Göttinger Predigten im Internet, hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch


Sexagesimae
Datum: 07.02.1999
Predigttext: Markus 4, 26-29
Verfasser: Hanna Kreisel-Liebermann


Predigt für den Sonntag Sexagesimae, 7. Februar 1999, über Markus 4, 26-29, von Frau Kreisel-Liebermann

Predigttext (Reihe III)
Und er sprach: Mit dem Reiche Gottes ist es so, wie wenn ein Mensch den Samen in die Erde wirft und schläft und aufsteht Nacht und Tag, und der Same sprießt und wird groß, er weiß selbst nicht wie. Von selbst bringt die Erde Frucht, zuerst den Halm, dann die Ähre, dann den vollen Weizen in der Ähre. Wenn aber die Frucht es zuläßt, "legt er alsbald die Sichel an; denn die Ernte ist da."
Markus 4, 26-29

Predigt
Ein neugeborenes Kind ist etwas wunderbares. Ein Wunder. Es ist so klein und schutzbedürftig und trotzdem faszinierend "ganz". Der Anblick, das Berühren und der Blick eines Säuglings berührt mich sehr.

So geht es auch Jonas. Der vierzehnjährige Onkel, ganz hin und weg von der kleinen, erst drei Tage alten Nichte, sagt: "Das ist der Kindchen-Effekt. Hatten wir gerade im Biologie-Unterricht." Er bemüht sich, die in dem Alter weit verbreitete sogenannte "Coolness", d.h. Mann zeigt seine Gefühle nicht, zu wahren. Aber das Kind schafft es, ein Lächeln in sein Gesicht zu zaubern.

Stolz erzählt er zu Hause: Sie hat mich angeschaut. Die Erklärung, der Kindcheneffekt hilft ihm, das Gefühl zu verstehen und auch anderen, seinen Freunden zu vermitteln.

Das kleine Kind macht seine ersten Erfahrungen. "Siehe, Kinder sind eine Gabe Gottes und Leibesfrucht ist ein Geschenk" (Psalm 127, Vers 3). Wird es so wahrgenommen: als eine Gabe Gottes, wie ein Geschenk? Das Kind ist im Mutterleibe herangewachsen. Trotz aller Forschung, des durch Ultraschall fast "durchsichtigen" Mutterleibes bleibt manches ein Geheimnis. Ist nicht alles erklär- und verstehbar.
In den ersten Tagen und Wochen erfahren wir über alle unsere Sinne, wie wir wahrgenommen werden: mit Liebe, Zuwendung und Wärme oder Ablehnung und Zurückweisung. Leider, da hat Jonas unrecht, lösen Babies und Kleinkinder nicht bei allen Erwachsenen beschützendes Verhalten aus. Manche Kinder erleben in ihrer Kindheit die Hölle. Da ist es manchmal ein Wunder, wenn aus ihnen doch noch einigermaßen normale Erwachsene werden.

Lesung des Predigttextes Markus 2, 26-29

Und Jesus sprach: Mit dem Reiche Gottes ist es so, wie wenn ein Mensch den Samen in die Erde wirft und schläft und aufsteht Nacht und Tag und der Same sprießt und wird groß.

Von selbst bringt die Erde Frucht, zuerst den Halm, dann die Ähre, dann den vollen Weizen in der Ähre.

Wenn aber die Frucht es zuläßt, "legt er alsbald die Sichel an;denn die Ernte ist da."

Mit dem Reich Gottes ist es so... Viele Gleichnisse im Markusevangelium (und auch in den beiden anderen Evangelien) leiten eine Geschichte vom Wachsen ein. Hier: ist es das Wachsen von Getreide, von Weizen.

Getreideanbau gehörte zum Alltag der Menschen, die die Gleichnisse hörten. Viele von ihnen waren Tagelöhner, die selbst kein eigenes Land hatten. Die Bilder vom Heranreifen der Pflanze sind ihnen vertraut: zuerst treibt der Same aus und wächst dann, dank der Erde wächst der Halm, dann die Ähre ohne Körner und dann der volle Weizen. Das ist ein Prozeß. Es geschieht nicht von heute auf morgen.

