Göttinger Predigten im Internet, hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch


Heiligabend
Datum: 24.12.1998
Text: Johannes 3, 16
Verfasser: Dr. Hinrich Buß Landessuperintendent


"Also hat Gott die Welt geliebt, daß er seinen eingeborenen Sohn gab, damit alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben."

Ein Satz nur,
liebe Gemeinde am Heiligabend,
aber er hat es in sich. Ein Satz, angefüllt mit starken Worten und spürbarer Spannung, sich bewegend zwischen Zugrundegehen und Gerettetwerden. Hineingesprochen in die Stille Nacht und behutsam daherkommend. Hineingesprochen auch in den Lärm der Weihnachtszeit und selbst darin seinen Weg findend.

Das Weihnachtsgewusel hat viele in Atem gehalten bis vor wenigen Stunden, wenn nicht bis vor wenigen Minuten. Geräusche sind noch im Ohr, Melodiefetzen von adventlichen Liedern, tausendmal getingelt und abgenudelt. Sogar das Halleluja aus Händels Messias, Es entströmte dem Fernsehen, direkt im Anschluß an die Nachrichten, noch vor dem Wetter, im Werbeblock. Das Halleluja war die unterlegte Melodie für die werbewirksame Beförderung der Nummer einer Telefonauskunft: 0-10-90. Halleluja. So kann sie sich wie ein Ohrwurm im Gehörgang festsetzen. Der potentielle Anrufer summt die Melodie vor sich hin und hat alsbald die Zahl im Sinn. Geschickt ausgedacht. Hier wie auch sonst'. Weihnachten wird gebraucht und verbraucht. Paradiesisch sind Geschenke, himmlisch die Telefonverbindung, göttlich nun unsere Stadt Göttingen. Wer's glaubt, ist selbst schuld und wird keinesfalls selig.

Es lohnt nicht, sich zu grämen ob der bald vergessenen Parolen. Sie verbrauchen sich schneller als die Originalbotschaft. Diese entfaltet ihre Kraft, selbst wenn sie leise daherkommt. So wie der Satz aus dem Johannesevangelium, in einem nächtlichen Gespräch formuliert und nun in diese Nacht hinein gesagt. Er kann uns Augen und Ohren öffnen für das weihnachtliche Geschehen.

1 .

Das Stärkste steht gleich am Anfang. "Also" hebt der Satz an, und man darf mit Fug und Recht eine wichtige Auskunft erwarten. "Also hat Gott die Welt geliebt..." Der Eindruck ist stärker noch, wenn "also" durch "so sehr" ersetzt wird. "So sehr hat Gott die Weit geliebt" Die Meßlatte wird gleich auf die höchste Stufe gelegt, obwohl, nein weil sich das Geschehen auf der untersten Ebene abspielt. Gott ist auf der Höhe seiner Liebe, als er sich in die Tiefe der Krippe begibt. Ist das zu begreifen?

Man gebe Kindern, die sonst viel vor dem Fernseher sitzen, Scheren in die Hand, Pappe, Farbstifte, Klebstoff und lasse sie eine Krippe bauen, im 1. Schuljahr schon, und sie werden die Pause vergessen und mit roten Wangen schnippeln und malen und kleben. Gott werden sie nicht gleich herausfinden und ausschneiden, er hat seine Liebe ja auch in der Krippe versteckt. Aber die Gebärde der Liebe werden sie entdecken und mit liebevoller Tätigkeit beantworten. Solches geschieht in der Schule und auch bereits im Kindergarten, und selbst auf der Kinderstation im Krankenhäusern sind Flure, Türen und Wände ausgestattet mit Krippen und ihren markanten Figuren. Zwischen den Ständen auf dem Weihnachtsmarkt steht sie auch, eine selbstgebastelte Krippe, und sie ist die geheime Mitte.

