Göttinger Predigten im Internet, hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch


1. Sonntag nach Epiphanias
Datum: 10.1.1999
Predigttext: Mt 4,12-17
Verfasser: Dr. Werner Zager


Wenn eine große Sache beginnt, liebe Gemeinde, machen wir Menschen gerne ein Fest daraus. Soll ein Schiff vom Stapel laufen, wird eine Blaskapelle bestellt und ein Minister oder ein hochrangiger Politiker eingeladen, der die berühmte Sektflasche gegen den Schiffsrumpf schleudert.

Wenn ein Gebäude eingeweiht wird, oder ein neues Stück Autobahn, wenn ein Bürgerhaus oder Gemeindezentrum seiner Bestimmung übergeben wird oder man eine neue Orgel in Dienst nimmt – wie im vergangenen Jahr an unserer Universität –, stets machen wir daraus ein festliches Ereignis. Wenn eine große Sache beginnt, soll es auch groß begangen werden: an einem festlich geschmückten Ort, zu einer günstigen Zeit, mit einem feierlichen Rahmen. Weil wir Hoffnungen an einen Neubeginn knüpfen, Vorfreude und immer auch ein bißchen Neugier mit im Spiel sind.

Der Beginn von Jesu Wirksamkeit ging leiser vonstatten. Wenig Aufregendes wird da berichtet von dem Tag, an dem er zum ersten Mal öffentlich unter den Menschen auftrat und zu ihnen sprach. Doch nur auf den ersten Blick erscheint uns diese Schilderung so still und unauffällig.

Ganz bewußt stellt der Evangelist Matthäus die Nachricht von der ersten Wirksamkeit Jesu zwischen die Versuchungsgeschichte Jesu und den Bericht über die Berufung der ersten Jünger. Mit Sorgfalt benennt er den Ort des ersten Auftretens Jesu, mit Bedacht wählt er den Zeitpunkt für die erste Predigt. Und genauso bedeutungsvoll diese zeitgeschichtlichen und geographischen Notizen sind, genauso bewußt greift Matthäus eine Zitatkombination aus Jesaja 8 und 9 auf, deren Erfüllung in Jesus von Nazareth proklamiert wird:

"Das Land Sebulon und das Land Naftali, das Land am Meer, das Land jenseits des Jordans, das heidnische Galiläa, das Volk, das in Finsternis saß, hat ein großes Licht gesehen; und denen, die saßen am Ort und im Schatten des Todes, ist ein Licht aufgegangen."

Zu dieser Zeit fing Jesus an zu predigen. Was war besonders an diesem Zeitpunkt? Überaus gewagt war dieser Zeitpunkt, den Jesus hier für sein erstes öffentliches Auftreten wählt. Gerade eben ist Johannes der Täufer gefangen genommen worden. Mit seiner Botschaft und mit der Unruhe, die er durch seinen Bußruf unter den Menschen auslöste, nicht zuletzt auch wegen seiner öffentlichen Kritik des von Herodes Antipas praktizierten Ehebruchs hatte er den Zorn seines Landesherrn auf sich gezogen. Ob Johannes mit dem Leben davon käme, je wieder frei sein würde – kaum einer wagte das zu hoffen unter dem machtbewußten Herrscher dieses Landstrichs. Eigentlich müßte man denken, Jesus würde nun erst einmal abwarten, sich still verhalten, um nicht als Anhänger dieses Johannes ebenfalls in Gefahr zu geraten. Eine solche Annahme steht offenbar auch hinter der seit der Alten Kirche üblichen Deutung der Rückkehr Jesu nach Galiläa als Flucht vor den Feinden des Täufers. Und selbst unsere Lutherbibel übersetzt anacw rew mit "sich zurückziehen", was zwar sprachlich möglich, der Sache nach aber irreführend ist. Jedoch sollte Matthäus nicht gewußt haben, daß Herodes auch über Nazareth und Kapernaum herrschte? Das ist sehr unwahrscheinlich. Also: Jesus zieht sich nicht zurück; er bringt sich nicht in Sicherheit. Nein: im Gegenteil. Gerade weil der Bußruf des Johannes jetzt verstummen muß, gerade weil man ihn mundtot zu machen versucht, gerade deshalb muß Jesus jetzt reden, jetzt predigen, jetzt zu wirken beginnen.

