Göttinger Predigten im Internet, hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch


Oculi
Datum: 07.03.1999
Predigttext: Markus 12, 41-44
Verfasser: Jobst von Stuckrad-Barre

Alles, was zum Leben nötig ist

Jesus setzt sich einfach da hin, am Tempeleingang, dem Opferkasten gegenüber, und sieht zu, wer wieviel Geld hineinlegt.

Das geht doch niemanden etwas an, ob ich viel gebe oder wenig. Es gab aber einen Grund, daß laut ausgerufen wurde, was jeder gab: Jeder priesterlichen Handlung im Jerusalemer Tempel entsprach ein genauer Gegenwert. Geld und Religion so zusammenzubringen, erscheint uns heute fast obszön - nicht zuletzt in Folge dieser Geschichte. Wer reich ist, kann eben mehr spenden, daß er deshalb vor Gott besser dasteht, welch eine Verzerrung. Und: Protzen bringt nun wirklich kein Heil, im Gegenteil. Wichtiger ist vielleicht aber heute: zu persönlich, zu intim ist uns der Glaube, als daß wir ihn in der Nähe einer am Geld, und sei es auch nur an der Kirchensteuer, orientierten Haltung bringen möchten.
Jedoch, was diese arme Witwe tut, zeigt: Die Freiheit des Glaubens hat ganz unmittelbar zu tun mit der Freiheit zu geben. Besitz, Geld herzugeben, um damit etwas Gutes zu fördern, andern zu helfen, die in Not sind, Erziehung und Beratung, Gottesdienst und Diakonie zu unterstützen - dies alles im Vertrauen auf Gott, auf die Freiheit, wie er sie schenkt. Also noch einmal:
Jesus setzt sich einfach zu uns:
Und sieht, wie geschickt wir mit dem Geld umgehen, mit den Steuern zumal, hier ein bißchen geschönt, dort ein wenig verschwiegen oder verlagert; oder die Fälle, in denen der berufstätige Ehepartner aus der Kirche austritt, weil er das Geld verdient. Daß es auch Gegenbeispiele gibt, wo jede zusätzliche Belastung eine Katastrophe bedeutet, weiß ich wohl. - Andere spenden umso freigiebiger; obwohl sie nicht reich sind, tut es ihnen offenbar nicht weh, sie scheinen sogar immer wieder genug zu erhalten.
Jesus sitzt da und sieht, wie die geben, die äußerlich kaum etwas haben: Menschen, Gruppen, Völker - sie geben, was sie können, und obwohl alles weg ist, führen sie ein Leben, nach dem sich viele sehnen: glücklich leben sie, 'von der Hand in den Mund', bereit, am nächsten Tag mit nichts wieder zu beginnen - sie haben mehr als genug. Unter unseren Wirtschaftsbedingungen sei das nicht vorstellbar?
Wenn junge Techniker und Verwaltungsleute, Ärztinnen und Hebammen heute ihre "Karriere" unterbrechen, um in der Entwicklungshilfe zu arbeiten, wenn sie alles, was hier selbstverständlich ist, sein lassen, und unter schwierigsten Bedingungen sich an der Hilfe für die Ärmsten beteiligen, so geben sie alles, was sie haben. Daß diese Menschen häufig für den hiesigen Lebensstil "verdorben" sind: tatsächlich, das ist oft so, aber das geht eher zu Lasten unserer Unfähigkeit, ohne den gewohnten Überfluß, die beständige Absicherung, dieses Mehr-und-Immer-Mehr zu leben?
Oder wenn Kirchengemeinden und -kreise zusammen mit staatlichen Stellen Arbeitsplätze für Langzeitarbeitslose aufbauen mit dem Ziel, so vielen wie möglich ein Reintegration in die Arbeitswelt zu bahnen - einfach ist das nie, Enttäuschungen gehören dazu, und doch, besser als die allgemeine Klage über falsche Politik und Wirtschafterei ist es allemal; wird da doch etwas abgegeben von dem Allernötigsten und Vertrauen in die eigenen und die Möglichkeiten der anderen wieder zurückgegeben.
Ach, ich gebe es ja zu. Der Zeigefinger ist so unangenehm, dieses: Also bitte, ihr auch, geht los, hockt nicht auf eurem Reichtum, der euch doch nur Sorgen macht. Lieber ist es mir auch, wie Jesus das tut, indem er beobachtet, was da am Opferkasten geschieht, und dann den Jüngern erzählt von der Witwe, die auch noch den letzten Pfennig abgibt, ihre ganze Habe, alles, was sie zum Leben hatte.
Außerdem bin ich kein Wirtschaftsexperte - Kapitalkonzentration, Finanzströme, Geldmärkte und ähnliche Dinge sind leider für Laien wie mich schwer durchschaubar (wie wenig sie "in den Griff zu kriegen" sind, zeigen die Diskussionen gegenwärtig). Daß die Wirtschaftsgesellschaft von heute sich nicht mit den Agrar- und Handelsformen von damals gleichsetzen läßt, ist ja mit Händen zu greifen. Die Experten und Verantwortlichen an den Schalthebeln unserer globalisierten Wirtschaftswelt sollten nur nicht aus dem Auge lassen, daß hinter all den Zahlenspielen Menschen stehen, die mit einem Federstrich vor das Aus geraten oder etwas zum eigenen Lebenserhalt tun können. Daß eine Wirtschaftsverfassung nur sich, ihren eigenen Gesetzen überlassen werden sollte, will und will mir nicht einleuchten. Mehr noch, wie die Konzentration auf die Macht des Geldes alles unter ihr Joch zwingt, das erfahren wir zur Zeit stärker denn je.
Das zu sagen, muß kein Moralisieren, kein Verteufeln der Reichen nach sich ziehen. Daß Menschen nicht gleichgültig sind und ihre Freiheit in jeder Gestalt nicht einfach auf dem Altar einer abstrakten Konzentration von Macht und Geld geopfert werden sollte, gehört nur zu genau in den Umkreis dieser so einfachen Begegnung am Opferkasten.
Der, der da sitzt und sieht, was wir tun (und lassen!), läßt uns teilhaben an der Entdeckung der Unabhängigkeit, des Loskommens vom Immer-Mehr, läßt uns teilhaben daran, wie im Geben ein Empfangen beginnt.

