Göttinger Predigten im Internet, hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch


Ostermontag
5. April 1999
Predigttext: Lukas 24, 13-35
Verfasser: Prof. Dr. Oswald Bayer

Die Gegenwart des Auferstandenen

Der Evangelist Lukas hat sein Evangelium geschrieben, um die große Freude zu erzählen, die uns allen zuteil werden soll und zugesagt ist. Am Ende dieses Evangeliums der großen Freude steht die Ostergeschichte, die uns heute in sich hineinnehmen will:

13Und siehe, zwei von ihnen gingen an demselben Tage in ein Dorf, das war von Jerusalem etwa zwei Wegstunden entfernt; dessen Name ist Emmaus. 14Und sie redeten miteinander von allen diesen Geschichten. 15Und es geschah, als sie so redeten und sich miteinander besprachen, da nahte sich Jesus selbst und ging mit ihnen. 16Aber ihre Augen wurden gehalten, daß sie ihn nicht erkannten. 17Er sprach aber zu ihnen: Was sind das für Dinge, die ihr miteinander verhandelt unterwegs? Da blieben sie traurig stehen. 18Und der eine, mit Namen Kleopas, antwortete und sprach zu ihm: Bist du der einzige unter den Fremden in Jerusalem, der nicht weiß, was in diesen Tagen dort geschehen ist? 19Und er sprach zu ihnen: Was denn? Sie aber sprachen zu ihm: Das mit Jesus von Nazareth, der ein Prophet war, mächtig in Taten und Worten vor Gott und allem Volk; 20wie ihn unsre Hohenpriester und Oberen zur Todesstrafe überantwortet und gekreuzigt haben. 21Wir aber hofften, er sei es, der Israel erlösen werde. Und über das alles ist heute der dritte Tag, daß dies geschehen ist. 22Auch haben uns erschreckt einige Frauen aus unserer Mitte, die sind früh bei dem Grab gewesen, 23haben seinen Leib nicht gefunden, kommen und sagen, sie haben eine Erscheinung von Engeln gesehen, die sagen, er lebe. 24Und einige von uns gingen hin zum Grab und fanden’s so, wie die Frauen sagten, aber ihn sahen sie nicht.25Und er sprach zu ihnen: O, ihr Toren, zu trägen Herzens, all dem zu glauben, was die Propheten geredet haben! 26Mußte nicht Christus dies erleiden und in seine Herrlichkeit eingehen? 27Und er fing an bei Mose und allen Propheten und legte ihnen aus, was in der ganzen Schrift von ihm gesagt war. 28Und sie kamen nahe an das Dorf, wo sie hingingen. Und er stellte sich, als wollte er weitergehen. 29Und sie nötigten ihn und sprachen: Bleibe bei uns; denn es will Abend werden, und der Tag hat sich geneigt. Und er ging hinein, bei ihnen zu bleiben. 30Und es geschah, als er mit ihnen zu Tisch saß, nahm er das Brot, dankte, brach’s und gab’s ihnen. 31Da wurden ihre Augen geöffnet, und sie erkannten ihn. Und er verschwand vor ihnen. 32Und sie sprachen untereinander: Brannte nicht unser Herz in uns, als er mit uns redete auf dem Wege und uns die Schrift öffnete? 33Und sie standen auf zu derselben Stunde, kehrten zurück nach Jerusalem und fanden die Elf versammelt und die bei ihnen waren; 34die sprachen: Der Herr ist wahrhaftig auferstanden und Simon erschienen. 35Und sie erzählten ihnen, was auf dem Wege geschehen war und wie er von ihnen erkannt wurde, als er das Brot brach.

Da sind zwei auf dem Wege. Sie wollen weg aus dem Elend in Jerusalem, wo Jesus am Schandpfahl starb; sie wollen weg von Jerusalem, dem Ort ihrer enttäuschten Hoffnung; sie wollen weg vom Ort des Todes. Sie sind traurig; sie haben sich mit der Enttäuschung, die sie mit Jesu Tod traf, noch nicht abgefunden. Sie reden miteinander über ihre verlorenen Hoffnungen und den Verlust dieser Hoffnungen durch den Tod. Sie suchen grübelnd nach einem Sinn dieses Todes, finden aber keinen. Jesu Hinrichtung hat sie enttäuscht, Jesu Ohnmacht am Kreuz ihre ganze Hoffnung zerschlagen, die sie in ihn gesetzt hatten: "Wir aber hofften, er sei es, der Israel erlösen werde", daß er — gewaltig in Wort und Tat — uns helfe! Aber nun....

