Göttinger Predigten im Internet, hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch


Pfingstmontag
24. Mai 1999
Predigttext: Gen. 11, 1–9
Verfasser: Prof. Karl-W. Rennstich

Liebe Gemeinde!

Worin bestand denn die Sünde, die Menschen gegangen hatten, als sie damals die Stadt und den Turm bauten? Gott ist nicht bedroht. Er mußte ja herabsteigen, um dieses kleine Bauwerk überhaupt in den Blick zu bekommen. Es handelt sich nicht um eine Bedrohung Gottes, sondern um eine kulturgeschichtliche Entwicklung.

I.

Die Stadt ist aus dem Dorf hervorgewachsen
Eine der wichtigsten Erfindungen des Dorfes auf landwirtschaftlichem Gebiet war die Züchtung von Fruchtbäumen und Pflanzungen, die sogenannten Kulturpflanzen. Vom Dorf führt die Entwicklung zur Stadt. In der Stadt entstand etwas Neues. Krieger und technische Spezialisten übernahmen die führende Rolle. Die Stadt ist nach Mumford, dem großen Kulturhistoriker, das Ergebnis der größten landwirtschaftlichen Revolution, die neben der Domestikation des Getreides der Einführung der Pflugkultur und der Bewässerung der Felder zur Folge hatte. Die "Stadt" als Gegenbild des "Dorfes" ist auch das Thema des Gilgamesch- Epos und der Urgeschichte der Menschheit in der Darstellung der Bibel und der Mythen der griechischen und chinesischen Kultur.

Die Stadt- und Turmbaugeschichte ist Symbol für Fortschritt und Kulturwechsel. Die Menschen lernten, luftgetrocknete Ziegel, gebrannte Bausteine herzustellen. Sie wohnten beieinander in der Stadt und gruppierten sich um die Mitte. Der Königspalast mit dem Turm ist das Symbol der Einheit. Alle sind geschützt durch die Mauer. Nun heißt es: Wir hier drinnen und die draußen!

Schlüsselbegriffe dieses Textes sind die Sprache, das ganze Land, die Stadt und der Turm. In Inschriften Saragons II. im Jahre 721 bis 705 v. Chr. wird über den Bau der neuen Hauptstadt Dur-Sarugen berichtet. Es heißt dort: "Sargon, der König der Gesamtheit, der König des Landes Syrien: Aus meinem eigenen Wunsch baute ich eine Stadt, Dur-Sarugen nannte ich ihren Namen, einen perfekten Palast, der in den vier Weltteilen keine Rivalen, nichts Ebenbürtiges hat, baute ich darin. Stadt und Palast sollen die Weltherrschaft zumindestens in Geist und Anspruch dokumentieren. Zwangsarbeiter, unter ihnen vielleicht auch Israeliten, mußten die Stadt bauen, Untertanen aus den vier Himmelsrichtungen mit jeweils fremder Sprache, Reden ohne Harmonie, die Berge und Flachland bewohnen, so viele das Licht der Götter, der Herr der Gesamtheit hütet, die ich auf Geheiß Assurs, meines Herrn, im Zorn meines Zepters erbeutet hatte, ließ ich eine Rede führen und ließ sie darin Wohnung nehmen. Die Stadt soll zu einem Lager der Beute werden, der Besitz der Länder und der weithin wohnenden Feinde, die Gaben der Wohnstätten, der Überfluß der vier Weltteile, sollen in der Stadt aufgehäuft werden. Die Herrlichkeit der Stadt beruht auf der brutalen Unterdrückung und auf der Ausbeutung anderer Völker. Ein Spottgedicht aus Jes 14,6 beschreibt das so: "Der im Grimm Nationen schlug, Schlangen ohne Unterlaß. Der im Zorn Völker niedertrat, schonungslose Verfolgung."

Ein Jahr nach der Einweihung von Dur-Sarokin, kommt Sargon II. bei einer Schlacht ums Leben. Die Bauarbeiten werden eingestellt. Die Stadt ist nicht mehr königliche Residenz, und die Menschen fragen sich, warum die Weltherrschaft Sargons ein so schmähliches Ende gefunden hat. Die Zerstörung des Turmes, die Sprachverwirrung und Ausbreitung der Menschen über das ganze Land gleicht einer zweiten Vertreibung aus dem Paradies.

Das Ende der Geborgenheit ist gekommen. Babylon heißt "Nabel der Welt". Es ist der Wohnsitz der Götter. Gleichzeitig haben wir eine Religion, die vom Menschen her denkt und den Menschen zum Gott macht. Der Gotteskomplex hat schreckliche Konsequenzen: die Sprachverwirrung. Die Geschichte endet gnadenlos. Die Heimatlosigkeit und die Unbehaustheit werden zum Schicksal der Menschen.

II.

Der zentrale Satz in unserem Text heißt "Da stieg der Herr herab, um sich Stadt und Turm anzusehen."

