Göttinger Predigten im Internet, hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch


Pfingstsonntag
23. Mai 1999
Predigttext: Joh 16, 5-15
Verfasser: Bischof Prof. D. Dr. theol. Georg Kretschmar

1. Pfingsten, das dritte der christlichen Hochfeste im Kirchenjahr, ist nicht so volkstümlich wie Weihnachten und Ostern. Das ist verständlich. Das Kind in der Krippe, der Mann am Kreuz und die Botschaft der Auferstehung rühren uns unmittelbarer an als die schwierige Rede von der «Ausgießung des heiligen Geistes». Und doch weisen die beiden anderen Feste über sich hinaus eben auf Pfingsten. Gott sandte seinen Sohn als Kind in unsere gebrochene, unwirtliche Welt, um sie zu heilen - das ist Weihnachten. Gottes Sohn, der Mensch Jesus, starb am Kreuz als Verbrecher, Zeichen der Heillosigkeit unserer Welt, und Gottes Tat der Versöhnung, bestätigt dadurch, daß Gott den Getöteten auferweckt hat und er, der Auferstandene, nun in der Gemeinschaft mit seinem himmlischen Vater lebt - das ist Ostern.

Aber an Pfingsten kehren wir wieder auf die Erde zurück. Der heilige Geist, den der erhöhte Herr vom Vater den Seinen sendet, ist die Kraft in dieser Welt, die noch immer gebrochen und unwirtlich ist, als Kinder Gottes, als Nachfolger Jesu Christi zu leben. Vater, Sohn und Heiliger Geist, davon spricht unser Text, und das ist erst von der Wirklichkeit des Heiligen Geistes unter uns, insofern von Pfingsten her, zu begreifen. Für die Orthodoxe Kirche gehört dieses Thema so sehr zum Pfingsttag, daß sie daneben kein eigenes Fest der Trinität braucht - wie wir Abendländer es am nächsten Sonntag feiern - und daß in der Russischen Orthodoxen Kirche der Name "Trinität" ("Troytsa") für das Fest am fünfzigsten Tag nach Ostern den Namen „Pfingsten“ verdrängt hat.

2. Wir nennen die Kapitel des Johannes-Evangeliums, denen unsere Verse entstammen, die «Abschiedsreden Jesu». Es geht um die Situation der Jünger nach dem Heimgang Jesu zum Vater. Es ist unsere Situation. Abschied hat wohl meist etwas Schmerzliches, vor allem, wenn es bleibender Abschied ist. Wenn Gott uns einen lieben Menschen nimmt, die Frau, den Mann, die Eltern, erfahren wir uns wohl immer als sehr einsam. Noch Jahre danach kann uns der Gedanke durchzucken: Ach, darüber hätte ich gern mit meiner Frau gesprochen, hier fehlt mir der Rat des Vaters, der Zuspruch der Mutter. Einsamkeit, das gehört jetzt zum Leben der alten Frauen, der Schwestern, die in unseren Gemeinden in Asien zurückgeblieben sind, wenn die Männer, Kinder, wenn Freunde und Nachbarn ausgewandert sind. So sehen sich auch die Jünger ohne ihren zum Vater heimgekehrten Herrn. Und das ist die erste Verheißung Jesu: Ihr bleibt nicht allein. Ich sende Euch meinen Heiligen Geist als Tröster, als Anwalt. Das ist Pfingsten. Wir sind eine Gemeinschaft mit und unter Jesus Christus, als Kirche, als Gemeinde, weil uns Gottes heiliger Geist zusammenhält.

Beim Abschiednehmen sagt man gern in unseren Gemeinden: «Christen sehen sich nie zum letzten Mal». Das ist Ausdruck der Gewißheit, daß vor uns und über uns die Verheißung der bleibenden Gemeinschaft mit Gott steht, in die der Auferstandene uns vorangegangen ist. Aus dieser Gewißheit wächst Trost und Hoffnung. Aber die Gabe des Heiligen Geistes ist noch etwas anderes, ja sie ist mehr. Heute schon, in dieser unwirtlichen Welt, sind wir nicht allein.

