Göttinger Predigten im Internet, hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch


1. Weihnachtstag
Datum: 25.12.1998
Text: Micha 5, 1 - 4 a
Verfasser: Prof. Dr. Klaus-Peter Hertzsch


Text:

Du, Bethlehem Efrata, die du klein bist unter den Städten in Juda, aus dir soll mir der kommen, der in Israel Herr sei, dessen Ausgang von Anfang und von Ewigkeit her gewesen ist. Indes läßt er sie plagen bis auf die Zeit, daß die, welche gebären soll, geboren hat. Da wird dann der Rest seiner Brüder wiederkommen zu den Söhnen Israels. Er aber wird auftreten und weiden in der Kraft des Herrn und in der Macht des Namens des Herrn, seines Gottes. Und sie werden sicher wohnen; denn er wird zur selben Zeit herrlich werden, so weit die Welt ist. Und er wird der Friede sein.

Predigt:

Im Krippenspiel bei uns zu Hause gab es natürlich all die vertrauten Rollen: Maria und Joseph, Hirten, Engel und Könige. Dazu aber kamen bei uns noch einige Gestalten, die man nicht ohne weiteres erkannte. Sie traten vor die Gemeinde, ehe die eigentliche Weihnachtsgeschichte begann. Es waren die Propheten, die Kommendes anzusagen hatten. Sie wurden eher grau und etwas urtümlich gekleidet und hatten auch keinen gereimten Text wie die andern, sondern sagten Worte, die unmittelbar aus der Bibel entnommen waren, aus den Prophetenbüchern des Alten Testaments. Dabei war nicht zu übersehen: Während sonst das Krippenspiel im vertrauten Rythmus ablief, gab es bei diesen Propheten eine besondere Aufmerksamkeit. Da war ein Ton, der die Leute aufhorchen ließ. Sie hatten einen Moment lang das Gefühl: Der redet ja von uns.

Alte Leue erinnern sich sicher noch an die Weihnachten in den Trümmer- und Hungerstädten der Kriegs- und der Nachkriegsjahre. Wenn damals der Prophet Jesaja begann "Das Volk, das im Finstern wandelt, sieht ein großes Licht, und über die, die da wohnen im finsteren Land, scheint es hell", war es ganz still in der Kirche. Sind nicht wir dieses Volk, dachten alle, und wo ist denn dieses Licht? Und als Jahrzehnte später auf beiden Seiten der innerdeutschen Grenze die Atomraketen aufgestellt waren und wir wußten: ein Funke, und alles ist zu Ende, da verstanden wir, was das Prophetenwort bedeuten könnte:"Er heißt Wunderbar-Rat, Ewig-Vater, Friede-Fürst" und "Sie werden nicht mehr lernen, Krieg zu führen." Ja, dachte die Gemeinde, das wäre gut. Nach dem, was der sagt, sollte man sich richten.

Zu diesen Gestalten gehörte auch der Prophet Micha - vor allem mit dem ersten Satz aus unserm heutigen Predigttext:"Du, Bethlehem, Efrata, die du klein bist unter den Städten in Juda, aus dir soll mir kommen, der in Israel Herr sei, dessen Ausgang von Anfang und von Ewigkeit her gewesen ist." Der Ortsname Bethlehem gehört natürlich genau in solch ein Weihnachtsspiel. "Zur Krippe her kommet in Bethlehems Stall", fiel jedem gleich ein und "O Bethlehem, du kleine Stadt, wie stille liegst du hier" - "die du klein bist unter den Städten in Juda" Und es wird ja auch erzählt: als die Weisen aus dem Morgenland fragten, wo der neugeborene König zu finden ist, da zitierten die Schriftgelehrten eben diesen Propheten Micha.Der Junge, der den Propheten im Krippenspiel zu sprechen hatte, wollte gern wissen: Wer war denn dieser Mann, der vor undenklich langer Zeit auf Bethlehem hingewiesen hat? Es zeigte sich, daß man über ihn fast nichts weiß, nur so viel, daß er etwa 700 Jahre vor der Geburt Christi lebte und daß zu vermuten ist, er war ein einfacher Mann, vielleicht ein Schafzüchter oder Kleinbauer. Denn in vielem, was er im Auftrag Gottes den Reichen und Mächtigen von damals sagte, klingt die Erfahrung und bebt der Zorn des betroffenen und geschundenen kleinen Mannes. "Die Reichen tun viel Unrecht," sagte er, "und haben falsche Zungen in ihrem Halse." Vielleicht würde die heutige Gemeinde beim Krippenspiel neu aufhorchen, wenn der Micha-Spieler dort noch andere Teile aus dessen Buch vortragen würde und nicht nur den Spruch über Bethlehem. Vielleicht fiele ihnen die heutige Macht des Geldes ein und die Schar der cleveren Immobilien-Spekulanten, wenn sie hörten:"Wehe denen, die mit bösen Gedanken umgehen auf ihrem Lager, daß sie es frühe, wenn 's licht wird, vollbringen, weil sie die Macht haben: Sie reißen Äcker an sich und nehmen Häuser, wie sie's gelüstet." Vielleicht fiele ihnen auch das Fernseh-Programm vom gestrigen Abend ein und dazu die letzte Kriminal-Statistik aus unseren unsicheren Städten, wenn Micha im Krippenspiel riefe:"Sie lauern alle auf Blut. Einjeder jagt den andern, daß er ihn fange. Ihre Hände sind geschäftig, Böses zu tun." Man könnte sich den rauhen Micha als einsamen Rufer auf unsern weihnachtlichen Glitzerstraßen vorstellen, wie er neben dem Leierkastenmann und dem Bettler mit dem Schild "Obdachlos" steht und ruft:"Wenn ich ein Irrgeist wäre und ein Lügen-Prediger und predigte, wie sie saufen und schwelgen sollen, das wäre ein Prediger für dieses Volk." Nein, ein stimmungsvoller Weihnachtsprediger ist dieser Micha überhaupt nicht. "Des Herrn Stimme ruft über die Stadt:" sagt er, "Ich will anfangen, dich zu plagen und um deiner Sünden willen wüst zu machen." Denn erbarmungsloser Reichtum und rücksichtslose Macht haben Konsequenzen, und eine Gesellschaft auf solchem Wege hat keine Zukunft.

