Göttinger Predigten im Internet, hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch


Sonntag Judika
Datum: 21. März 1999
Predigttext: Genesis 22, 1-13
Verfasserin: Doris Gräb

Vorüberlegungen zur Predigt über Gen 22, 1-13:

In meinen exegetischen Überlegungen zu Gen 22, 1-13 schließe ich mich weitgehend dem Urteil G.v.Rads an: Es sei "die formvollendetste und abgründigste aller Väterschichten" (G.v.Rad, Das erste Buch Mose, Genesis, 8.Auflage Göttingen 1967, S.203ff). Lange Zeit hatte sie "ihre Existenz für sich, ehe sie ihren Ort in dem großen Erzählungswerk des Elohisten gefunden hat" (aaO S. 203).
Viele Sinnschichten hat die Erzählung, entsprechend viele Auslegungsmöglichkeiten bieten sich an und sind in der langen Tradition auch zur Sprache gekommen: von der Abscheu angesichts des unerbittlichen Gehorsams Abrahams (einer der schlagkräftigen Beweise für die "Gottesvergiftung") - über den Gedanken der Versuchung - bis hin zu den Überlegungen, daß mit dieser Geschichte die Abkehr vom Menschen- hin zum Tieropfer dokumentiert werden solle, reicht die Bandbreite der möglichen Auslegungen.
Ich entscheide mich, wiederum in den Spuren G.v.Rads, für den Gedanken von Abrahams Weg in die Gottverlassenheit als Predigtthema.
Sowohl meine homiletische Situation im Klinikum wie auch der Sonntag Judika als 5.Sonntag der Passionszeit legen dieses nahe.
Indem ich in meinen Gedanken den Weg Abrahams mitgehe, möchte ich meine Hörerinnen und Hörer an ihre Wege in die Gottverlassenheit erinnern. Ich möchte diese Wege mit ihnen nach-gehen. Ich möchte ihre Gedanken und Gefühle nachempfinden und zur Sprache bringen. Ich möchte ihnen helfen, auf diesem Weg - und auf den künftigen Wegen - die Spuren von Engeln - leise Zeichen des Trostes - zu entdecken und freizulegen.


