Göttinger Predigten
im Internet, hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch
Manche Dinge ändern sich wohl nie. Das war mein erster
Gedanke, als ich die Kritik dieses Bibelabschnitts an den
Hirten Israels gelesen habe. Natürlich wäre es
ungerecht, wenn man die Vorwürfe pauschal auf Männer
und Frauen überträgt, die in Politik, Wirtschaft oder
Kirche führende Positionen bekleiden. Viele von ihnen
sind sich ihrer Verantwortung bewußt. Sie wollen ihre
Aufgaben nach bestem Wissen und Gewissen erfüllen. Aber
für andere treffen jene beiden Vorwürfe zu, die gegen
die Hirten Israels erhoben werden. Der erste lautet: Ihr
lebt von der Herde, aber ihr weidet sie nicht. Die Hirten
werden nicht kritisiert, weil sie sich von der Herde
nähren und kleiden. Das ist ihr gutes Recht. Der Neid
gegen "die da oben" liegt unserem Predigttext
fern. In ihm werden den führenden Leuten ihr Einkommen
und einige andere Vorteile, die sie durch ihr Amt haben,
gegönnt. Kritisiert wird vielmehr, daß sie nur auf das
Einkommen und die Vorteile sehen, die mit ihrer
führenden Stellung verbunden sind. Solche Hirten gibt es
wohl noch heute. Gelegentlich entscheiden sich ein Mann
oder eine Frau für eine politische Tätigkeit, weil sie
für sie ein höheres Gehalt bekommen als in ihrem Beruf.
Vielleicht wollen sie in Presse und Fernsehen erwähnt
werden, damit sie sich als bedeutende Persönlichkeiten
fühlen können. Dann verfolgen sie mit ihrer politischen
Arbeit lediglich das Ziel, eigene Wünsche zu
befriedigen. Politik wird von ihnen nicht mehr als
Aufgabe begriffen, die Gemeinschaft zu fördern und
dafür zu sorgen, daß in ihr jeder seinen Platz findet.
Diese Verpflichtung ist aber mit einer politischen
Funktion untrennbar verbunden. Das wollten freilich auch
jene Hirten Israels nicht wahrhaben. Deshalb wird ihnen
in unserem Bibelabschnitt als zweites vorgeworfen, daß
sie sich nicht um Menschen in Not kümmerten, wie es ihre
Aufgabe gewesen wäre. Ja, sie unterdrückten sogar die
Starken, die nicht auf ihre Fürsorge angewiesen waren.
Es ging ihnen eben nur um ihren Gewinn und um ihre Macht.
In unserem Predigttext wird von den Führern Israels ein
erbärmliches Bild gezeichnet. Jeder Staat nimmt großen
Schaden, wenn die Leute in führender Position so
kläglich versagen. Aber Israel war nicht irgendein Volk.
Gott hatte sich dieses Volk erwählt und ihm sein Land
gegeben. Seine Führer sollten dafür sorgen, daß Israel
als Gottesvolk in diesem Land lebte. Mit ihrem Versagen
haben die Hirten Israels nicht nur einen Staat ruiniert,
sondern das Gottesvolk. Durch ihr Verhalten mußten viele
Israeliten das Land verlassen, das Gott Israel gegeben
hatte. Sie lebten nun in anderen Ländern, in denen die
Menschen ihre eigene Religion hatten, und Fremde
herrschten über sie.
Doch Gott will sein Volk nicht aufgeben. Er kündigt in
unserem Predigttext an, daß er die versprengten
Israeliten in ihr Land zurückbringen will und daß er
selbst jene Aufgaben übernehmen wird, an denen die
Führer Israels versagt haben. Diese Verheißung ist mit
Jesus Christus Wirklichkeit geworden. Allerdings hat sie
Gott mit ihm auf andere Weise erfüllt, als es in unserem
Predigttext angekündigt wird. Noch heute leben ja Juden
in vielen Ländern. Es wird wahrscheinlich nie dazu
kommen, daß alle Juden in dem Staat Israel vereinigt
sind. Dieses Land ist zudem nicht gerade eine fette
Weide. Die Menschen müssen auch dort für ihren
Lebensunterhalt hart arbeiten. Wie für alle
Verheißungen des Alten Testaments gilt auch für unseren
Predigttext: Gott hält an seinen Zusagen fest, aber er
behält sich vor, wie er sie erfüllt. Mit Jesus ist Gott
über die Verheißungen unseres Predigttextes sogar
hinausgegangen, denn Jesus ist nicht nur für jene
Menschen, die von dem alttestamentlichen Gottesvolk
abstammen, der gute Hirte, sondern für Juden und
Nichtjuden. Für sie alle gab er sein Leben am Kreuz
dahin. Darin unterscheidet er sich von jenen Hirten
Israels, die nur auf ihren eigenen Vorteil bedacht waren.
Gerade in seinem Sterben erwies er sich als der gute
Hirte. Weil Jesus auferstanden ist, erfüllt er auch
heute die Zusagen Gottes in unserem Predigttext:
"Ich will das Verlorene wieder suchen und das
Verirrte zurückbringen und das Verwundete verbinden und
das Schwache stärken und, was fett und stark ist,
behüten; ich will sie weiden, wie es recht ist" (V.
16).
Jesus sucht das Verlorene und bringt das Verirrte
zurück. Das hat er beispielhaft an seinem Umgang mit
Zöllnern und Sündern gezeigt. Sie waren ihre eigenen
Wege gegangen und hatten sich nicht um Gott gekümmert.