"Herabsteigen" und "hinaufsteigen" haben in der Bibel einen Bezug zum Tempel. Sie beschreiben aber auch die mystische Himmelfahrt der Seele. Hinaufgehen nach Jerusalem heißt in den Tempel gehen, und hinaufsteigen in den Himmel ist das höchste der Vollendung der religiösen Sphäre.

Auf der "Jakobsleiter" stiegen die Engel hinauf und hinunter. So werden der Stein und die Leiter zu einem Symbol des Hinauf- und Herabsteigens vom Himmel zur Erde. Mose stieg zu Gott hinauf und Gott stieg herab. Er sah sich das Los, die Armut, die Angst des Volkes an. Gott verläßt seinen erhabenen Ort.

Im Neuen Testament erfahren wir dann, wie über Jesus am Kreuz gespottet wird: "Hilf dir selbst und steig herab vom Kreuz, damit wir sehen und glauben können." Im Epheserbrief Kap. 4,10 heißt es: "Derselbe, der herabgestiegen ist, ist auch hinaufgestiegen." Und ganz am Ende der Bibel heißt es: "Die neue Stadt wird herabsteigen vom Himmel. Das neue Jerusalem, die neue Welt ist damit gekennzeichnet. Das Hinauf- und Herabsteigen gleicht einer Treppe:

Manchmal seh‘ ich im Traum eine Treppe
Wendeltreppe nach unten
Und ängstlich steig ich hinab
Morsche, glitschige Stufen
In den dunklen Keller meines ICH
Da liegen gestorbene Träume
Da kauert ein verletztes Kind
Da hockt hinter Spinnen die Angst.
Manchmal seh‘ ich im Traum eine Leiter
Karriere-Leiter nach oben
Und mühsam klettere ich hoch
Sprosse für Sprosse
Bis ich ganz oben bin
Top, high, einsame Spitze
Anerkannt, bewundert, begehrt
Mit Titel, Status, Erfolg.
Manchmal seh ich im Traum einen Mann
Karriere-Leiter nach unten
Und er steigt sie gelassen hinab
Keimzelle, Embryo, Säugling
Bis Gott ganz menschlich ist
Wäscht Zöllnern und Sündern die Füße
Reicht Aussätzigen seine Hand
Sitzt zu Tisch neben Dir und mir.
Zusammengefaßt ist das alles in der Redewendung, daß Gott vom Himmel zu den Menschen herabsteigt.

III.

"Jahwe sagte: Ich habe die Unterdrückung meines Volkes, das in Ägypten ist, genau gesehen. Ihr Zeterngeschrei angesichts seiner Treiber habe ich gehört. Ja, ich kenne seine Schmerzen. Ich bin herabgekommen, um es aus der Gewalt Ägyptens zu erretten und es aus jenem Lande hinaufzuführen in ein gutes und weites Land. Gehe hin und versammle die Ältesten Israels und sage zu ihnen: Jahwe, der Gott eurer Väter, ist mir erschienen ... und hat gesagt: Ich habe achtgehabt auf euch und das, was euch in Ägypten angetan wird und habe beschlossen: Ich will euch aus der Unterdrückung in Ägypten herausführen." (2. Mose, 3,7.8.16.17)

Der Handelnde ist Gott. Er sieht und er sendet! Er kennt das Leiden seines Volkes und er denkt über die Rettung nach. Und bei dieser Rettungsaktion sind Moses und die Ältesten beteiligt. Die Ältesten werden hier zum ersten mal in der Bibel erwähnt. Die Ältesten nehmen eine besondere Stellung in Israel ein. Sie werden unter den anderen Gliedern ihres Volkes ausgezeichnet als deren Vorsteher, Oberhäupter, Führer, Leiter und Vorgesetzte. Sie sind Werkzeuge Gottes, Vertreter des Volkes; durch die Ältesten spricht Gott zu seinem Volk. Sie sind die ersten Amtsträger in Israel. Aus den Texten können wir sehen, daß die Ältesten auch die Leitung des gottesdienstlichen Lebens innehatten; sie sind befugt, die Opfer darzubringen und die Passahschlachtung durchzuführen. Sie sollen für das Volk Heil erwirken.

Was hat das alles mit Pfingsten zu tun, dem Tag der Geburt der Kirche? Die Geschichte der Kirche beginnt umgekehrt. Menschen verstecken sich aus Angst hinter verschlossenen Türen. Da werden die Türen aufgetan und die verängstigten Menschen mit einer Botschaft hinausgesandt in die Welt. Dieses Hinausziehen soll nicht durch Herr oder Kraft, sondern durch meinen Geist geschehen, spricht der Herr Zebaoth (Sach 4, 6).

Wie aus einem ängstlichen und komplexbeladenen Menschen ein "Handlanger Gottes" wurde, zeigt die Geschichte eines Mannes, der den größten Teil seines Lebens in der Umgebung von Basel verbrachte, Christian Friedrich Spittler (1782-1867).