"Wir aber hofften ..." Kennen wir das nicht auch? Wir aber hofften, Jesus werde unsere Erwartungen, die wir in ihn gesetzt haben, erfüllen. Er werde unser Kind nicht in schlechte Gesellschaft geraten lassen, er werde die Krankheit von uns nehmen, er werde uns vor diesem Einbruch des Todes in unsere Familie retten, er werde die Ungerechtigkeit in der Welt besiegen und die Unterdrückten befreien: Wir aber hofften ...

Wir kennen diese Stunden in unserem Leben, in denen wir, enttäuscht und traurig, nicht anders dran waren oder dran sind als diese beiden Emmausjünger, die als in ihren Hoffnungen gescheiterte Leute in tiefer Enttäuschung sich von den übrigen Jüngern, sich von der Gemeinde abwenden, weggehen. Das schmerzt: eine große Hoffnung ins Grab sinken zu sehen. Und man grübelt über den Verlust; man sinniert.

Daß man dies zu zweit tut, im Hin und Her des Gespräches, macht nichts besser. Man bleibt immer am Gleichen hängen, über das man nicht hinwegkommt: Es ist alles unfaßlich, sinnlos.

Da geschieht es, daß sich ein Dritter hinzugesellt, ein Unbekannter, der mitgeht. Die beiden wissen nicht, daß es niemand anderes als Jesus selbst ist, der mit ihnen geht. Kein Aufsehen erregendes Wunder geschieht, nichts, was Schaulustige hätte anziehen und beeindrucken können. Etwas ganz und gar Alltägliches scheint zu geschehen und ist doch ganz und gar nicht selbstverständlich. Jesus läßt die nicht allein, deren Hoffnung ins Grab gesunken ist und die sich nun traurig von ihm abwenden, weil er ihnen ja nicht geholfen hat. Jesus kommt zu ihnen, ist bei ihnen, begleitet sie, hört sie, wenn sie um ihre verlorene Hoffnung klagen. Er ist bei ihnen, auch wenn sie das nicht merken oder merken wollen: bei ihnen, gerade in der dunklen Stunde, in der ihnen die Hoffnung genommen und nichts mehr klar ist, in der sie traurig und enttäuscht sind.

Hören wir das? Vernehmen wir das, daß Jesus uns nachgeht und mit uns geht, auch wenn wir von ihm weggehen, weil wir an seinem Kreuz irre geworden sind, Gottes Nähe in unserem Leben nicht mehr glauben können und fragen: Was soll denn Gottes Nähe und Herrlichkeit mit Jesu Leiden und Sterben zu tun haben? Was Gottes Macht mit Jesu Ohnmacht? Was Gottes Rettung mit Jesu Scheitern?

Wenn wir so fragen, sind wir auf dem Holzweg. Aber auf ihm, Gott sei Dank, nicht allein. Jesus geht auch auf dem Holzweg mit, aber nicht, um uns auf dem Holzweg zu lassen, sondern um uns auf den rechten Weg zu bringen. Dazu muß er sich unserem Denken und unseren Vorstellungen hart in den Weg stellen, harte Worte mit uns reden. Mit weichen Worten würde er uns aus unserer Enttäuschung und Traurigkeit nicht herausbringen. "O ihr Toren, zu trägen Herzens, all dem zu glauben, was die Propheten geredet haben! Mußte nicht Christus dies erleiden und in seine Herrlichkeit eingehen? Und er fing an bei Mose und allen Propheten und legte ihnen aus, was in der ganzen Schrift von ihm gesagt war."

Soll darin, in der Schriftauslegung, die neue Welt, die Welt des von den Toten Auferweckten erscheinen?