An der Gemeinschaft, die ihnen Jesus gewährte, erfuhren
sie, daß selbst ihnen Gott nicht fern ist. Dadurch haben
sie ihre Einstellung geändert. Das geschieht auch noch
heute, wenn Jesus in das Leben eines Menschen tritt. Es
gibt nicht nur Christen, die in diesem Glauben erzogen
wurden und an ihm durch ihr Leben hindurch festhalten.
Mancher wurde erst ein Christ, nachdem er sich lange
nicht für Gott interessiert hatte oder Anhänger einer
anderen Religion gewesen war. Jesus legt Menschen nicht
auf das fest, was sie sind. Er schreibt keinen ab. Das
ist gut zu wissen, weil niemand für seinen christlichen
Glauben eine Garantie übernehmen kann. Wir beschreiten
in unserem Leben mancherlei Irrwege. So kann es auch
sein, daß wir uns mit unserer Lebenseinstellung einmal
verrennen. Weil Jesus das Verlorene sucht, dürfen wir
darauf vertrauen, daß Jesus uns auch dann auf den
richtigen Weg zurückbringen wird.
Jesus verbindet das Verwundete und stärkt das Schwache.
Alle Menschen wären gerne gesund und stark. Wer gesund
ist, hat meist davor Angst, daß er einmal so krank
werden könnte, daß er für den Rest seines Lebens auf
fremde Hilfe angewiesen ist. Wie oft hört man: "Die
Gesundheit ist doch die Hauptsache". Aber keiner
weiß, ob nicht auch er einmal zu einem Pflegefall werden
wird. Jesus garantiert uns nicht Gesundheit. Aber er wird
uns unterstützen, wenn wir schwach und elend sind.
Vielen Menschen hat schon ein Bibelwort oder der Gedanke
an Jesus dazu verholfen, daß sie eine schwere Krankheit
ertragen konnten. Vielleicht haben Sie das schon bei sich
selbst erlebt oder bei anderen beobachtet. Jesus
verbindet auch Wunden, die das Leben schlägt. Man sagt
oft: "Die Zeit heilt Wunden". Aber manche
Wunden werden durch die Zeit nicht geheilt, sondern sie
bereiten nur weniger Schmerzen. Ich denke z.B. an Eltern,
die ein Kind ins Grab legen mußten. Das bleibt für die
meisten Mütter und Väter noch nach Jahrzehnten
schmerzlich. Sie fragen sich immer wieder: Warum? Wenn
sie sich bei Jesus geborgen wissen, wird diese Frage wohl
nicht verstummen, aber sie können mit ihr leben. Ihnen
bleibt es erspart, sich damit zu quälen, ob sie wirklich
alles getan haben, um den Tod des Kindes zu vermeiden.
Dieses Beispiel soll hier für die verschiedenen Wunden
stehen, die das Leben schlagen kann.
Jesus behütet, was fett und stark ist. Als unser
Bibelabschnitt niedergeschrieben wurde, konnten auch
gesunde und kräftige Schafe ohne einen Hirten nicht
überleben. Sie wurden sonst entweder von einem wilden
Tier gefressen oder sie verirrten sich in unwegsamen
Gelände und gingen elend zugrunde. Auch Menschen, die im
Augenblick keine Probleme haben, sind darauf angewiesen,
daß Jesus sie behütet. Man kann zwar immer wieder
hören: "Der christliche Glaube ist nur etwas für
schwache Leute. Ich bin dagegen stark und meistere mein
Leben selbst." Aber wer ohne Jesus leben will, den
wird der Tod fressen. Er hat keine Hoffnung, die über
das Ende seines irdischen Lebens hinausreicht. Das ist
schade, denn Jesus hat zugesagt, daß er seinen Schafen
das ewige Leben bei Gott geben wird. Dafür ist er
gestorben und auferstanden. Durch ihn hat unser Leben ein
Ziel jenseits des Todes. Wir stehen freilich in der
Gefahr, daß wir dieses Ziel aus den Augen verlieren.
Unsere Gedanken werden gelegentlich von den Problemen und
Anforderungen des Tages völlig beherrscht. In unserem
pluralistischem Zeitalter stoßen wir zudem auf
zahlreiche Weltanschauungen und Religionen. Sie können
die Aufmerksamkeit so stark auf sich ziehen, daß
Menschen richtungslos hin und her pendeln. Wir sind
darauf angewiesen, daß uns Jesus immer wieder das ewige
Leben als Ziel vor Augen stellt, damit wir nicht die
Orientierung verlieren.
Mit der Zusage, daß er uns das ewige Leben geben wird,
geht Jesus weit über die Ankündigungen in unserem
Predigttext hinaus, daß Gott die zerstreuten Schafe
sammeln und zu einer fetten Weide führen wird, denn das
ewige Leben wird hier den Schafen nicht verheißen. Durch
Jesus erhalten diese Ankündigungen einen neuen Sinn.
Christen leben in der Welt unter Menschen mit anderen
Religionen und Weltanschauungen. Man kann auf sie auch
schwerlich schon das Bild von den Schafen, die auf einer
fetten Weide grasen, übertragen. Ihr Leben gleicht oft
eher einem Weg durch die Wüste. Doch dieser Zustand wird
sich ändern. In dem ewigen Leben werden Christen aus den
verschiedenen Völkern und Ländern, ja sogar aus den
unterschiedlichen Zeiten beisammen sein und gemeinsam
Gott loben, weil Not und Tod ausgelöscht sind. Dann wird
sichtbar werden, daß Christen tatsächlich eine Herde
sind und einen Hirten haben.
Amen.
Liedvorschläge:
EG 347 Ach bleib mit deiner Gnade
EG 380 Ja, ich will euch tragen
EG 274 Der Herr ist mein getreuer Hirt (Wochenlied)
Verfasser: Prof. Dr. Ludwig Schmidt, Karmelitenstraße
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Dienstlich:
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