Göttinger Predigten im Internet, hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch


Estomihi
Datum: 21.02.1999
Predigttext: Genesis 3, 1-24
Verfasser: Luise Stribrny de Estrada

Predigt für den Sonntag: Invokavit, 1. Sonntag der Passionszeit
vom 21. Februar 1999, über den Bibeltext Genesis 3, 1-24
von Frau Luise Stribrny de Estrada

Predigt
Liebe Geschwister im Glauben!
"Das verlorene Paradies", so heißt eine Ausstellung mit Bildern von Paul Gauguin, die am Ende des letzten Jahres in Berlin gezeigt wurde. Gauguin malte in Tahiti das, was ihm wie das Paradies erschien: Inmitten einer südlichen Landschaft bewegen sich Frauen im Einklang mit der Natur, oft sind sie nackt oder nur halb bekleidet. Auf einem Bild sieht man eine junge Frau, die eine große Frucht in der Hand hält, vielleicht hat sie sie gerade von dem Baum gepflückt, dessen Äste über ihrem Kopf zu sehen sind. Sie hält das Gesicht halb dem Betrachter zugewandt und schaut uns nachdenklich, etwas melancholisch an. - Der Maler suchte das Leben, das er sich erträumte, weitab von der geschäftigen Großstadt Paris mit ihrer Sucht nach Reichtum und ihren gesellschaftlichen Intrigen. Er fand das Paradies auf den tahitianischen Inseln, wo er das Leben der Maori bewunderte und abbildete, aber selbst weitgehend Betrachter blieb. Er war ausgeschlossen aus diesem Paradies, vor dessen Toren er bewundernd und voller Sehnsucht stand und begehrte, eingelassen zu werden. Für ihn, den Europäer, war das Paradies längst verloren und eine Rückkehr dorthin unmöglich. So kann er nur von außen seine Schönheit und Harmonie bewundern und sich nach dem sehnen, was ihm verloren gegangen ist.
Auch für uns ist das Paradies verloren, wir leben nicht mehr in einem wunderbaren Urzustand in Harmonie mit allem, was uns in der Natur umgibt. Stattdessen mühen wir uns bei unserer Arbeit ab, erleiden Schmerzen und wissen, daß unser Leben begrenzt ist durch den Tod. Genau diese Einsicht ist der Ausgangspunkt für die mythische Erzählung am Anfang der Bibel, die von Eva handelt, die die verbotene Frucht ißt. Sie beginnt damit, daß einer hinsieht und das beschreibt, was er um sich herum erlebt. Er öffnet die Augen und nimmt wahr, was ist: Es gibt Männer und Frauen. Die Frauen bekommen Kinder, dabei und während der Schwangerschaft leiden sie unter Beschwerden und Mühen. Die Männer dominieren die Frauen, sagen ihnen oft, was zu tun ist und wie sie sich zu entscheiden haben, auch das sieht er. Den Männern geht es nicht besser. Ihr Alltag ist von Beschwernissen gekennzeichnet. Sie arbeiten auf dem Acker im Schweiße ihres Angesichtes, aber oft genug trägt er ihnen nur Dornen und Disteln. Nach all der Mühe und Arbeit sterben sie irgendwann und werden wieder zu Erde, aus der sie einst, der Sage nach, von Gott gemacht wurden. So sieht die Bestandsaufnahe aus. Nicht gerade rosig, nicht besonders erstrebenswert. "Unser Leben währet 70 Jahre, und wennŒs hoch kommt achtzig Jahre, und was daran köstlich scheint, ist doch nur vergebliche Mühe.³
Und der, der das feststellt, fragt sich: Muß unser Leben so sein? Gibt es keinen anderen Entwurf? Hat Gott sich unser Leben so vorgestellt, Gott, der doch das Beste für uns, seine geliebten Kinder, will? Die Antwort lautet: Gott kann sich unser Leben nur anders gedacht haben. Und der Autor entwirft, ausgehend von Mythen in seiner Umwelt, ein Bild davon, wie Gott die Welt ursprünglich eingerichtet hatte: Gott pflanzte einen Garten mit vielen Bäumen und Flüssen, bevölkert von Tieren und Vögeln und setzte den Menschen dort hinein, damit er ihn bebaue und bewahre. Der Mensch bestand aus einem Paar, Mann und Frau, die in diesem paradiesischen Garten wohnten. Ein wunderbarer Urzustand, fast zu schön, um wahr zu sein. Etwas ganz anderes als die schwere Arbeit auf dem unfruchtbaren Ackerboden und das mühevolle Gebären von Kindern.
Und jetzt wird die Frage aufgeworfen, die kommen muß: Warum leben wir nicht mehr in diesem Paradies? Warum ernähren wir uns nicht weiterhin von den Früchten des Gartens und dem Wasser der vielen Flüsse und leben in Eintracht mit den Tieren? Wie sind wir sozusagen vom Himmel auf die Erde gefallen?
Darauf antwortet die Erzählung von Eva und der Schlange. Sie erklärt, wie das Paradies verloren gegangen ist. Die Schlange stachelt Eva auf, etwas zu tun, was Gott ausdrücklich verboten hat. Sie malt ihr aus, was die Früchte bewirken werden: "Eure Augen werden sich klären und ihr werdet sein wie Gott und wissen, was gut und böse ist.³ Eva bekommt Appetit auf die schönen Früchte, und es erscheint ihr verlockend, daß sie durch sie klug werden kann. Ihre Neugier und ihre Lust auf Erkenntnis bezähmt sie nicht länger, sondern greift zu, nimmt und ißt, und gibt auch ihrem Mann. Da erkennen sie, daß sie nackt sind. Können sie jetzt auch Gut und Böse unterscheiden? Sind sie wie Gott? Das bleibt offen. Aber sie müssen die Folgen dafür tragen, daß sie die Grenze überschritten haben, die Gott ihnen gesetzt hat. Zur Strafe werden sie aus dem Garten Eden ausgewiesen und müssen sich dem mühseligen Leben außerhalb unterziehen.
