Göttinger Predigten im Internet, hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch


2. Sonntag nach Epiphanias
Datum: 17.1.1999
Predigttext: Ex 33, 17b - 23
Verfasser: Paul Kluge


Das Goldene Kalb war zerstört, das Volk blutig bestraft. Nun war Mose auf dem Gipfel, und er war hin- und hergerissen: Einerseits war das Volk zu Recht und um Gottes Willen abgestraft worden, ja, hatte Gott selber es gestraft. Andererseits: Würde - nach der harten Strafe - das Volk noch auf ihn hören und ihm folgen? Oder würde es rebellieren? Aber da war sein Auftrag, das Volk, das im Finstern saß, ans Licht zu führen, die Menschen aus der Sklaverei in die Freiheit. Dieser Auftrag machte ihn mutig und stark: Er, Mose, war der richtige, und deshalb durfte er nicht aufgeben. Aber diese Leute! Würden sie ihm glauben, ihm das einfach so abnehmen? Wenn doch nur irgendein Wunder vor aller Augen geschähe, irgend etwas Geheimnisvolles, das würde ihm seinen Auftrag gewaltig erleichtern. Aber es geschah nichts. Moses stumme Zwiesprache mit Gott blieb vertraulich.
Doch er war nicht umsonst am Hof des Pharao aufgewachsen, hatte alles gelernt, was ein Prinz von Ägypten zu lernen hatte. Und er war ein guter Schüler gewesen, besser als sein älterer Stiefbruder Ramses. Das wollte er nutzen. Wieder beim Volk, baute er außerhalb des Lagers auf einer Anhöhe ein besonderes "Zelt der Zusammenkunft", hier wollte er fortan seine Zwiesprache mit Gott halten, seine Anweisungen entgegennehmen.
Das sprach sich schnell herum. Als er eines Morgens würdevoll und gemessenen Schrittes erstmals zu diesem Zelt schritt, standen die Menschen vor ihren Zelten; blieben dort stehen, bis sie ihn nicht mehr sahen. Er bemerkte das mit Zufriedenheit, denn diese Ehrerbietung hatten sie auch dem Pharao erwiesen. Sie hatten ihn also anerkannt, und das war gut so, war auch zu ihrem eigenen Besten. Bei steigender Sonne verschwand das Zelt im Nebel. Deshalb hatte er den Ort gewählt, die Menschen würden es schon richtig deuten.
Der Zwiespalt zwischen Zuversicht und Selbstzweifel aber blieb. Er hatte einen Auftrag, hatte ein großes Ziel vor Augen, und dies Ziel entsprach der Sehnsucht des ganzen Volkes: Ruhig wohnen können. Den eigenen Acker bestellen, die eigenen Herden hüten, ein eigenes Haus bauen, und die eigenen Kinder fröhlich aufwachsen sehen. Mehr wollten sie nicht, aber so weit mußten sie erst einmal kommen. Vorerst lebten sie von einem Tag auf den anderen von der Hand in den Mund, und auch Mose hatte keine langfristige Planung, die er abarbeiten konnte. Wenn die Leute das merkten, würden sie wieder murren.
"Laß mich doch deine Pläne wissen," betete er immer wieder zu Gott, "denn dies Volk ist dein Volk! Zeige dich dem Volk, daß sie dir glauben und mir folgen!" - Wenn Mose so betete, wenn er seine Zweifel und Selbstzweifel vor Gott brachte, dann wurde er mit der Zeit ganz ruhig, und aus dieser Ruhe schöpfte er neue Kraft und neue Zuversicht, aus dieser Ruhe schöpfte er die Gewißheit, daß Gott mit ihm sein und mit dem Volk ziehen würde. Und Mose begann, die nächsten Schritte zu planen.
Doch dann machte ihm die ungeheure Größe seiner Aufgabe wieder Angst, und er wollte schier verzagen: Das kann ich nicht, und wir schaffen das nie! Ein Land, in dem Milch und Honig fließen, ein Land, in dem keine Tränen fließen, kein Leid noch Geschrei noch Schmerz sein wird und kein gewaltsamer Tod, ein solches Land gibt es doch gar nicht. Wir werden es also nie finden, und die Menschen werden auf der Suche nach dem Paradies sterben, ihr Leben wird vergebliche Mühe und Arbeit gewesen sein. Dann fielen ihm die ganzen Ungerechtigkeiten auf, die es gab: Ungerechtigkeiten, wie er sie in Ägypten erlebt hatte zwischen Reich und Arm, zwischen Freien und Sklaven, Ungerechtigkeiten, wie er sie bei seinem Volk erlebte: Da starben Kinder, und es gab Alte, die nicht sterben konnten; da gab es Menschen mit Behinderungen, und andere strotzten vor Kraft; da gab es welche, die waren mit ihrem Leben fröhlich und zufrieden, und andere klagten über alles und litten unter jedem. Wo waren da Gottes Macht und seine Herrlichkeit zu sehen? War es überhaupt möglich, Gott zu erkennen im tristen Alltag, in der Sorge um das tägliche Brot, in den täglichen Streitereien und Gemeinheiten, die Menschen sich antun, in der tagtäglichen Langeweile? Wo war da Gottes Pracht zu erkennen, in dieser öden Wüste, die ihr Lebensraum war, alles grau in grau soweit das Auge reicht und kein Hoffnungsschimmer am Horizont? Gab es überhaupt etwas anderes?
Wenn Mose sich in die dunkle Höhle der Schwermut verkrochen hatte und seine ganze Angst aus ihm hervorgebrochen war, geschah es immer wieder, daß sein Auge plötzlich wie durch einen Spalt auf eine kleine Blüte fiel, sein Ohr einen Vogel singen hörte, ein kühler, weicher Wind seine Wangen streichelte, und langsam, ganz langsam drangen diese kleinen Wunder in sein Bewußtsein, gewannen an Einfluß auf sein Denken. Dann fiel ihm nach und nach das eine und das andere ein, was er in seinem Leben an Wunderbarem erfahren hatte, erinnerte er sich herrlicher Erlebnisse, die andere ihm erzählt hatten, begriff er die neue Lage seines Volkes als ein einziges Wunder.
"Man muß wohl im Finstern sitzen, um das Licht zu erkennen," dachte er dann oft, "so hat auch die Finsternis ihren Sinn." Und daß es sich meistens um kleine Lichter handelte, manchmal nur um glimmende Dochte, das erschien ihm dann sinnvoll, denn wer in die Sonne sieht, wird blind. "Ich sollte mehr auf die kleinen Zeichen Gottes achten, die leisen und stillen Offenbarungen," sagte er sich dann, "es gibt ihrer so viele. Doch in meiner Gier nach der Sonne übersehe ich den glimmenden Docht, die flackernde Kerze."
Und eines Tages, als er wieder einmal über seine und seines Volkes Vergangenheit nachdachte, fiel es ihm wie Schuppen von den Augen: "Ich kann Gott nur in dem erkennen, was war, niemals in dem, was ist oder gar wird. Erst, wenn Gott vorübergegangen ist, kann ich seine Spuren sehen!" Und mit dieser Einsicht konnte er dann sein Werk und sein Leben vollenden. Amen
Liedvorschlag: Wir haben Gottes Spuren festgestellt

Paul Kluge
Provinzialpfarrer im Diakonischen Werk der Kirchenprovinz Sachsen
Wasserstraße 3
39114 Magdeburg




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