"Seit der Zeit fing Jesus an zu predigen" – nur ein einziges Mal noch begegnen nun genau dieselben bewußt gewählten Worte im Matthäusevangelium: als Jesus aufbricht nach Jerusalem. In Mt 16, als zum zweiten Mal ein wichtiger und unumgänglicher Weg für ihn beginnt: der Weg des Leidens, den er dann unbeirrt geht – selbst gegen den Widerstand seines besten Freundes Petrus. Da heißt es: "Seit der Zeit fing Jesus an, seinen Jüngern zu zeigen, daß er nach Jerusalem gehen und leiden müsse." (Mt 16,21)

Es besteht kein Zweifel, daß Matthäus diesen Zeitpunkt also ganz bewußt gewählt hat: Jesus nimmt die Stelle des Johannes ein, und an seiner Statt predigt auch er diese eine eindringliche Botschaft: "Tut Buße; denn das Himmelreich ist nahe herbeigekommen!" Diese Zusammenfassung der Verkündigung Jesu, die Matthäus bereits durch das Markusevangelium vorgegeben war, hat er mit Absicht auch dem Täufer in den Mund gelegt, um dessen Geschick mit dem Jesu zu parallelisieren.

Jedoch nicht nur der Zeitpunkt, sondern auch der Ort, an dem Jesus seine Wirksamkeit beginnt, ist nicht zufällig gewählt. "Galiläa – der Landstrich der Heiden" – weit ab von den jüdischen Frommen in Judäa, weit ab von Jerusalem, dem religiösen Mittelpunkt von Volk und Glaubensgemeinschaft. Galiläa, das Land, das allein schon durch seine Randlage immer benachteiligt war, zudem durch wechselnde Eroberer verschiedenste Volksgruppen beherbergte, Galiläa: hier verschmolzen Volksgruppen, hier mischten sich Religionen und Riten. Während nämlich in den Dörfern Galiläas und im Innern des Landes Juden wohnten, waren die hellenisierten Städte im Westen stärker heidnisch durchsetzt. Für fromme Juden in Jerusalem und Judäa ist Galiläa ein Gebiet, das es mit dem göttlichen Gesetz nicht so ernst nimmt. Von Rabbi Jochanan ben Zakkai ist sogar der Ausspruch überliefert: "Galiläa, Galiläa, du hassest die Lehre; du wirst schließlich den Räubern gehören!"

Genau dahin kehrt Jesus vom Jordan her kommend zurück. Gerade jetzt, wo Johannes festgesetzt worden war, gerade hier in diesem Landstrich, dessen Herrscher dieser Herodes Antipas war, der Johannes zum Verhängnis wurde, gerade hierher kehrt Jesus zurück, nach Galiläa, seiner eigenen Heimat – von der man landläufig sagte: "Was kann aus dem düsteren Galiläa schon Vernünftiges kommen!"

Ja, gerade an den Rand geht Jesus mit seiner Botschaft, mit seinem helfenden Wort, mit seinem rettenden Handeln. Ja, nicht zufällig, sondern sehr bewußt fängt er da an, wo Bedrückung und Unsicherheit, Freudlosigkeit und Perspektivlosigkeit vielleicht am größten waren. Der Vergleich zu den Hirten in der lukanischen Weihnachtsgeschichte drängt sich mir auf: Waren nicht auch sie die ersten, die die frohe Kunde vom Kommen des Heilandes gehört hatten? Die am Rand Lebenden, die Schattenexistenzen der Gesellschaft:

"Das Volk, das in Finsternis saß, hat ein großes Licht gesehen; und denen, die am Ort und im Schatten des Todes saßen, ist ein Licht aufgegangen."

Und damit ist neben Zeit und Ort das dritte Wichtige zu sagen über diesen Beginn der Wirksamkeit Jesu: Mit dem Bußruf: "Ändert Euer Leben! Richtet Euer Leben neu aus nach Gottes Willen, nach Gottes Heil!" – mit diesem Bußruf kommt das Heil selbst unter die Menschen: Jesus von Nazareth.

