Göttinger Predigten im Internet, hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch


2. Sonntag nach Weihnachten
Datum: 3.1.1999
Text: Johannes 1, 43-51
Verfasserin: Pastorin Elisabeth Tobaben


Liebe Gemeinde!

Wenn ich in dieser Zeit kurz nach Weihnachten durch die Straßen gehe und überall Berge von geplünderten Tannenbäumen mit Lamettaresten und abgefallenen Nadeln herumliegen sehe, dann wird mir richtig ein bißchen wehmütig zumute. Schade eigentlich, denke ich dann, daß die schöne weihnachtlich-festliche Zeit nun schon wieder vorbei ist!

Vom Kirchenjahr her stecken wir allerdings noch mittendrin in der Weihnachtszeit. Man merkt es nur kaum, weil es so schnell schon wieder so unweihnachtlich-alltäglich bei uns zugeht. Wir haben uns daran gewöhnt, schon die Adventszeit zu Weihnachten zu rechnen mit all ihren Vorbereitungen und der vor-weihnachtlichen Stimmung und Hektik. Daß auch die Epiphaniaszeit mit den heiligen drei Königen eigentlich noch zu Weihnachten gehört, ist weniger im Bewußtsein – zumindest bei evangelischen Christen.

Tatsächlich hat uns inzwischen schon der nüchterne Alltag wieder eingeholt. Ungelöste Fragen sind immer noch da, liegengebliebene Arbeiten müssen erledigt werden, Pläne und Hoffnungen sind unerfüllt wie zuvor. Die Welt wird nun wieder ärmer an Engeln und Erscheinungen und damit auch wieder ein bißchen kälter und unromantischer. Auch der Stern wird bald verschwunden sein, und die Weisen werden aufbrechen "auf einem andern Weg wieder in ihr Land".

Ich denke, auch viele von uns dürften wohl noch eine Weile damit beschäftigt sein, diesen Übergang von Weihnachten und Sylvester in das letzte Jahr dieses Jahrtausends wirklich hinzubekommen: - damit, einen Weg zu finden, auf dem es sich weiterzugehen lohnt, - damit, die 'guten Vorsätze' vom Jahreswechsel zu verwirklichen...

"Wie geht es weiter?"

Das dürfte wohl die Frage sein, die uns heute am meisten auf allen möglichen Gebieten beschäftigt: in Politik und Wirtschaft, im Hinblick auf den weltweiten Friedensprozeß, in unserem Planen und Hoffen für unsere Familien und unsere Kirchen. Wünsche und Träume werden wach.

"Wie geht es weiter?" fragt auch der nüchterne, unweihnachtliche Text aus dem Johannesevangelium, über den wir heute Morgen nachzudenken haben. Schon die Menschwerdung Gottes hatte Johannes gänzlich "unweihnachtlich" beschrieben - nichts von "Stille Nacht", Kind in der Krippe und singenden Engeln. Eher philosophisch-betrachtend sagt Johannes: "Er kam in sein Eigentum - und die Seinen nahmen ihn nicht auf." (V. 11)

Nun - gut dreißig Jahre nach den Hirten und Weisen (die uns in den anderen Evangelien begegnen) - treten doch wieder Menschen in Erscheinung, die sich für Jesus interessieren: Werden sie ihn aufnehmen?

Textverlesung: Joh. 1, 43-51

Mitten hineingeworfen werden wir mit dieser Erzählung in eine Reihe von Begegnungen zwischen Menschen. So ähnlich erlebe ich es auch manchmal, wenn ich abends spät nach Hause komme und nochmal schnell den Fernseher einschalte und mitten in einen Film gerate, der schon begonnen hat. Dann brauche ich wohl manchmal eine ganze Weile, um mich zu orientieren, um herauszufinden: 'Wer ist hier eigentlich wer und worum geht es überhaupt?'