Als sei nichts Wichtigeres denkbar, treibt er mit den beiden Enttäuschten und Traurigen - Bibelauslegung! Die vordringlichste Sorge des Auferstandenen ist, daß das alte Testament nicht verschlossen bleibt, sondern seiner Gemeinde ein geöffnetes Buch werde. Wir sollen uns über Jesus von Nazareth nicht einfach so, gleichsam frei-schwebend, unsere Gedanken machen. Denn auf diese Weise werden wir über sein Leben und Sterben keine Klarheit erlangen. Wir würden dann, wie die beiden auf dem Wege, vielleicht sagen können: "Jesus von Nazareth war ein Prophet, ein geistesgewaltiger, geistesgegenwärtiger Mann, mächtig von Taten und Worten, ein großer Mensch, ein guter und einfallsreicher Prediger und Weisheitslehrer, dazu einer, der seine menschenfreundliche Gesinnung auch lebte und sich den Einsatz für andere sein Leben kosten ließ." Werden wir, wenn wir uns auf diese Weise unsere Gedanken über Jesus machen anders reden können? Was aber ist dann Jesu Leiden und Sterben, sein Tod am Kreuz? Ein Justizirrtum und darum bedauerlich? Ein Mißverständnis? Ein Heldentod, den man vielleicht bewundert oder, im besten Falle, für vorbildlich hät: Hier ist einer für seine Sache gestorben; das ist aller Ehre wert? Oder ist dieser Tod das Ende aller Hoffnung auf die Rettung Israels, das Ende aller Hoffnung auf eine durchgreifende Erneuerung unseres Lebens. Jesus - ja damals, zu seinen Lebzeiten, hat er Menschen geholfen. Aber mit seinem Tod und seit seinem Tod ist das aus! Wir werden allein zurechtkommen müssen, irgendwie, fern von Jerusalem, fern des Ortes, an dem sein Kreuz steht, an dem alle Hoffnung zerbrach.

Ihr Toren, sagt da der Auferstandene, seid ihr so unbeweglich und verblendet, daß ihr nicht seht und erkennt, worauf die Geschichte Gottes mit den Menschen von Urbeginn an hinauswill, erkennt ihr nicht, was der große Gott euch traurigen und enttäuschten Menschen sein will: Nahe will er euch sein! Nahe, im alltäglichen, in deinem Schmerz und in deiner Trauer, in deiner Todesnot, in deinem Leben und Sterben, über das der Gang der großen Geschichte, über das die Weltgeschichte hinweggeht, unbekümmert um das Leben des Einzelnen, teilnahmslos, stumm.

Gott aber, der Nahe, dir bis in den Tod hinein und durch ihn hindurch nahe, ist kein stummes Schicksal, in das man sich eben schicken müßte. Er ist nicht teilnahmslos, sondern nimmt teil: gerade an unserer Enttäuschung, an unserem Leid, an unserem Tod. Nur durch seine Teilnahme an unserem Leiden und an unserem Tod kann er uns verstehen und helfen - nicht dadurch, daß er unberührt von alledem in lichten Höhen drüber schwebt, so wie sich die Griechen ihre Götter heiter auf den Olymp dachten. Es stimmt nicht, was der Dichter sagt: "Droben, überm Sternenzelt muß ein guter Vater wohnen!" Nein. Gott hat seine himmlische Herrlichkeit ein für allemal an das irdische Leiden und Sterben Jesus - hier unten! - gebunden. Das Kreuz Jesu ist kein Unfall, kein Zufall, kein Justizirrtum, auch kein Heldentode, sondern nichts anderes als die Erfüllung und Bekundung des Willens Gottes: "So tief komme ich zu euch herunter, um euch ganz nahe zu sein. Ihr müßt euch nun nicht zu großen Gedanken über mich aufschwingen, sondern sollt und dürft meine Nähe im Irdischen, Kreatürlichen und gerade im Leiden glauben!" "Mußte nicht Christus solches leiden..." Gottes freies Müssen! Es ist der ewige und endgültige Wille Gottes, sich und seine Herrlichkeit in den Tod Jesu zu binden und sich dort finden zu lassen, wo man diesen Tod vom alten Testament her versteht, von den Klage-Erhörungspsalmen, wie Psalm 22 ("Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?"), von dem großen Gottesknechtslied des zweiten Jesajabuches (Jesaja 53), das wir vorher als Schriftlesung gehört haben, und so fort. Suchet in der Schrift, sagt der Auferstandene, denn sie ist es, die von mir Zeugnis ablegt, durch die ihr versteht, wer ich bin und was ich euch bin!