All das muß man wissen, wenn man die guten Verheißungsworte des Micha hört. Denn umso wichtiger ist es, daß er offenbar auch für ein solches Volk, auch für eine solche Welt eine Verheißung hat und Hoffnungsbilder aufleuchten läßt für Menschen, die sich so verrannt haben und die so geplagt sind von dem, was sie sich selber angerichtet haben. Wenn sie niedergeschlagen sind und sich in ihren stillen Stunden und in ihren lauten Diskussionen fragen: Wo um Gottes Willen soll denn das schließlich hinführen? , dann erzählt er ihnen von einer anderen, einer guten Zukunft. Die Gottvergessenheit führt ins Gericht, aber das Gottvertrauen führt in die Hoffnung. Ständig werden Kinder geboren, und unter ihnen wird eines Tages eins sein, sagt Micha, aus dem für die geplagten Menschen wirklich ein Segensbringer werden wird. Und alle, die die Krisen und Katastrophen schließlich doch überstanden haben , sie werden endlich zu einander finden. Die Verschleppten und die Davongelaufenen, die Vertriebenen und die Geflohenen, sie werden freundlich willkommen geheißen von denen, die zu Hause durchgehalten und die schlimmen Zeiten überstanden haben. Und für sie zum Hoffnungsträger wird nur einer werden, der nicht wie ein machtbewußter Feldherr, sondern wie ein aufmerksamer, behutsamer Hirte mit ihnen in eine andere Zukunft zieht. Da werden sie in ihrem Lande sicher wohnen, sagt der Prophet, das heißt: ohne vor einander Angst haben zu müssen, und ohne Mißtrauen gegen ihre Nachbarn und ausländischen Mitbewohner. Und das, sagt Micha, wird der Friede sein , in seiner eigenen hebräischen Sprache: der Schalom - ein Wort, das viel mehr bedeutet als Waffenstillstand und Kompromißlösung, sondern das gesegnete Zeit meint, gerecht verteilter Wohlstand und gute Gesinnung für einander, ein entspanntes Leben unter Gottes freundlichen Augen. Darum begrüßt man sich auch in Israel, ja in der ganzen jüdischen und arabischen Welt mit diesem Wort wie wir mit einem guten Tag. Das alles wünschen wir einander, sagt man damit. Wir sind noch nicht dort; aber wir wissen doch, wo wir mit euch hinwollen:In den Schalom.

Was Micha hier schildert, ist ein Sehnsuchtsbild für die Judenheit in all den Jahrhunderten seither, in denen sie Entsetzliches erlebt und erlitten hat, zerstreut über den ganzen Erdball, verleumdet, verjagt, verbrannt umd vergast. Und wir können gut verstehen, mit welchem unbeschreiblichen Hochgefühl sie an das denken ,was vor nunmehr 50 Jahren geschehen ist, als der Staat Israel gegründet wurde und wirklich "der Rest seiner Brüder wiedergekommen ist zu den Söhnen Israels", und was es für sie bedeutet, endlich, endlich in ihrem Land "sicher zu wohnen". Noch wohnen sie nicht sicher zusammen mit ihren palästinensischen Nachbarn. Noch ringt in Israel der Machtwille mit dem Schalom. Aber sie sind doch auf dem Wege dorthin. Der Prophet Micha macht ihnen Mut. Und Gott helfe ihnen zu diesem ihrem, zu diesem Seinem Ziel.