Es war eine garstige Zeit damals. Der Absolutismus herrschte. Die Kirchen waren der verlängerte Arm der Fürsten. Nur selten wagten es offizielle Vertreter der Kirche, gegen Unrecht und Willkürherrschaft einzutreten. Wer es wie der junge Hofprediger Dr. Samuel Urlsperger wagte, die Korruption öffentlich als Sünde zu bezeichnen, riskierte Kopf und Kragen. Der junge Hofprediger verlor seinen Posten. Er mußte fliehen. Schließlich fand er in der freien Reichsstadt Augsburg ein Pfarramt. Sein Sohn gründete 1780 in Basel die über ganz Europa hinweg verstreute Deutsche Christentumsgesellschaft, die durch Werke treuer Liebe auf die Hebung lebendiger Gottseligkeit in der Nähe und Ferne hinzuwirken bemüht war.

IV.

Ein typischer Vertreter dieser Gruppe war Christian Friedrich Spittler. Als Sekretär dieser Gesellschaft kam Spittler in Basel mit den verschiedensten Leuten aus allen Schichten der Bevölkerung in Berührung. Zu seinen Freunden gehörten reiche und angesehene Handelsherren, hochgelehrte Professoren der Stadt Basel, aber auch einfache Menschen aus dem Volk.

Spittlers Leben ist ein Beispiel der Einmischung in die Gesellschaft, der Verbreitung einer christlichen Gesinnung unter denen, die diese nicht kannten oder vergessen hatten. Der Einblick in die Welt der Politik zeigte ihm das große Ausmaß der Not und die große Aufgabe, die die Christen hier zu erfüllen hatten. Spittler hatte auch enge Verbindung mit einer Anzahl von Frauen und Männern aus der katholischen Kirche, wie Johannes Goßner, Martin Boos und Johann M. Sailer, dem späteren Bischof von Regensburg (1829-32). Die gemeinsame Liebe und hohe Wertschätzung der Bibel verband Spittler mit ihnen.

Der "Handlanger Gottes" gründete etwa 50 verschiedene soziale Einrichtungen und Missionswerke. Diese "wohlgefälligen Werke" zeigten neue Wege in der Schulbildung - wie beispielsweise die Kinderrettungsanstalt in Beuggen, in der arme Lehrer armen Kindern unter der Leitung des durch Pestalozzi beeinflußten fortschrittlichen Pädagogen und Juristen Christian Heinrich Zeller (1779-1860) eine Schulbildung ermöglichten. In Basel baute Spittler mitten im Krieg eine Bibel- und Traktatgesellschaft auf, als Napoleon 1813 auf seinem Rückzug nach Basel kam. In dieser unruhigen Zeit gründete er 1815 zusammen mit einigen Freunden die Basler Mission. Freunde hatten ihn gewarnt: "Sonderbar genug wäre es, wenn aus der protestantischen Schweiz eine Mission ausginge, um dem großen, bei uns selbst waltenden argen Heidentum ... Einhalt zu tun." Spittler wählte Sach 4, 6 als Losung: "Es soll nicht durch Heer oder Kraft geschehen, sondern durch meinen Geist."

Ziel des Unternehmens sollte sein: "Missionare als Ausbreiter einer wohltätigen Zivilisation und Verkündiger des Evangeliums des Friedens nach verschiedenen Gegenden der heidnischen Welt" auszubilden. Den Sinn dieser Definition erläuterte Christian Gottlieb Blumhardt, der erste Missionsinspektor der Basler Mission im Jahre 1827, den zum ersten mal nach Afrika ausreisenden Missionaren in einer Instruktion. Darin heißt es, daß die Missionare "an der Türe Afrikas anzuklopfen und aus der Entwicklung der Umstände von dem Herrn eine Antwort auf die Frage zu erbitten hätten, ob Missionare überhaupt erwünscht wären". Mission als Ausbreitung einer wohltätigen Zivilisation deute Wiedergutmachung begangenen Unrechts in Afrika. Missionare sollten nie vergessen, was Weiße den Schwarzen in Afrika an Ungerechtigkeiten angetan haben. "Ihr seyd diesen mißhandelten Geschöpfen eine unerschöpfliche Geduld und ein Übermaß von wohlthuender Liebe schuldig, wenn auch nur einigermaßen die tausend blutenden Wunden geheilt werden sollen, welche ihrem Volke seit Jahrhunderten die schmutzigste Habsucht und die grausamste Arglist der Europäer geschlagen hat."

Niemand konnte damals ahnen, daß aus diesen kleinen Anfängen eine der größten und bedeutendsten Missionsgesellschaften werden sollte. Noch heute glauben viele Menschen in Afrika und Asien, daß Basel der evangelische Vatikan sei.

Amen

Professor Dr. Karl W. Rennstich
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