Aber, und das ist außergewöhnlich: hier wird nichts vom Hegen und Pflegen der Pflanzen erzählt. Die Bodenqualität wird nicht beschrieben, noch die Sorge um ausreichendes Wasser. Der Prozeß geschieht ohne Zutun dessen, der den ersten Schritt tat: den Samen in die Erde zu werfen. Danach schläft er und steht auf, tagaus tagein und kümmert sich nicht. "Er weiß selbst nicht, wie es geschieht." Aber das Wachsen geschieht, nein aktivisch: der Same wächst und die Erde bringt Frucht hervor. Wie das Wachsen eines kleinen Kindes, das in einer Frau größer wird, wenn das Ei befruchtet wurde. Nicht immer geht alles "von ganz allein" - und dank der modernen Medizin gibt es meist effektive Hilfen. Aber, wie das Reich Gottes, so dieses Gleichnis: auch ohne unser aktives Sorgen und unsere Fürsorge wird es, weil einmal gesät, heranwachsen.

Dieses Gleichnis ent-lastet mich. Es werden keine Forderungen an die, die Jesu Botschaft nachfolgen gestellt. Es nimmt den Druck von meinen Schultern und schafft Luft zum Atmen. Was viele Kranke wissen: Es liegt nicht alles in unserer Hand, dem kann ich von Herzen zustimmen. Das kann uns helfen, geduldiger zu werden. Pflanzen und Menschen brauchen Zeit zum Wachsen und Werden.

Denn: die Lage ist kritisch. Eigentlich müßten wir uns überschlagen, damit Kirche attraktiv bleibt. Eigentlich müßten wir noch fleißiger sein, damit die Menschen sich angesprochen fühlen vom Wort Gottes. Noch mehr Ideen, was in der Kirche getan, gemacht, geleistet werden könnte, damit der Same "das Wort Gottes" Menschen erreicht. Dieses Gleichnis spricht dagegen - so höre ich es. Es ist tröstlich zu hören, daß nicht alles in unserer Hand liegt. Daß wir beruhigt zu Bett gehen können und getrost schlafen können und daß trotzdem das Reich Gottes nicht chancenlos ist. Es wächst "automatisch", d.h. "von selbst bringt die Erde Frucht hervor" - ohne Kunst-dünger, ohne ständiges Hacken und Begießen, ohne Unkrautvernichter.

Es ist schwer, gelassen zu sein. Angesichts des Vielen, das es zu tun gibt. Überall auf der Welt gibt es Orte, wo es sinnvoll wäre, zu helfen. In der Nähe: zahlreiche Menschen könnten unsere Besuche, unseren Beistand brauchen. Unsere Kinder brauchen doch eine schöne Kindheit: ich kann es doch nicht einfach mit ansehen, wenn ein Kind leiden muß.

Ja, es ist sicher christlich, daß wir uns engagieren. Ohne unser Engagement würden wir unserem Auftrag nicht gerecht. Aber es ist auch not-wendig, auf Gottes Wirken zu vertrauen und nicht zu verzagen, wenn manches eben nicht machbar ist. Vielleicht wächst es ganz ohne mein Zutun und ich darf einmal nur ernten.

Und sei es das Lächeln eines glücklichen und zufriedenen Babys oder andere Beispiele z.B. aus dem Gemeindealltag.

Amen

Lesungs- und Liedvorschläge..
Psalm 127 als Psalmintroitus, Verse 1-3
Jesaja 55, 10-12 als alttestamentliche Lesung
Lied 504 EKG 504 "Himmel, Erde, Luft und Meer zeugen von des Schöpfers Ehr"
Nach der Predigt: EKG 98 "Korn, das in die Erde", Text von Reinhard Henkys
Segenslied 171 nach dem Fürbittengebet
als meditatives Bild möglich: Brot für die Welt, Hände mit Erde und einem keimenden Korn


Hintergründe und Umfeld der Predigt

Hinweise auf andere Textstellen
So seid nun geduldig, liebe Schwestern und Brüder, bis auf den Tag, da der Herr kommt. Siehe, ein Ackermann wartet auf die köstliche Frucht der Erde und ist geduldig darüber, bis sie empfange den Frühregen und den Spätregen.
Jakobus 5, 7
Frühregen und Spätregen: Psalm 127,2