Man kann fragen: Ist das jetzt noch eine Weihnachtspredigt? Hat uns der alttestamentliche Prophet am Anfang des Krippenspiels von der Krippe weggeführt? Sicher nicht. Vielmehr führt Bethlehem, die Davidsstadt und die Geburtsstadt Jesu das Volk Gottes des Alten und des Neuen Bundes zu einander, zeigt uns unsern gemeinsamen Ursprung und unsre gemeinsame Hoffnung. Und vom Schalom singen auch die Engel der Heiligen Nacht über Bethlehems Feld. Jesus wird geboren in die Welt des Micha: In die kleine, entlegene Stadt, in die Armut der Schafzüchter und Kleinbauern mit dem Blick von unten und der Sehnsucht nach dem verheißenen Gottesfrieden. Jesus selbst verkündet diesen Frieden als das Ziel der Welt. "Friede sei mit euch!" so hat er seine Jünger begrüßt. Es ist etwa anderthalb Jahrzehnte her, daß sehr viele junge und bald auch ältere Christen bei uns in der DDR sich diesen Wunsch und Ruf ihres Herrn sichtbar auf ihre Ärmel oder an die Mützen nähten entgegen allem behördlichen Widerstand . "Schwerter zu Pflugscharen" hieß die Aufschrift und darunter: "Micha 4,3". Da half in unseren Tagen dieser Prophet zu einem wichtigen Schritt nach vorn. Denn er hatte eine weite Perspektive. Er wußte ein Geheimnis , von dem später auch der Evangelist Johannes in seinem Weihnachtstext reden wird: Es geht hier um Gottes Geschichte mit seiner Welt, deren "Ausgang von Anfang und von Ewigkeit her gewesen ist". Über allem Auf und Ab der Menschheitsgeschichte führt Gott diese Welt zu dem Ziel, das er ihr von Anfang und von Ewigkeit her bestimmt hat, und der in Bethlehem geboren wurde, als die Zeit erfüllt war, war von Anfang an in diesem Plan. Das verbindet den Propheten Micha mit ihm: daß auch Micha das Ziel kennt und deshalb weiß, wie Gottes Hoffnungsträger aussehen muß.

Ephraim Kishon, als Jude in Deutschland geboren und heute ein großer Erzähler in Israel, berichtet: Er hat einst seine Klassenkameraden, die sich auf Weihnachten freuten, gebeten, ihnen wenigstens helfen zu dürfen, ihren Christbaum nach Hause zu tragen. Aber sie ließen den jüdischen Jungen dabei nicht zu. Und nun trägt der Altgewordene seine Bitte und seine Hoffnung vor, daß er von uns Christen wenigstens heute zu dem eingeladen wird, was man ihm damals verweigert hat, den Lichterbaum ein Stück mitzutragen und zwar zu einem großen Fest des Friedens aus Anlaß der Geburt Jesu, der ja immerhin Jude gewesen sei. Und ich denke jetzt: Der jüdische Junge, der den Christbaum tragen will, und der christliche Junge, der den jüdischen Popheten Micha darstellt: gemeinsam ist uns die Sehnsucht, in unserm Land sicher zu wohnen und die Zuversicht, daß nach Gottes Willen auch für uns die Zeit sich erfüllt, daß sie nicht leer ist, nicht tot, nicht gleichgültig, sondern erfüllt von sicherer Hoffnung auf Gottes großen Schalom.

Praktisch-theologische Vorbemerkung:

Die Predigt ist bestimmt für eine Innenstadt-Gemeinde in Jena, für Menschen, die in der Regel schon am Vorabend in der Christvesper die Weihnachtsbotschaft im Ganzen und Grundsätzlichen gehört haben. Ungewöhnlich ist die Aufgabe, am Christfest über einen Text aus dem Alten Testament zu predigen. Die Stichworte "Bethlehem" und "Friede". verbinden das eine mit dem andern. Aber die Predigt würde dem Text nicht gerecht, wenn sie diese beiden Worte nur als Ausgangspunkt für allgemeine weihnachtliche Überlegungen verwenden würde. Wer Micha predigt, muß deutlich machen, daß er ein scharfer sozialkritischer Warner und Strafprediger war; erst in diesem Kontext stehen seine Verheißungen und Hoffnungsbilder im richtigen Licht. Es wäre weder realistisch noch theologisch richtig, davon auszugehen, diese Hoffnungen hätten sich als Erfüllung der Verheißung inzwischen längst erfüllt. Jesus, in Bethlehem geboren als Mitte und Wende der Zeit, ist unser Hoffnungsträger geworden; aber dem endgültigen Ziel gehen wir mit dem alten Gottesvolk gemeinsam noch entgegen. Das will die Predigt deutlich machen.

Verfasser: Prof. Dr. Klaus-Peter Hertzsch
Ricarda-Huch-Weg 12 077 43 Jena
Tel.: 0 36 41 / 42 66 00

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