Geht es denn immer wieder und immer doch nur ums Geld? Abgesehen davon, daß dies nur eine Frage von Leuten zu sein scheint, die keine unmittelbaren Existenzsorgen haben, wird das knappste Gut für uns häufig die Zeit. Nein, auch hier keine Verteufelung, etwa von Planung und gut organisierter Zeiteinteilung. Doch gibt es Situationen, gibt es Menschen, die brauchen nichts anderes von uns als Zeit, Zuwendung auch; wenn da einer mehr gibt als vorgesehen, also sogar, was er hat, dann wird er zusehends frei, und der, mit dem er es zu tun hat, nimmt mit einem Mal nicht nur, sondern gibt gleichzeitig - ein wundersames Hin und Her, aus dem beide beschenkt hervorgehen.
Es hat dies schon zu tun mit Freiheit, Freiheit von Menschen, die loslassen und alles, was sie wirklich brauchen, von Gott empfangen.

Sitzt Jesus eigentlich noch immer an jenem Platz, sitzt er noch da und sieht die Kirche, sieht uns, wie wir sind - die Menschen, die Zeit haben und vergeuden, die Menschen, die Geld haben und es für den letzten Blödsinn ausgeben, für Menschen in Not aber ... ach, da sollen sich doch andere kümmern.
Jesus ruft seine Jünger zusammen: Diese arme Witwe hat mehr in den Kasten gelegt als alle, die etwas hineingelegt haben. Er macht sich auf den Weg, aus dem Tempel in die Stadt - bis ans Kreuz.
Jesus ist längst auf dem Weg, dies alles loszulassen und dafür etwas zu beginnen, was uns die eigentliche Unmöglichkeit ist: Leben, das vom Tod nicht mehr bedroht ist, Leben in aller Freiheit vor Gott.

Jobst v.Stuckrad-Barre, Hainholzweg 10, 37085 Göttingen, Tel.-Nr. 0551-59948


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