Das geht mir hier nicht viel anders. In diesem Fall sind es in unserem Abschnitt jetzt Philippus und Nathanael, die im Mittelpunkt des Geschehens stehen. So ganz nebenbei werden eingangs auch noch die Brüder Andreas und Simon erwähnt - und davor spielen dann auch noch ein paar Johannes-Jünger mit und Johannes der Täfer selbst.

Eine Geschichte, die mich geradezu dazu herausfordern könnte, ein Drehbuch dazu zu schreiben, um die Reihe dieser Begegnungen zu inszenieren.

Es sind Szenen ganz am Anfang des öffentlichen Wirkens Jesu. Jesus sucht Menschen, die ihn auf seinem Weg begleiten wollen, Schüler - wie sie die jüdischen Lehrer und Wanderprediger damals um sich zu sammeln pflegten. Die Werbung scheint nach dem "Schneeballprinzip" zu funktionieren. Es spricht sich herum, was einige behaupten: "Wir haben den Messias gefunden!"

Die, die schon selber Jesus begegnet sind, die einfach beeindruckt sind von ihm, die gespürt haben, daß von ihm etwas ausgeht, was ihr ganzes bisheriges Leben auf den Kopf stellen wird, die erzählen weiter, was sie erlebt haben. Aber wie diese Gespräche ablaufen!!!

Etwa dieses ganz kurze Gespräch zwischen Philippus und Nathanael. Im ersten Moment hatte ich das gefühl: O weia, da läuft ja wirklich alles schief! So kann man doch niemanden überzeugen. Mein Drehbuch hätte sicherlich an dieser Stelle ein langes Streigespräch eingefügt. Da ist am Anfang der aufs Knappste zusammengefaßte Bericht:

"Wir haben ihn gefunden, Jesus, Josefs Sohn aus Nazareth. Er ist der, den die Propheten angekündigt haben".

Und prompt kommt die Abwehr von Nathanael: "Nazareth??? Das kann doch wohl nicht dein Ernst sein??? Was kann aus Nazareth Gutes kommen?"

Nathanael weiß Bescheid, er hat natürlich immer wieder über Mose und die Propheten nachgedacht, mit den überlieferten Texten gearbeitet. Sein Platz unterm Feigenbaum weist ihn als Gelehrten aus. Bäume, Feigenbäume insbesondere, waren Orte, an die sich Rabbiner zum Studium der Schriften zurückgezogen haben; Orte der Besinnung, der Erkenntnis, der wichtigen Einsichten. Nathanael kennt seine Bibel.

Und, wie gesagt, trotzdem kann es sein, daß einem Menschen wichtige und richtige Erkenntnisse im Wege stehen, wenn es darum geht, etwas Neues offen und vorurteilsfrei wahrzunehmen zu können.

"Das war aber schon immer so!" heißt es oft in unserer Kirche. Und wir merken kaum noch, wie sehr wir damit fixiert sind auf bestimmte Ideen und Methoden. Und vor allem: wie sehr wir unseren Blickwinkel einschränken mit solchen Sätzen, was uns verlorengeht an wichtigen und weiterhelfenden Einsichten...

So ging es anfangs auch Nathanael. Nazareth war nicht vorgesehen in seinem Denkschema als Herkunftsort des lang ersehnten Messias. Und so muß er zunächst abwehren. Er wertet auch mit seiner Frage. "Skeptisch und abfällig" könnte die Regieanweisung für diese Stelle lauten. "Nazareth?"

Aber Nathanael hat Glück! Er trifft mit Philippus auf einen Gesprächspartner, der das aushalten kann, der sich nicht sofort bemüßigt fühlt, mit Argumenten dagegen zu halten. Er muß nicht sofort missionarisch tätig werden.

Die Versuchung ist groß, wir kennen das ja wahrscheinlich alle. Wenn sich jemand nicht gleich überzeugen läßt von unseren neuesten bahnbrechenden Erkenntnissen, dann sind wir nur zu leicht geneigt, ein Argument nach dem anderen aus der Tasche zu ziehen, um die anderen doch noch auf den ‘richtigen’ Weg zu bringen. Es kann sein, dass ich damit den Widerstand bloß noch verstärke.