3. Diese Welt ist Gottes Schöpfung, uns Menschen anvertraut. Und doch ist sie eben unwirtlich. Und wir erfahren uns immer neu als hilflos. Das haben uns gerade die letzten Monate neu gelehrt. Ich kam mir hier in St. Petersburg manchmal vor wie ein Mann, der von einem Berg aus eine Bahnstrecke in der Ebene überblicken kann und nun sieht, wie zwei Züge in voller Fahrt aufeinander zurasen. Es muß zum Zusammenstoß kommen und man kann nicht helfen, man kann nichts aufhalten. Nun ist es zum Zusammenstoß gekommen. Und dann merken wir, daß wir eben nicht unbeteiligte Beobachter sind, sondern hineinverflochten in Krieg und Leid.

Das verbindet uns mit den ersten Jüngern insofern, als auch für sie die Erfahrung der Heillosigkeit der Welt weithin politisch war. Sie hatten gehofft, Jesus, ihr Herr, würde Gottes Reich so aufrichten, daß ihr Volk Israel von der Fremdherrschaft der Römer befreit wird. Diese Hoffnung in der alten Form ist am Kreuz zerbrochen. Stattdessen spitzte sich der Gegensatz zwischen den frommen Revolutionären im Land und den Römern, der Besatzungsmacht, von Jahrzehnt zu Jahrzehnt zu. Am Ende stand der große Krieg, der mit der Eroberung Jerusalems durch die Römer und der Zerstörung des Tempels endete, ein gutes Menschenalter nach Ostern und Pfingsten. Das ist die Welt, von der Jesus Christus sagt: «In der Welt habt ihr Angst, aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden» (Joh 16, 33).

Daß der Auferstandene letztlich der Sieger ist, erfahren wir durch den Heiligen Geist. Aber wie hilft der Geist uns heute aus Einsamkeit und Hilflosigkeit? Der Herr spricht von einem zweifachen Wirken des Geistes. Er deckt die eigentliche Wahrheit über die Machtverhältnisse in der Welt auf, und er wird die Jünger, die Gläubigen, in alle Wahrheit leiten.

Es heißt, er, der Geist, wird der Welt die Augen auftun über die Sünde und über die Gerechtigkeit und über das Gericht. Dabei geht es zunächst um die Wahrheit des Gerichtsverfahrens gegen Jesus. Er ist als Sünder, als einer, der Gottes Gesetz verachtet, an die Römer ausgeliefert worden. Aber nicht Jesus war der Sünder, es war die Sünde des Volkes, daß sie ihm nicht geglaubt haben. Die Menschen sagten, in jenen Tagen des Passahfestes ist Jesus aus Nazareth die Gerechtigkeit widerfahren, die ihm zusteht oder zustand. Er wurde hingerichtet. Der Apostel Paulus zitiert dazu ein Wort aus dem alttestamentlichen Gesetz: «Verflucht ist, wer am Holze hängt» (Gal 3, 13 nach 5. Mose 21, 23). In Wahrheit ist aber am Kreuz wohl Gottes Gerechtigkeit offenbar geworden, doch darin, daß der Sohn Gottes durch das Kreuz hindurch zum Vater geht.

Sie haben zu Gericht über Jesus gesessen. Alle, die Macht hatten, Führer des eigenen Volkes und der Statthalter Roms. Aber in Wahrheit hat der «Fürst dieser Welt» sein Urteil empfangen. Der Böse und das Böse sind nicht mehr die letzte Macht hinter allen Mächtigen der Welt; der Tod ist überwunden, auch wenn das Sterben weitergeht.

Das sind stolze Worte. Wer ihnen glaubt, wird einen festen Halt in allen Zwangslagen, allen Anfechtungen des Lebens haben. Aber wer bürgt dafür, daß diese Worte gelten, daß sie wahr sind? Das ist beim heiligen Geist nicht anders als bei der Botschaft von der Auferstehung Jesu. Es geht hier um die letzte Wahrheit zwischen Gott und seiner Schöpfung. Da gibt es keinen Beobachter, keinen Richter von außen. Ich kann diese Wahrheit nicht beweisen wie einen naturwissenschaftlichen Lehrsatz. Aber ich kann in ihr und aus ihr leben und werde dann Zeuge dieser Wahrheit sein.