Mit dem Auftreten Jesu wird das, was Johannes zuvor nur ankündigen konnte, zur Gewißheit, zur Freudenbotschaft, zur Wirklichkeit:

Das Licht scheint jetzt. Es ist hell unter Euch. Denn Gott selbst ist in Jesus von Nazareth zu Euch gekommen. Blinden werden die Augen geöffnet, Taube hören, Lahme können wieder gehen – sei es im wörtlichen oder eher im übertragenen Sinne, was häufig ein größeres Wunder bedeutet –, Traurige können wieder lachen, von Schuld Gebeugte vermögen wieder durchzuatmen, Verurteilten wird ein neuer Anfang geschenkt, Ausgegrenzte sitzen wieder mit am Tisch.

"Tut Buße, ändert Euer Leben!" ruft Jesus erneut, mit den gleichen Worten wie Johannes: "Tut Buße; denn das Himmelreich ist nahe herbeigekommen!" Jetzt zum Greifen nahe. Wenn ich rettend und helfend Euch zur Seite stehe, dann ist das Reich Gottes bereits mitten unter Euch. Etliche Kapitel später in Mt 12 wird Jesus dies tatsächlich so sagen: "Wenn ich die bösen Geister – also alles, was Euch an Nichtiges binden will – durch den Geist Gottes austreibe, so ist das Reich Gottes zu Euch gekommen" (Mt 12,28), das Reich der Freiheit und der Liebe.

So also begann diese große Sache mit Jesus von Nazareth: zu gefährlicher, ungünstiger Zeit, an entlegenem Ort – aber mit einer solchen Vollmacht und Dynamik, daß diese Predigt vom Reich Gottes um die Welt ging und nie wieder endete! Es war der Anfang einer weltbewegenden Botschaft, eines Jahrhunderte währenden Weitersagens, bis zu uns heute.

Bis zu uns heute gelangte die Botschaft – und mit ihr die alte und trotzdem immer wieder neue Frage: Was damit anfangen? Gibt es aus dieser kleinen und – wie wir bedacht haben – doch tiefgründigen und wohlüberlegten Schilderung des Beginnes der Wirksamkeit Jesu für uns heute, für uns ganz persönlich einen Gewinn, eine Botschaft, die unser jetziges Leben bestimmen kann? Ich denke ja, liebe Gemeinde:

Für die Sache Gottes einzutreten – dafür gibt es nie einen ungeeigneten oder schlechten Zeitpunkt.

Wie oft kommt es uns in den Sinn, wie gut es jetzt wäre, ein klares und deutliches Wort zu sagen. Manchmal spüren wir es ganz deutlich, wie wichtig es wäre, für die Rechte dessen einzutreten, über den gerade hergezogen und gemeinschaftlich der Stab gebrochen wird.

Es liegt uns auf der Zunge das Wort, um für unsere Kirche, den Sonntagsgottesdienst oder die Bibel einzutreten, wenn andere Späße darüber machen oder ungerechtfertigt urteilen.

Es drängt uns manchmal an einem Krankenbett oder auf einem Geburtstagsfest, einen Psalm zu sprechen oder eine Strophe aus dem Gesangbuch zu rezitieren. Und wir tun es nicht.

Ungeeignet der Zeitpunkt, die Situation jetzt gerade nicht so günstig, die Zeit noch nicht reif ... wie auch immer. Unser Mund bleibt oft geschlossen. Gute Worte werden nicht gesagt, zurechtbringende Mahnungen nicht weitergegeben. Zuspruch und Ermutigung behalten wir für uns.

Mit seinem Auftreten ausgerechnet direkt nach der Gefangennahme des Johannes, ausgerechnet im Machtbereich des Herodes Antipas, zeigt Jesus deutlich: Es gibt keinen unpassenden Moment, um für die Sache Gottes einzutreten. Es mag eine Frage des Tones sein, wie wir in einem Gespräch oder in einer Geburtstagsrunde oder am Stammtisch oder beim Friseur reagieren, wenn man auf Fragen der christlichen Überzeugung stößt. Nicht immer sind das Anführen von Bibelworten oder Gesangbuchversen dann das Mittel der Wahl. Ein deutliches, ehrliches und klares Wort, das uns aus dem Herzen spricht, kann oft viel mehr bei unserem Gegenüber bewirken: Nachdenklichkeit, Umdenken, Nachfragen.