Vielleicht sind die anderen dann immer weniger in der Lage, den eigenen Standpunkt zu verändern, überhaupt zu hören, was ich sage.

Ganz anders Philippus. Kein einziges weiteres Argument, kein Überzeugungsversuch, keine gekonnten Überredungskünste - sondern ganz schlicht und knapp eine Einladung: "Komm und sieh!"

Er traut dem anderen zu, daß er sich selbst überzeugen kann und nicht überredet werden muß. Und er traut Jesus zu, daß er überzeugen kann in der direkten Begegnung.

Auf die Begegnung kommt es an!

Zwischen Jesus und Nathanael kommt sie zustande. Nathanael kommt, steht auf, geht Jesus entgegen. Aber noch ehe er seine Fragen stellen kann, seine Bedenken äußern, hört er verblüfft, daß Jesus schon über ihn spricht! Mehr noch: ihn ganz genau zu kennen scheint.

Jesus spricht ihn nicht nur auf seine religiöse Identität an, nimmt ihn ernst als Gelehrten, der in der Tradition seines Volkes steht, sondern er erkennt auch die menschlichen Qualitäten Nathanaels: "Ein echter Israelit ohne Falschheit" nennt er ihn (V.47) Und Nathanael fühlt sich erkannt, durchschaut!

Aber anders als es sonst oft passiert, ist es offenbar kein bloßstellendes und verletzendes Durchschautwerden, sondern es ist geprägt von Wärme und Zuwendung. Und so muß Nathanael nicht mit weiterer Abwehr agieren, sondern kann sich wirklich einlassen auf diese Begegnung. Und so kann sie zu dem eigentlichen Perspektivenwechsel führen. Dazu, daß ein Mensch seine bisherigen Lebensüberzeugungen überprüfen kann, sich auf neues, unsicheres Gebiet wagen kann und plötzlich merkt: Es wird alles viel weiter und offener und freier, der Himmel geht auf über mir. Und zum Bekenntnis: "Du, Rabbi, bist Gottes Sohn"!

"Komm und sieh!" Für viele Menschen ist auch in diesem Jahr das Weihnachtsfest eine solche Einladung gewesen. Es wäre schön wenn der Ort unterm Tannenbaum für viele auch der Ort des Besinnens, des Nachdenkens geworden wäre - wie die Feige für Nathanael.

Wie geht es weiter?

Mein Traum sieht unsere Kirche als Ort für solche Begegnungen, wie sie hier bei Johannes erzählt werden - Begegnungen, die Leben verändern; als Ort der Begegnung zwischen Menschen, der Begegnung mit Jesus, der Begegnung mit sich selbst.

Hoffnungsvolle Ansätze gibt es viele. Wie wäre es denn, wenn wir als Motto über das gerade begonnene neue Jahr die Einladung des Philippus setzten? Sie läßt dem einzelnen so viel Freiheit. Und zugleich setzt sie so viel Zutrauen in Gottes Handeln, in die Fähigkeiten des Menschen und in die Überzeugungskraft der Gemeinde: "Komm und sieh!"

Amen.

Anmerkungen:

Die für den 2. Sonntag nach Weihnachten vorgesehene Perikope Joh. 1,43-51 nimmt eine Zwischenposition zwischen Prolog und öffentlicher Wirksamkeit Jesu ein. Die Frage : "Wer bist du?" aus 1,19 wird sich durch das ganze Evangelium ziehen und gibt auch hier bei der Berufung der ersten Jünger schon das Thema an.

In Teil I (Kap. 1-12) offenbart sich Jesus als der von Gott Gesandte und bewirkt, dass die Menschen sich ihm gegenüber als Gläubige oder Ungläubige verhalten, ein Schema, das auch in 1, 43-51 schon erkennbar ist.


Pastorin Elisabeth Tobaben

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