Aber: Es mag uns so gehen wie den beiden Emmaus-Jüngern: daß uns der Auferstandene - durch den Mund eines Menschen, der uns auf unserem Wege begleitet - zwar die Bibel auslegt, aber wir immer noch nichts merken. Es mag sein, daß uns viele: Eltern, Großeltern, Lehrer und Pfarrer und welche Menschen auch immer, die uns auf unserem Lebensweg begegneten, die Bibel auslegten, wir jedoch dabei die alten bleiben, vielleicht etwas ahnen, etwas spüren, neugierig werden, mehr davon hören wollen, aber uns keineswegs ändern, ganz die alten bleiben, die aus ihren enttäuschten Hoffnungen nicht herauskommen, unbeweglich an ihnen festkleben und ihnen, vielleicht hartnäckig und eigensinnig, nachtrauern.

Der uns nicht alleinlassende, der uns auch, wenn wir es nicht wissen, begleitende Auferstandene hat dann nur noch ein Mittel, uns zur Räson, nein, zum Glauben und Danken zu bringen: "Und er ging hinein, bei ihnen zu bleiben." Er geht zu ihnen hinein - in ihr Haus, in ihre Stube, dorthin, wo sie wohnen, wo sie essen. Er kommt dorthin, wo wir das miteinander besprechen, was uns jeden Tag beschäftigt, dorthin, wo wir uns vielleicht ein böses Wort sagen, nichts mehr miteinander reden, dorthin, in die Stube, kommt er. "Und es geschah, als er mit ihnen zu Tische saß, nahm er das Brot, dankte, brach’s und gab’s ihnen."

"Da wurden ihre Augen geöffnet, und sie erkannten ihn." Dort, wo das vergebende Wort gesprochen wird, dort, wo man für das tägliche Brot, wo man für Essen und Trinken, Haus und Hof, Frau und Kind, die Nachbarn und Freunde dankt, sie als Gottes Gabe liebt und ehrt: In diesem Alltäglichen, das so ganz und gar nicht selbstverständlich ist, öffnet uns der Auferstandene die Augen. Und wir sehen, daß unser Leben ein Wunder ist, daß es ein Wunder ist, daß wir Arbeit, daß wir ein Dach über dem Kopf haben, Menschen, mit denen wir reden können und die uns verstehen und die uns, im Namen Jesu, sowohl die Lebensangst wie die Todesfurcht vertreiben. Daß uns dieses Wunder doch heute an Ostern neu aufgehe! Dann geht uns das Osterlicht auf. Dann fliehen wir nicht mehr weg von Jerusalem, weg vom Kreuz, sondern gehen wieder zurück zur Gemeinde, in deren Mitte vom Kreuz geredet wird: Wir gehen nicht mehr weg, sondern gehen wieder zurück - und zwar, wie Lukas sein Evangelium abschließt, mit großer Freude. Vielleicht sind wir heute von dieser - äußerlich gesehen - stillen und verhaltenen Ostererzählung ein bißchen enttäuscht? Aber ist es denn nicht ein Wunder, wenn uns in unserer Welt, in unserem Alltag die Augen aufgehen und wir Jesus erkennen und dabei froh werden?

Vielleicht fängt das neue Leben, das Osterleben, bei uns so an, daß wir, wenn bei uns zu Hause das Tischgebet verstummt ist, gleich heute mittag wieder damit anfangen, zu Tisch zu beten und damit vor Gott, vor unserer Frau und unseren Kindern eingestehen, daß wir nicht vom Brot allein leben, sondern vom vergebenden Wort. Es geht ja nicht darum, daß wir einmal oder zweimal im Jahr feierlich zum Abendmahl gehen und es vom alltäglichen Essen und Trinken abschirmen, sondern darum, dem Abendmahl die falsche Feierlichkeit und Besonderheit zu nehmen und das, was wir dort hören, in die Alltäglichkeit hineinsprechen und dort mitsprechen zu lassen. Ich weiß dafür keinen besseren Ort, keine besondere Gelegenheit als das Tischgebet: "Komm, Herr Jesu, sei unser Gast!" Oder - und darin faßt sich unser ganzer Glaube zusammen: "Zwei Dinge, Herr, sind not, die gib nach deiner Huld: Gib uns das täglich Brot, vergib uns unsere Schuld!"


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