"greift zur Sichel, denn die Ernte ist reif!
Joel 4,13

Und ein anderer Engel kam aus dem Tempel und rief mit großer Stimme zu dem, der auf der Wolke saß: "Schlag an mit deiner Sichel und ernte; denn die Zeit zu ernten ist gekommen, denn die Ernte der Erde ist reif geworfen."
Offenbarung 14,15

Kontext
Zahlreiche Gleichnisse, die den Erfolg und Mißerfolg der Botschaft thematisieren. Lokalisation: "Er fing abermals an, am See zu lehren. Und es versammelte sich bei ihm sehr viel Volk, so daß er in ein Schiff stieg .. und er lehrte sie in Gleichnissen vieles und sagte zu ihnen in seiner Lehre .." (Mk 4, 1 und 2). Es folgt das ausführliche Sämanngleichnis (par Lukas und Matthäus).

In Vers 10 ändert sich das Szenario: "Und als er allein war, fragten ihn die, welche um ihn waren, samt den Zwölfen über die Gleichnisse." Auch den Eingeweihten, denen das Geheimnis des Reiches Gottes gegeben wurde (Vers 11), fällt das Verstehen schwer (Vers 13). Eine Erklärung folgt: Der Sämann sät das Wort - manche lassen es sich wegnehmen (vom Satan), andere "haben keine Wurzel in sich, sondern sind Menschen des Augenblickes. Wenn nachher um des Wortes willen Trübsal oder Verfolgung entsteht, nehmen sie alsbald Anstoß. Und andere, in die dringen die Sorgen der Welt und der Trug des Reichtums und die Begierden nach anderen Dingen ein und ersticken das Wort und es bringt keine Frucht. (Verse 15 bis 19)

Zwischen den Gleichnissen vom "Licht unter dem Scheffel" und dem "Senfkorn" - steht das Mk-Sondergut - unser.
Predigttext.

Das Besondere an diesem Text:

Die Verse 27 und 28 sind ein Parallelismus memborum. Der Mensch schläft und steht auf: Nacht und Tag: der Tag beginnt mit dem Sonnenuntergang. Der Schabbat beginnt, wenn die ersten Sterne am Himmel sind. Die Ernte ist häufig ein eschatologisches Bild. Geerntet werden kann erst, wenn die Frucht es zuläßt - dies ist als zeitliche Dimension zu verstehen.
Das zentrale Thema ist m.E., daß das Wort Gottes von selbst wirkt. Auch ohne Zutun dessen, der sät und ansonsten sein Leben weiterführt, treibt der SAME aus und die ERDE bringt die Frucht.

Zur Predigt:
Den Schwerpunkt will ich in der Predigt darauf legen, daß nicht alles von unserem Zutun abhängt. Identifikation mit dem Gleichnis über Alltagserfahrungen eines bäuerlichen Lebens; entweder Bauer/Bäuerin oder Tagelöhner, die kein Geld und keine Zeit hatten, sich um eigene Äcker zu kümmern. Es wächst auch dort, wo es nicht gepflegt ist. Das Wirken des Wortes in den Menschen ist nicht von "Wissen", sondern von der Qualität des Samens und von der Fruchtbarkeit der Erde abhängig. Aber ansonsten, oh Erleichterung, wächst und gedeiht auch etwas ohne das eigene Zutun. Es liegt nicht an unserem Verhalten oder Fleiß, nicht an unserer Glaubensstärke und unserem Verkündigungsgeschick, sondern das Reich Gottes ist wie das natürliche "Wachsen und Gedeihen in der Natur." "Wenn die Frucht es erlaubt" - sie ist Subjekt, darf geerntet werden. Da der Kontext des Gleichnisses um Erfolg und Mißerfolg der Botschaft, des euangelium zentriert ist, berücksichtige ich den Gerichtsaspekt, der anklingt (Joel 4,13 und Offenbarung 14,15) nicht.


Hanna Kreisel-Liebermann
Krankenhausseelsorgerin
Waldweg 35
37073 Göttingen
Tel. 0551-44713 und 0172-5310117

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