Göttinger Predigten im Internet, hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch


Rogate
9. Mai 1999
Predigttext: Lk. 11,5-13
Verfasserin: Susanne Thiesen

Lukas 11, 5-13

5 Und er sprach zu ihnen: Wenn jemand unter
euch einen Freund hat und ginge zu ihm um Mitternacht
und spräche zu ihm: Lieber Freund, leih mir drei
Brote;
6 denn mein Freund ist zu mir gekommen auf
der Reise, und ich habe nichts, was ich ihm vorsetzen
kann,
7 und der drinnen würde antworten und sprechen:
Mach mir keine Unruhe! Die Tür ist schon zugeschlossen,
und meine Kinder und ich liegen schon zu Bett;
ich kann nicht aufstehen und dir etwas geben.
8 Ich sage euch: Und wenn er schon nicht aufsteht
und ihm etwas gibt, weil er sein Freund ist, dann
wird er doch wegen seines unverschämten Drängens
aufstehen und ihm geben, soviel er bedarf.
9 Und ich sage euch auch: Bittet, so wird euch
gegeben; suchet, so werdet ihr finden; klopfet
an, so wird euch aufgetan.
10 Denn wer da bittet, der empfängt; und wer
da sucht, der findet; und wer da anklopft,
dem wird aufgetan.
11 Wo ist unter euch ein Vater, der seinem
Sohn, wenn der ihn um einen Fisch bittet, eine
Schlange für den Fisch biete?
12 oder der ihm, wenn er um ein Ei bittet,
einen Skorpion dafür biete?
13 Wenn nun ihr, die ihr böse seid, euren Kindern
gute Gaben geben könnt, wieviel mehr wird der Vater
im Himmel den heiligen Geist geben denen, die ihn
bitten!


Liebe Gemeinde,

Diesmal geht der monatliche Ausflug unserer Gemeindegruppe von älteren Menschen in das kleine schleswig-holsteinische Dorf Hollingstedt. Jemand hatte uns den Tip gegeben, daß man im dortigen Schulmuseum anschaulich erleben kann, wie es hier in Norddeutschland um 1900 in der Schule zuging. Wir werden nicht enttäuscht.
"Hefte auf das Pult, Seite aufgeschlagen, aufgestanden, Hände gefaltet zum Gebet!" Unser Museumsführer, der Rektor der heutigen Grundschule, der in liebevoller Sammelarbeit alles rund um`s damalige Schulleben zusammengetragen hat, ist in den typischen Schwalbenschwanz eines Schulmeisters geschlüpft und hält seinen Taktstock hoch. Er macht uns vor, wie Kindern damals das Beten beigebracht wurde. Eine vergangene Welt wird wieder lebendig. Im Chor sprechen alle dem Lehrer nach und selbstverständlich stehen ganz vorne die Bitten für Kaiser und Vaterland. Bei einigen aus unserer Gruppe werden Erinnerungen an die eigene Schulzeit wach: "Ja, genau so einen Pauker hatte ich auch, der hat uns vielleicht ordentlich ins Gebet genommen!"

Lukas berichtet, daß Jesus seine Jünger auf ihre Anfrage hin auch in sein Beten hineinnimmt. Er lehrt sie das Vaterunser.
Beim Beten mit Jesus geht es allerdings völlig anders zu als in der wilhelminischen Gebetsschule. Jesus sagt: "Betet! Vertraut euch Gott an, wie ihr euch dem liebsten Menschen anvertraut. Sagt Gott alles, was euch bedrückt, belastet oder was euch freut. Redet frei! Beim Beten gibt es keinen Zwang und keine Zensur, ihr könnt euch jederzeit aussprechen, ausweinen, sogar einfach ausschweigen. Gott hört euch. Beten heißt, die offene Tür zu Gott in Anspruch nehmen."

