Göttinger Predigten im Internet, hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch


Jubilate
25. April 1999
Predigttext: Joh. 16,16 (17-19) 20-23a
Verfasser: Eberhard Harbsmeier

Liebe Gemeinde!

I

Neulich hatte ich eine heftige Diskussion mit einer Gruppe von kirchlichen Mitarbeitern. Wir diskutierten über Fragen der Seelsorge, wir diskutierten über die Frage, was es eigentlich heißt einen Menschen zu trösten.

"Trost", brach es da aus einem Teilnehmer heraus, "Trost ist immer nur falscher Trost. Hört doch auf, hatte die Teilnehmerin in einem Buch über Seelsorge gelesen, die Leute immer trösten zu wollen. Das ist typisch Pastor. Was die Leute brauchen, ist kein pastoraler Trost, sondern Solidarität, man soll den Leuten nicht ihre Trauer wegnehmen, sondern sie weinen lassen. Das ist doch die eigentliche und erste Hilfe, daß man einem anderen Menschen erlaubt, zu weinen".

"Nun gut", warf ich ein, "es ist ja wichtig, daß man seine Trauer, seinen Schmerz durchlebt. Trauer braucht seine Zeit, Zeit zum Weinen. Aber Weinen an sich, seinen Schmerz zeigen an sich ist doch noch keine Hilfe. Gibt es nicht auch eine Form von Mitgefühl, von Mitleid, die dem anderen nicht hilft, sondern in seinem Schmerz festhält? Gibt es nicht doch einen Trost, der mehr ist als nur sich ausweinen, seine Trauer zeigen? Was heißt denn z.B. ein Kind trösten? Heißt das nicht, Tränen trocknen, heißt Trost nicht auch, nicht mehr zu weinen? Sagt nicht Jesus selbst zur Mutter des Jünglings zu Nain: Weine nicht!"

Damit waren meine Gesprächspartner nicht zufrieden. "Nein, sagten sie, wir wollen von solchem Trost nicht wissen, der Trost muß von innen kommen. In Wirklichkeit ist es eine Anmaßung, einen anderen Menschen 'trösten' zu wollen. Man nimmt dem anderen Menschen damit das Recht zu weinen, das Recht zur Trauer".

"Gut" antworte ich, "ich gebe zu, daß es falschen Trost gibt, daß es Leid gibt, angesichts dessen jede Rede von Trost sich verbietet. Es gibt Situationen, in denen man von Trost nichts wissen will, sich nicht trösten lassen will. Rahel, heißt es in der Geschichte vom Kindesmord in Bethlehem, weinte um ihre Kinder und wollte sich nicht trösten lassen. Wir kennen diese Bilder auch aus unseren Tagen, wir haben das gefühl: Hier ist jedes 'tröstende' Wort fehl am Platz. Aber: Gibt es nicht auch falsches Mitleid, falsches Mitgefühl, ein Mitleid, das den anderen in seinem Leid festhält? Es gibt ein Weinen, das befreiend wirkt, aber auch ein Weinen, das lähmt und einen Menschen im Keller der Hoffnungslosigkeit gefangen hält. Ist es nicht eine sentimentale Verfälschung von Tränen, wenn man Weinen zu etwas umdeutet, das im Grunde gut tut und hilft?".

II

Liebe Gemeinde, man könnte diese Diskussion ins Unendliche fortführen, eine der Diskussionen, bei denen man oft das Gefühl hat, daß beide Seiten Recht haben. Lachen und Weinen, Trauer und Trost liegen oft dicht beieinander, so wie auch der Predigttext dieses Sonntags von Freude redet und von Traurigkeit. Beides sind Gegensätze, Welten liegen zwischen Freude und Traurigkeit - und beides liegt dennoch eng beieinander. Ein Mensch, der keine Traurigkeit kennt, keinen Schmerz, ein Mensch, der nicht empfindlich und sensibel ist für das Leiden - ein solcher Mensch kennt vermutlich auch keine echte Freude. Freude und Leid sind eng miteinander verwandt, heißt es in einem dänischen Kirchenlied, das eine kann nicht ohne das andere sein. Wenn wir unser Leben narkotisieren, uns gegen alles Leid abschotten und versichern - dann wird unser Leben freudlos und gleichgültig.