Einer der großen Väter der Alten Kirche, der heilige Atanasius, Bischof von Alexandrien im 4. Jahrhundert, hat auf die Frage nach der Wahrheit der Auferstehung Christi einmal sinngemäß geschrieben, daß der Beweis die Männer und Frauen seien, die in den Zeiten der Verfolgung allen Drohungen und Verführungsversuchen der Mächtigen getrotzt hätten und im Glauben an den Auferstandenen in den Tod gegangen sind. Diese Kette der Zeugen ist nicht abgerissen bis in das 20. Jahrhundert. Besonders aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion gibt es in allen Kirchen solche Zeugen der Wahrheit der Auferstehung Jesu Christi. Das sind auch Zeugen der Anwesenheit des Heiligen Geistes.

Vor einigen Jahren ist mir aus der für Tadschikistan zuständigen deutschen Botschaft in Taschkent von einem Telefongespräch mit einer Frau erzählt worden, die in einem während des Bürgerkrieges völlig zerstörten Dorf ganz allein zurückgeblieben war; nur das Telefon war noch benutzbar. Man wollte ihr helfen, aber die Antwort war: «Ich brauche nichts, ich habe doch alles, noch zu essen und zu trinken, und ich habe das Buch - gemeint war die Heilige Schrift, in der sie täglich las. Das sind Extremsituationen. Aber sie lassen aufleuchten, daß wir mit dem Glauben durch den Heiligen Geist leben können.

4. Ja, wie ist das aber mit den Zwangslagen, in denen wir nicht nur als Opfer Betroffene sind, sondern mitverantwortlich, Mitentscheidende, vielleicht Mittäter? Das stand kaum im Vordergrund des Bewußtseins der ersten Jünger. Aber das andere Wirken des Geistes, von dem die Verheißung Jesu spricht, deckt auch diese Dimension ab: Der Geist der Wahrheit wird euch in alle Wahrheit leiten. Gott stellt uns als einzelne und stellt seine Kirche immer wieder vor neue Situationen, auf die wir nicht vorbereitet sind, die neue Entscheidungen fordern. So geschah das schon bei den Aposteln, als es unerwartet Nichtjuden gab, die zum Glauben kamen und getauft werden wollten. Sollte für sie auch das Gesetz Gottes für Israel in seiner Fülle gelten? Dafür hatte Jesus Christus keine Weisung hinterlassen. Aber auf dem Konzil in Jerusalem haben die Apostel dann beschlossen - wie es in der Apostelgeschichte heißt - «es gefällt dem heiligen Geist und uns, euch weiter keine Last aufzulegen» als einige Speisevorschriften, die Tischgemeinschaft zwischen Juden und Heiden möglich machen soll (Apg 15,28f.).

Auch das sind stolze Worte, aber sie sind auch nüchtern, ja demütig. Denn nur der Heilige Geist gibt die Einsicht, Kraft und Vollmacht zu klären, was jetzt der Wille Jesu ist. Die Wahrheit des Glaubens und die Erfahrung der Kirche gehören zusammen. Das Bindeglied ist der Heilige Geist. Das gilt nicht nur für die großen kirchlichen Entscheidungen, sondern auch für den Weg jedes einzelnen unter uns. Die Zukunft ist uns verhangen und wir verstehen oft nicht einmal die Gegenwart. Wir wissen nicht, welche Herausforderungen und welche Entscheidungszwänge morgen auf uns zukommen werden. Aber wir dürfen im Glauben leben und Schritt für Schritt auf dem Weg gehen, auf den Gott uns gestellt hat, weil uns unser Gott seinen Heiligen Geist verheißen und geschenkt hat, der uns beten lehrt und uns im Namen Jesu geleitet.

Leben aus den Wundertaten Gottes, die wir an Weihnachten und Ostern feiern, das können wir durch die Gabe des Trösters, des Anwaltes, des heiligen Geistes. Deshalb feiern wir Pfingsten. Amen.

Bischof Prof. D. Dr. theol. Georg Kretschmar Bischofskanzlei Petrikirche Newski Pr. 22-24 191186 St. Petersburg/Rußland Tel. 007812 / 311 2423 Fax 007812 / 310 2625 mail:kanzlei@elkras.convey.ru


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