In der biblischen Erzählung ist eindeutig, daß das Leben im Paradies für die Menschen angenehmer und erstrebenswerter war als es das Leben außerhalb ist. Ich frage mich aber, ob diese Wertung zwingend ist, ob wirklich das Leben im Paradies auf die Dauer besser ist als das Leben in der Welt. Würden Sie gerne im Paradies leben? Mir ginge es wahrscheinlich so, daß es mir dort nach einer Weile sehr langweilig werden würde. Es wäre eine träumerische Existenz als Teil der Natur, umgeben von Blüten und Vögeln, ohne zu arbeiten, ohne sich anzustrengen -und dann auch die Früchte der Anstrengung zu sehen- ohne Kinder zur Welt zu bringen und sie aufwachsen zu sehen. Dieses Leben im Paradies wäre so, als bliebe man ewig Kind, brachte noch keine Verantwortung zu tragen, sich keine Gedanken um Arbeit und Nahrung zu machen und würde versorgt. Irgendwann muß die Kindheit zuende gehen, damit wir unser Leben selbst in die Hand nehmen können, Verantwortung übernehmen für uns und unseren Partner oder die Partnerin und uns ein eigenes Leben aufbauen.
Ohne Eva und ihre Lust an der Erkenntnis säßen wir noch immer im goldenen Käfig des Paradieses, im engen Gefängnis der Kindheit. Eigentlich hat sie den notwendigen Schritt des Ausbruchs aus dieser Enge getan und uns dazu verholfen, unser Leben anzupacken. Sie wollte mehr erkennen, als ihr zugedacht war, wollte klüger sein, als es ihr bestimmt war. Sie wollte sich nicht aufhalten lassen von den Grenzen, die ihr gesteckt worden waren. Diesen Drang nach Wissen und Erkenntnis kann ich verstehen, nachvollziehen.
In der Bibel wird das allerdings interpretiert als Überschreiten von Gottes Gebot, das der Mensch zu akzeptieren hat. Eva wird später zum Sinnbild des Menschen, der sich gegen Gott auflehnt. Aber hat Gott in der Geschichte nicht selbst schon den Stein des Anstosses gelegt? Wenn die Menschen von allen Bäumen im Garten essen dürfen außer von dem Baum der Erkenntnis und dem Baum des Lebens, war doch vorauszusehen, daß gerade die Früchte dieser Bäume besonders reizvoll sein würden! Eigentlich mußte Gott damit rechnen, daß die Menschen früher oder später der Versuchung nicht widerstehen würden, von diesen Bäumen zu kosten! Vielleicht wollte er sie damit auf die Probe stellen... Vielleicht hat er selbst geahnt, daß es so kommen würde...
Wir können also den Drang nach Erkenntnis nicht als etwas ausschließlich Negatives verstehen und sehen das Verlassen des Paradieses als notwendigen Schritt zum Erwachsenwerden an. Und trotzdem bleibt die immer wieder aufbrechende Sehnsucht danach, im Paradies zu leben. Wir begehren auf und fragen uns: Wieso ist hier alles so mühsam? Warum müssen Menschen leiden und sterben? Warum hassen wir einander und bringen uns um, so wie Kain seinen Bruder Abel? In uns gibt es die Sehnsucht nach einem heilen Leben, nach Glück und Freiheit von Schmerzen. Wir ahnen, daß es etwas anderes geben könnte und träumen von einem Paradies, in dem alles im Lot ist. Es war einmal... Und so ein Paradies wünschen wir uns auch für die Zukunft, da würden wir gerne irgendwann einmal leben.
Was wir uns als Menschheit ausmalen, schlägt sich bei vielen einzelnen als Erinnerung an ihre eigene Kindheit nieder. Für viele von uns war die Kindheit eine glückliche Zeit, die vielleicht im Nachhinein in noch hellere Farben getaucht erscheint. Damals lebten wir geborgen im Schoß der Familie, wußten, daß wir geliebt waren. Wir fühlten uns gehalten und aufgehoben. Wir lebten in unseren Spielen und Phantasien, bauten uns Höhlen im Wald oder vergruben uns in unsere Lieblingsbücher. Wir spürten nur wenige Pflichten und Zwänge. Wer so eine Kindheit erlebt hat, trägt einen Schatz in sich, von dem er zehrt und nach dem er sich manchmal zurücksehnt. Gleichzeitig weiß er, daß eine Rückkehr in die Kindheit nicht mehr möglich ist, daß er oder sie als Erwachsener ihre Aufgaben zu erfüllen hat. Aber die etwas wehmütige Erinnerung bleibt.
Was wird nun aus uns außerhalb des verlorenen Paradieses? In der biblischen Erzählung vertreibt Gott die Menschen aus dem Garten Eden und versperrt ihnen den Rückweg. Trotzdem hört er nicht auf, sich um die Menschen zu kümmern, sich um sie zu sorgen. Er macht für Adam und Eva, die ihre Nacktheit erkannt haben und sich ihrer schämen, Kleider aus Fellen und zieht sie ihnen selbst an. Obwohl sie sein Verbot übertreten haben, verstößt er sie nicht aus seiner Liebe und Fürsorge, sondern ist weiterhin für sie da und begleitet sie. Er verstößt sie aus dem Paradies, aber nicht aus seiner Liebe. Das stimmt für uns ebenso wie für Eva und Adam. Wir leben zwar nicht im Garten Eden und nicht im Paradies unserer eigenen Kindheit, aber wir sind trotzdem nicht von Gott getrennt oder von ihm vergessen. Er sorgt für uns, damit wir das haben, was wir zum Leben brauchen. Er hat uns nicht vergessen, und er läßt uns nicht alleine.
Deshalb können wir auch außerhalb des Paradieses unsere Wege gehen, im Vertrauen darauf, daß er uns begleitet.
Amen.