Zum tieferen Verstehen des Betens erzählt Jesus seinen Jüngern ein Gleichnis:

"Stellt euch vor, ihr habt einen Freund, zu dem mitten in der Nacht ein Gast kommt. Es ist kein Brot mehr im Haus, so daß euer Freund dem nächtlichem Besucher nichts zu essen geben kann. Der Freund eilt zu einem anderen, ebenfalls befreundeten Nachbarn, klopft an dessen verschlossener Tür. Es ist unangenehm, so spät zu stören, denn das laute Pochen an der Tür könnte alle im Haus,- Menschen und Vieh - wecken. Aber Gastfreundschaft ist eine heilige Pflicht. Deshalb ist es unmöglich, daß der Nachbar nicht öffnet. Selbst wenn das Band der Freundschaft nicht allzu fest sein sollte, kann er sich der Bitte nicht verschließen. Das wäre ungehörig.
Folglich: Wenn schon dieser nächtlich aufgestörte Hausherr, der doch ein Mensch ist, sich auf die dringliche Bitte des Freundes einläßt, wie erst wird Gott, der euer aller Vater, ist, sich ohne Zögern auf euch einlassen? Es steht euch frei, jederzeit mit Vertrauen zu Gott zu gehen. Er ist wie ein guter Vater, der sich über euch freut und gerne mit euch zusammen ist. Gute Väter und Mütter stoßen ihre Kinder nicht weg."

Ist Beten wirklich so kinderleicht? Gott direkt sagen, was mir auf dem Herzen liegt? Dank, Klagen, Zweifel, Ärger, Freude, -eben alles? Manchen Menschen gelingt es, Jesus beim Wort zu nehmen. Ich erinnere mich an Gebetszettel in einer Autobahnkapelle in Österreich. Reisende haben den stillen Raum am Rande der Straße entdeckt und während ihrer Ruhepause kurze Gebete aufgeschrieben:
"Lieber Gott, bitte hilf uns, daß wir ohne Unfall wieder in Köln ankommen!"
"Danke für diesen wunderbaren Ort und die Stille!"
"Lieber Gott, mach, daß endlich wieder Frieden auf dem Balkan wird!"

Kann man das? Angesichts schöner und schwerer persönlicher Ereignisse,
und erst recht angesichts politischer Krisen, die die Weltgemeinschaft an den Abgrund führen und unzählige menschliche Leben zerstören, zu Gott kindlich und vertrauensvoll beten?
Sind solche schlichten Gebete nicht vollkommen unangemessen und naiv?

Beten ist eine lächerliche und absurde menschliche Selbstbeschäftigung, wenn nach unserer Überzeugung eigentlich niemand mehr da ist, den wir anrufen können.
Oder, wenn wir Gott als irgendeine ominöse Größe verstehen, die von oben herab in Supermann-Manier diese Welt zurechtbringt und unsere Wünsche und Vorstellungen erfüllt.

Beten ist eine bewegende, verändernde und heilende Kraft, wenn wir auf Gottes Wirken in allem Lebendigen vertrauen, wenn wir darauf setzen, daß Gott vergibt und neu anfängt, wo wir am Ende unserer Möglichkeiten sind. Wenn wir glauben, daß Gott mit seiner Welt und mit uns solidarisch bleibt.
Dieses Vertrauen können wir nicht herbeizaubern. Es ist auch durch noch so ausgefeilte Meditationsübungen nicht herzustellen.
Jesus sagt: "Betet! Gott schenkt euch dieses Vertrauen, diesen Glauben, ihr werdet ihm im Gebet begegnen. Hört nicht auf zu beten!"