Predigt über Gen 22, 1-13

Liebe Gemeinde!
Ob uns diese Geschichte noch zugemutet werden kann, frage ich mich. Und ich bin dabei gewiß nicht die einzige, die da ins Zweifeln gerät.
Ein Vater, der sein Kind zu opfern bereit ist. Sein einziges, lange erwartetes, so sehr ersehntes Kind.
Furchtbar - abstoßend - aus den archaischen Tiefen der Menschheitsgeschichte wie auch der menschlichen Seele hervorgeholt, sei die Geschichte von Isaaks Opferung. So heißt es deswegen.
Rembrandt hat sie immer wieder zu malen versucht, sich an ihr abgearbeitet. In seinem letzten Bild aus dem Jahr 1655 verschmelzen der Engel, Abraham und Isaak beinahe zu einer einzigen Gestalt. Die rechte Hand Abrahams - in Wirklichkeit der verlängerte Arm des Engels - schützt Isaak, während die linke das Messer führt.
So nahe beieinander also liegen Leben und Tod in den Händen eines Menschen. In Abrahams Händen, und in denen vieler anderer auch, seit Tausenden von Jahren.
Gehorsam bis zur Vernichtung. Der Befehl zur Ausrottung - und dann, zumindest für einen, oder auch mehrere, doch Bewahrung: weil einer dem Henker in den Arm fällt.
Wer denn? Ein Engel? Oder der Zufall?
Furchtbar - abstoßend - archaisch-abgründig - und doch so hochdramatisch ist diese Geschichte.
Eine der großartigsten Erzählungen der Weltliteratur - so heißt es auch.
Meisterhaft aufgebaut und zum unverkennbaren Höhepunkt hingeführt.
Aber was denn nun?
Ich glaube fast, beides ist richtig. Beides entspricht unserem Empfinden.
Sowohl - als auch.
Sowohl grausam - als auch hoch empfindsam.
Sowohl abgründig - als auch ein wenig verständlich.
Abraham, der Vater des Glaubens. Bedingungslos gehorsam und letztlich dann doch bewahrt.
Aber was nun? Wie nun weiter mit dieser Geschichte?
Gut - oder böse? Schön - oder schrecklich?
Oder gar noch mehr? Noch mehr Sinnschichten, als wir beim ersten Hören erkennen?
Einen der vielen offenbar noch möglichen Wege der Auslegung möchte ich jetzt einschlagen, mit Ihnen.
Mitgehen möchte ich mit Ihnen auf Abrahams Weg in die Gottverlassenheit.
So muß es ihm doch zumute gewesen sein: auf einmal verlassen, von allen, auch von Gott.
"Nimm Isaak, deinen einzigen Sohn, den du liebhast, und geh hin und opfere ihn dort."
Was wird das ausgelöst haben an Emotionen, an Aufbegehren, an Klagen und Fragen, an verzweifeltem Nicht-wahrhaben-Wollen.
Das kann doch nicht wahr sein! Eben war doch noch alles so gut. Eben gab es doch noch so viele Gründe, um sich am Leben zu freuen. Um auf das Erreichte stolz zu sein.
Ein Sohn! Und noch viel mehr! Besitz, Wohlstand, Segen.
Und vor allem: Zukunft! Es wird weitergehen mit dem, was ich begonnen habe. Nicht umsonst wird gewesen sein, was ich geleistet und ins Werk gesetzt habe.
Eben war alles noch genau so. Wie gut habe ich es doch - und wie viel ist mir noch versprochen.
Und jetzt dieser Einbruch. Dieses totale In-Frage-Stellen alles dessen, was bisher so sicher schien.
"Nimm deinen Sohn, den einzigen, den du liebhast - und geh - und opfere ihn."
Eine ganze Welt bricht zusammen. Der, der sich eben noch so reich gesegnet wußte, mit einem Mal bar allen Segens.
Verworfen, in den Abgrund, in die Gottverlassenheit gestoßen.
Laß los, woran dein Herz am allermeisten hängt. Leg es weg, auf den Altar.
Furchtbar für den, der solches hören muß.
Schrecklich für die, deren Leben bisher so gut und scheinbar sicher dahin ging.
Wenn der Boden, auf dem man so sicher zu stehen schien, mit einem Mal wegbricht.
Kann das wirklich wahr sein, was ich da zu hören bekomme? Was denn nun? Wohin denn nun?
Die Seele, so sagt man, geht langsam, sie geht zu Fuß auf dem Weg in die Gottverlassenheit.
Der Verstand, der handelt irgendwann dann wieder. Tut, was zu tun ist. Das Nächstliegende, was zu tun aufgetragen ist. Wie Abraham.
"Da stand Abraham früh am Morgen auf und gürtete seinen Esel und nahm mit sich zwei Knechte und seinen Sohn Isaak ..."
Eigentlich beginnt jetzt erst der Weg in die Gottverlassenheit.
Warum denn nur? Womit habe ich das verdient?
Was will Gott von mir?
So viele Fragen - und eben so viele Antwort-Versuche.
Will er mich prüfen- und warum? Wo liegt ein Sinn?