Wir singen anschließend als Gemeindelied das Lied Nr 395, Vertraut den neuen Wegen.



Nachbemerkung: Bei meiner Predigtvorbereitung habe ich mich darum bemüht, mir durch die Wirkungsgeschichte nicht den Zugang zum biblischen Text verstellen zu lassen. In Genesis 3 ist weder von Sünde noch von Fall die Rede, und verflucht werden nicht die Menschen, sondern "nur" die Schlange und der Acker. Die Strafe für das Übertreten des göttlichen Gebotes ist die Vetreibung aus dem Paradies. M.E. kann man Evas Greifen nach der Frucht als Übertretung des Gebotes verstehen, wie es der Jahwist tut, aber gleichzeitig als Lust nach der Erkenntnis, als Ausgang aus der Unschuld und damit als einen aufklärerischen Akt. Damit steht man vor der Frage, ob man unser Leben jetzt und hier postiv oder negativ bewertet.
Meine Predigt steht unter der Überschrift "Das verlorene Paradies". Ich möchte verdeutlichen, daß wir uns nach einem idyllischen Urzustand zurücksehnen, uns aber andererseits dem alltäglichen Leben zu stellen haben, das von Anstrengungen und Aufgaben gekennzeichnet ist.

Verfasserin: Luise Stribrny de Estrada, Pastorin in der Matthias-Claudius-Gemeinde in Kiel-Suchsdorf
email: marclui@ki.comcity.de


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