Weinen und Trost - ich denke, daß beides seine Zeit hat. "Über ein kleines" - heißt es im Evangelium, ich denke, daß wir in der Diskussion um echten und falschen Trost, um echtes und falsches Mitleid, oft diesen Zeitfaktor übersehen. Jesus spricht von diesem Zeitfaktor in einer Abschiedssituation, eine Situation, die wir alle kennen: Scheiden tut weh, ein Abschied, ein endgültiger zumal, tut weh. Nur wer sich diesem Schmerz aussetzt, kennt auch die Freude des Wiedersehens, nur wer den Schmerz des endgültigen Abschieds kennt, weiß auch von der Freude, die niemand von uns nehmen kann.

III

Vor über fünfzig Jahren, zum selben Zeitpunkt als ich selbst geboren wurde, schrieb Dietrich Bonhoeffer aus dem Gefängnis am Heiligabend 1943: "Es gibt nichts, was uns die Abwesenheit eines lieben Menschen ersetzen kann und man soll das auch gar nicht versuchen; man muß es einfach aushalten und durchhalten; das klingt zunächst sehr hart, aber es ist doch zugleich ein großer Trost; denn indem die Lücke wirklich unausgefüllt bleibt, bleibt man durch sie miteinander verbunden. Es ist verkehrt, wenn man sagt, Gott füllt die Lücke aus; er füllt sie gar nicht aus, sondern er hält sie vielmehr gerade unausgefüllt und hilft uns dadurch, unsere alte Gemeinschaft miteinander - wenn auch unter Schmerzen - zu bewahren. Ferner: je schöner und voller die Erinnerung, desto schwerer ist die Trennung. Aber die Dankbarkeit verwandelt die Qual der Erinnerung in eine stille Freude. Man trägt das vergangene Schöne nicht wie einen Stachel, sondern wie ein kostbares Geschenk in sich".

"...und eure Freude soll niemand von euch nehmen", heißt es im Evangelium. Es gibt Freude, Lebenslust, die uns genommen werden können. Weil es sich um oberflächliche Freude handelt, eine Freude, die nur davon lebt, daß sie die Schattenseiten des Lebens nicht wahrhaben will: Wir verdrängen das Leid - unser eigenes, das Leid anderer. Wir beteuern einander und uns selbst, daß es uns angeblich "gut geht" - aber wir wissen, daß das nicht wahr ist, daß wir in einer Illusion leben. Aber es gibt eine Freude, die niemand von uns nehmen kann, eine Freude, die das Leid nicht verschweigt, nicht verdrängt, sondern durch das Leid hindurchgegangen ist. Von dieser Freude spricht Jesus, vom echten Trost. Nicht dem Trost, der das Leiden nicht ernst nimmt oder bagatellisiert, sondern dem Trost, der das Leiden ernst nimmt, durch es hindurchgegangen ist.

Wir sind in diesen tagen Zeugen von viel Leid, Leid das uns nahe geht, aber auch Leid, das uns eigenartig fern ist. Wir erleben es nur durch die Medien, und man kann sich fragen, ob nicht viel falsches Mitleid mit im Spiel ist, ein unverpfichtendes Mitleid. Ich las von einem Dorf in Albanien mit 2.000 Einwohnern, dort sind 2.000 Flüchtlinge untergekommen - in privaten Familien. In Dänemark, wo ich lebe, diskutieret man die Aufnahme von 1.400 Flüchtlingen - in Lagern natürlich. Wie echt, frage ich mich, ist eigentlich unser Mitgefühl und unser Mitleid?

Ist es nicht so, daß nur der, der von der unverlierbaren freude weiß, von dem echten Trost, auch echtes Mitleid zeigen kann? Nur wer von der Freude weiß, die uns niemand nehmen kann, kann auch Leiden ernst nehmen - ohne zu verdrängen, ohne zu bagatellisieren. Nur der, der vom Trost weiß, kann auch echte Traurigkeit zeigen: "Und auch ihr habt nun Traurigkeit, aber ich will euch wiedersehen, und euer Herz soll sich freuen, und eure Freude soll niemand von Euch nehmen". Amen.

Rektor Eberhard Harbsmeier
Folkekirkens Pædagogiske Institut
Kirke Allé 2
DK-6240 Løgumkloster
Dänemark
Tel.: ++45 74 74 32 13
e-mail: ebh@km.dk


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