Für die Sache Gottes unter den Menschen einzutreten – dafür gibt es keine auserwählten, festen Orte. Nicht nur hier in der Kirche, nicht nur im Gemeindehaus, beim Treffen unserer kirchlichen Gruppen ist der Ort, an dem Menschen ihr Leben nach Gottes Willen ausrichten und sich von seiner Kraft ermutigen lassen. Jeder Ort – und sei es der dunkelste und unscheinbarste Ort – ja vielleicht gerade er, ist der richtige Ort, vom Licht der Welt zu zeugen, dieses Licht in Form von tätiger Liebe und Herzenswärme unter die Menschen zu tragen. Wir alle wissen um die dunklen Ecken unter den Brücken und Bahnhofsunterführungen unserer Städte, wir alle wissen um die tristen Unterkünfte von Asylsuchenden, wir alle wissen um die trostlosen Stuben so vieler älterer und einsamer Menschen, wo schon seit so langer Zeit keiner mehr ein Licht der Mitmenschlichkeit und der Liebe hingetragen hat.

Mit seinem Auftreten ausgerechnet in Sebulon und Naftali – einer Region Israels, aus dem keiner Gutes zu erwarten erhoffte, zeigt Jesus deutlich: Kommt heraus aus Euren vertrauten und wohlbekannten Kreisen, kommt heraus aus Euren hellen und frohen Verhältnissen und geht dahin, wo der Kummer wohnt, die Not und die Traurigkeit.

"Das Volk, das im Finstern saß, hat ein großes Licht gesehen; und denen, die saßen am Ort und im Schatten des Todes ist ein Licht aufgegangen."

Und das ist die letztlich entscheidende Botschaft, die uns aus diesen Versen bis in die Gegenwart hinüberleuchtet: Wo immer Ihr auch seid, wann immer Ihr Euren Mund öffnet zum mutigen Wort oder Eure Hände regt zur helfenden Tat, das Licht der Liebe Jesu begleitet Euch. Ihr seid – wie es dann in der Bergpredigt heißt – das Licht der Welt, das es nicht ängstlich zu verbergen gilt, sondern das leuchten soll, damit es heller, freundlicher und wärmer wird in unserer oft so dunklen Welt.

Buße tun ist dann nichts anderes als dies: das Licht der Liebe Jesu ergreifen und sein Leben fortan von dieser Liebe und von nichts anderem mehr bestimmen zu lassen. Dann ist das Reich Gottes mitten unter uns.

Lassen Sie mich schließen mit Worten von Friedrich Rückert, die von Gottes Licht künden, das aus denen, die in Finsternis und Schatten des Todes sitzen, zu Menschen macht, deren Existenz erhellt wird und dann selbst zu Licht- und Hoffnungsträgern werden:

"Gekommen in die Nacht
der Welt ist Gottes Licht;
wir sind daran erwacht
und schlummern fürder nicht.
Wir schlummern fürder nicht
den Weltbetäubungsschlummer,
wir blicken wach ins Licht,
aufs Nachtgrau ohne Kummer.
Wo ist der Nächte Graun?
Es ist vom Licht bezwungen;
wir blicken mit Vertraun
ins Licht, vom Licht durchdrungen.
Amen.

Erläuterung

Die vorliegende Predigt bedenkt in einem ersten Schritt die matthäische Darstellung des Beginns von Jesu Wirksamkeit, die den Zeitpunkt und den Ort in charakteristischer Weise benennt und den zentralen Gehalt von Jesu Botschaft zur Sprache bringt.

In einem zweiten Schritt werden diese drei Gesichtspunkte auf unser eigenes Eintreten für die Sache Gottes angewandt. Inhaltlich geht es mir darum, aufzuzeigen, wie das in Jesus in die Welt gekommene Licht Gottes uns Christen zu Lichtträgern machen kann (vgl. Mt 5,14). Exegetisch von Bedeutung ist, daß Jesu Rückkehr nach Galiläa kein Rückzug bedeutet (Mt 4,12), sondern ein Zeichen dafür ist, daß Gottes Licht gerade bei den Menschen aufgehen und scheinen will, die nicht im Zentrum des allgemeinen Interesses stehen, sondern am Rand leben, die verloren zu sein scheinen in einer für sie dunklen und bedrohlichen Welt.

Die Predigt ist konzipiert für den Universitätsgottesdienst in der Ev. Apostelkirche, Bochum-Querenburg.

Verfasser: Doz. Dr. Werner Zager, Hauptstr. 22, D-67591 Wachenheim, Tel. 06243 - 905465.

[Zum Anfang der Seite]

[Zurück zur Hauptseite] [Zum Archiv] [Zur Konzeption] [Diskussion]