Der chinesische Bischof Ding Guangxun, der uns deutsche Chinareisende bei einem Besuch letzten März in der Volksrepublik freundlich empfing, gibt Jesus recht.
Er erzählte uns von den Jahren der Verfolgung der chinesischen Kirche und seinem persönlichen Lebensweg. Er sagt: "In der Bibel steht ganz klar "Bittet, so wird euch gegeben; suchet, so werdet ihr finden; klopft an, so wird euch aufgetan." - Gott hat uns in den letzten Jahren in China die Tür tatsächlich wieder aufgemacht. Man kann ihm vertrauen, das habe ich in meinem Leben selbst erfahren. Unsere Mutter hat mit mir und meinen Geschwistern viel gebetet. Meistens den 136. Psalm. Sie hat ihn uns vorgelesen und uns beigebracht, immer einzustimmen mit dem Vers: "Denn seine Güte währet ewiglich." Dieser Vers wiederholt sich 26 Mal und das war für uns Kinder zu oft. Wir wollten lieber spielen, so daß sich unsere Mutter Mühe geben mußte, daß wir nicht vor dem "Amen" wegliefen. Später habe ich erkannt, wie sinnvoll diese Gebetsübung war. Als uns während der Kulturrevolution die Roten Garden durch die Straßen trieben, betete ich immer wieder: Denn seine Güte währet ewiglich. Ich fühlte, daß Gott mir und den anderen Christen dieses Wort jetzt zurief. Wir sollten das Vertrauen zu ihm nicht aufgeben. Wir sollten auch nicht vergessen, daß er ebenso die Menschen ändern will, die uns verfolgten. Heute hat Gott unseren Gemeinden einen neuen Frühling gegeben. Heute meine ich, daß unsere Kirche durch diese Zeit der Bedrängnisse gestärkt wurde. Wir sollen Gott immer danken und ihn um alles bitten. Mit Beten ist es leichter, eine schwierige Situation zu akzeptieren."

Bischof Dings Erfahrung mit dem Beten ist beeindruckend. Was aber, wenn ich nicht so beten kann? Wenn ich trotz aller dringlicher Worte den Eindruck habe, gegen eine Wand zu sprechen? Gott hört scheinbar nicht zu und bleibt stumm. Nichts ändert sich. Es auszuhalten, daß Gott schweigt, gehört zu den schwierigsten Erfahrungen des Glaubens.

Was trägt mich durch solche Tiefen? Was hilft mir, wenn ich keine Worte mehr finde? Wichtig ist dann ein Netzwerk von Menschen, die für mich beten. Vertraute Personen, die mich auffangen, die freundschaftlich mitgehen und für mich Worte finden, wenn ich keine mehr habe. Dazu ist die Gemeinde da, sich gegenseitig und andere am Rand des steilen Grabens aufzufangen und festzuhalten.

Als Martin Luthers Tochter Magdalene mit 13 Jahren stirbt, bittet der verzweifelte Vater seinen Freund Justus Jonas in einem bewegenden Trauerbrief, für ihn und seine Frau Katharina jetzt stellvertretend zu beten. Den verlassenen Eltern zur Seite zu stehen und sie mit freundschaftlicher Fürbitte mit durchzutragen. Im Brief an Jonas steht: "Denn tief im Herzen haftet ihr Blick, die Worte und Gebärden der lebenden und sterbenden, und so gehorsamen und sittsamen Tochter, daß nicht einmal der Tod Christi das ganz vertreiben kann, wie es doch sein sollte. Sage Du darum Gott Dank an unserer statt."

Sollte Luther als frommer Mann und gelehrter Theologe nicht eigentlich über diesem Schmerz stehen? Müßte er, der ständig die Geheimnisse Gottes studiert, nicht mit Tod, Trauer und Sinnfragen nicht viel besser umgehen?
Doch er steht am Bett der geliebten Tochter genau wie alle anderen Menschen in solchem Kummer mit leeren Händen da. "Wie kann Gott das zulassen? Warum hat er meine Gebete nicht erhört?" Es gibt keine passenden dogmatischen Lehrbuchantworten auf diese Fragen. Wer die parat hat, betrügt sich selbst und andere.
Es ist nur so, daß man dann einen Freund bittet, daß er einem mit Brot aushelfen möge, sondern frau und man kann auch in der Nacht einen Freund bitten zu beten.

Helfe uns Gott zu diesem Glauben!
Amen

Pastorin Susanne Thiesen,
Spannbrück 4
24409 Stoltebül
Tel. 04642 2922

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