Hilflose Versuche sind es nicht selten , im Hereinbrechen des Sinnwidrigen einen vermeintlichen Sinn zu entdecken.
Hilflos - und manchmal zu schnell, zu vordergründig.
Es wird schon seinen Sinn haben - auch wenn ich ihn im Augenblick noch nicht erkenne.
Er wird schon seine Gründe haben. Solche Prüfung kann doch nicht umsonst sein.
Kleine, selbst aufgesteckte Lichter auf dem dunklen Weg in die Gottverlassenheit.
Das Abgründig-Sinnlose ist sonst ja gar nicht auszuhalten.
Das Liebste hergeben - wissentlich, willentlich?
Das Kostbarste meiner ganzen Lebensgeschichte - einfach auf den Altar legen und opfern?
Je länger der Weg - umso tiefer dringt die Wahrheit in die Seele - und umso größer die Gottverlassenheit.
Abraham - er plant dennoch akribisch die weiteren Schritte: die Knechte, der Esel sollen beim Äußersten nicht zugegen sein.
Allein geht er weiter, mit Isaak, dem Teil seines Lebens, den er hergeben soll. Immer tiefer hinein in die Gottverlassenheit.
Wer möchte da jetzt nicht in seinen Gedanken einen weiten Bogen schlagen und an Jesus in Gethsemane denken? Einmal, und ein zweites Mal - und ein drittes Mal geht Jesus, weg von den schlafenden Jüngern, dorthin, wo niemand mehr ist. Er, allein mit seiner Angst. Dahin, wo kein Weg mehr zu sehen ist. Nur noch abgründige Dunkelheit. Allenfalls noch ein stummer Schrei: "Mein Gott, warum hast du mich verlassen? - Ich schreie, aber meine Hilfe ist fern."
Was forderst du von mir? Ist´s denn nicht möglich, daß dieser Kelch an mir vorübergeht? -
Und da, im Äußersten, in der allertiefsten Gottverlassenheit, ein Engel.
Ein Engel, der das Weitere, das Schlimmste, verhindert. Der Abraham in den Arm fällt.
Am Ende des Weges ein Licht. Manchmal, doch leider nicht immer auf unseren Wegen in die Gottverlassenheit. Oder aber: sie werden nicht wahrgenommen, die leisen Spuren von Trost.
Hiob, der nach langem Schweigen schließlich die Worte wiederfindet.
Jesus, aus dessen Mund eindlich ein "Nicht wie ich will, sondern wie du willst" kommt.
Elia, dem in seiner Verzweiflung zum Tode mit einem Mal durch einen Engel die Augen geöffnet werden, damit er das Nächstliegende sehen kann: duftendes Brot und frisches Wasser, mitten in der Wüste.
Ein freundliches Wort. Eine liebevolle Geste. Ein unerwarteter Anruf. Erfahrungen, die das äußerste Dunkel der Gottverlassenheit mit einem Mal durchbrechen können.
Engel können die unterschiedlichsten Gesichter und Gestalten annehmen, wenn sie nur dem Bösen, dem Dunklen zu wehren vermögen.
Wenn sie die ersten behutsamen Schritte zurück ins Leben vorbereiten helfen.
Dort: ein Widder im Ast als Opfer an Isaaks Statt. Oder Wasser und Brot, die zum Leben helfen.
Neu geschenktes Leben, nach der grausamen Prüfung, nach all den auferlegten Höllenqualen.
So endet die grausame und abstoßende, hochdramatische und wunderbare Erzählung von Isaaks Opferung, von Abrahams Weg in die Gottverlassenheit.
Gewiß, ein Stachel bleibt: Nicht alle Wege an die Abgründe des Lebens enden auf solch wunderbare Weise. Nicht immer steht am Ende des Weges ein Engel, der die Dunkelheit durchbricht.
Wie oft müssen Menschen wissentlich, wenn auch nicht willentlich, schließlich das Liebste hergeben. Müssen loslassen, wovon sie sich eigentlich gar nicht trennen können.
Wie oft enden Wege in die Gottverlassenheit auch in furchtbarer und abgründiger Verzweiflung.
Ja! Doch die Botschaft unserer Geschichte ist eben eine andere. Und die wollen wir mitnehmen an diesem Sonntag. In Gestalt des Engels, der mitten in der tiefsten Dunkelheit mit einem Mal da ist und Leben schenkt.
Gebe Gott, daß ein solcher Engel auch auf uns wartet, am Ende unserer schweren und in Einsamkeit begangenen Wege.
Oder, mit den Worten aus dem Psalm dieses Sonntags gesagt:
"Was betrübst du dich, meine Seele, und bist so unruhig in mir?
Harre auf Gott; denn ich werde ihm noch danken, daß er meines Angesichts Hilfe und mein Gott ist."
Amen


Doris Gräb
Pastorin im Klinikum der Universität Göttingen
Raseweg 2
37124 Rosdorf
Tel 0551/781372

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