lebt und das Klavier auch aus Holz sei. Es ist darum ein Gebot der Ernsthaftigkeit, jedem einschlägigen Anklang zu vermeiden. Das bedeutet, daß hier zu entscheiden ist: Entweder Predigt des Textes oder Themapredigt über die Trinität.
In einer ersten Fassung habe ich versucht, beides in einer Predigt unterzubringen. Ich habe diese Predigt verworfen: Sie war überladen, und der zu Beginn der zweiten Hälfte dann eingefügte Jesaja-Text heulte das Ganze gleichsam aus. Nun aber kam ich in das Dilemma, dann so oder so Erwartungen entweder mit Blick auf den vorgegebenen Predigttext oder auf den Sonntag des Kirchenjahrs zu enttäuschen. Darum habe ich mich dazu entschlossen, das zuvor in eine Predigt Zusammengedrängte in zwei Predigten jeweils für sich zu entfalten.
Wer beide Predigten nacheinander liest, mag die Frage haben, wo eigentlich der Prediger selbst stehe; denn beide Predigten sind nicht nur sehr verschieden, sondern stehen auch in Spannung miteinander. Dazu ist zweierlei zu sagen: Als Prediger habe ich dem Text bzw. dem Thema zu folgen, wohin auch immer die mich führen. Und: Wo ich stehe, weiß der allein, dessen Hand mich samt meinen Widersprüchen und Merkwürdigkeiten - wie ich zuversichtlich bin: umschließt.]




Prof. Dr. Klaus Schwarzwäller,
FB Theologie der Georg-August-Universität
Platz der Göttinger Sieben 2
37073 Göttingen
Tel.: 05 51-39 71 50
e-mail: kschwar1@gwdg.de


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