"So sehr hat Gott die Welt geliebt, daß er seinen eingeborenen Sohn gab..." Die Krippe ist nicht Folklore. Sie ist nicht Idylle. Gott gab seinen Sohn in die Krippe, mit vollem Risiko. Man und vor allem frau ahnt es sofort: Das kann nicht gut gehen. Der Wind pfeift durch die Ritzen, das mag noch vergleichsweise harmlos sein. Die Stiefel der Herodes-Schergen werden bald hörbar, von dem Stall in Bethlehem entfernen sie sich diesmal wieder. Aber spätestens bei dem Statthalter ist es so weit, wie wir unserem Glaubensbekenntnis entnehmen können: "... gelitten unter Pontius Pilatus, gekreuzigt, gestorben und begraben ..." Geben heißt in diesem Fall "dahingeben, drangeben". Da haben wir die Bescherung: "Gott wird ein Kind, träget und hebet die Sünd ..." Und trotzdem: "Alles anbetet und schweiget". Die Gebärde der Liebe wird verstanden. Das volle Risiko macht sie glaubhaft. "Ehre sei Gott in der Höhe, der heruntergekommen ist in meine Tiefe."

2.

Die Konsequenz folgt auf dem Fuße: "damit alle... nicht verloren gehen, sondern das ewige Leben haben". Heinrich Schütz hat zu dem Satz aus Joh.3,16 eine Motette komponiert, und bei dem Worte "alle" kommt die Musik ins Laufen: "auf daß alle alle - alle - alle nicht verloren werden, mehrfach wiederholt. Alle sind gemeint, man hört es und sieht sie kommen, die Kinderlein zuhauf und die Erwachsenen auch, viele machen sich an diesem Abend auf den Weg in die Kirche oder zu Verwandten, oder in eine Veranstaltung. "Keiner soll einsam sein". Wenn Gott die Welt liebt und dies seinen Ausdruck in der Krippe findet, wie sollen da nicht alle, alle gemeint sein?

Aber nun habe ich zwei Wörter ausgelassen: Alle, die glauben, Wenn ich sie hervorhole, sehe ich Enttäuschung in etlichen Gesichtern. Es gibt also doch eine Bedingung, es gibt doch eine Einschränkung. Und so werden aus allen nur noch viele oder gar nur wenige. Der Glaube, so scheint es, steht wie eine hohe Barriere vor der gemeinsamen Freude. Weihnachten feiern, ja gern; aber an Gott glauben und nun auch noch daran, daß er Mensch geworden sei, ist nicht jederrnanns Sache. Wenn diese Barriere aufgerichtet wird, sind zahlreiche Personen ausgeschlossen. Tatsächlich?

Sie sind mehr von dem Weihnachtsgeschehen erfaßt, als sie meinen. Viele sind angerührt, angesteckt, hineingezogen in das Ereignis. Und was ist Glauben anderes als ein Gepacktwerden? Ich bin es ja nicht, der sich entschließt: Ab heute wird geglaubt. Ich werde in den Bann gezogen. Es packt mich. Er, Gott, packt mich. Glauben bedeutet: In das göttliche Geschehen hineinverwoben zu sein, an die Kraftquelle angeschlossen zu werden.

Am 2. Weihnachtstag klingelte es an der Haustür. Ein Obdachloser, mir gut bekannt, stand davor. Er bekam Stollen, heißen Tee und, damit es ein frohes Fest werde, auch einen Heiermann. "Vergelt's Gott", sagte er gutgelaunt und zog davon. "Was, Sie reden von Gott?", rief ich hinter ihm her. Da blieb er stehen, kehrte um, trat auf mich zu, zeigte mit der Hand auf die Brust und brummelte los: "Da wohnt Gott drin, das können Sie mir glauben. Und die zehn Gebote, die sind auch da drin, und die Weihnachtsgeschichte sowieso. Alles habe ich gelernt und aufbewahrt. Wovon soll ich denn sonst leben? Ich war baff, wußte nichts zu sagen. Wozu auch, er hatte gepredigt, draußen vor der Tür. "... damit alle, die da glauben, nicht verloren werden..." Ja, wer glaubt, ist nicht verloren.

3.

Wer glaubt, ist nicht verloren. Stimmt das oder ist es schnell und somit verantwortungslos dahingesagt? Es gehen viele zugrunde. Täglich. Auch heute abend. Es ist denkbar, daß das frohe Fest manche erst ins Unglück stürzt. Ich habe als Student einem Kreis angehört, der ein Jugendgefängnis in regelmäßigen Abständen besuchte. So auch in der Adventszeit. Wir hatten ein angeregtes Gespräch geführt und baten sodann die jungen Männer, den Raum für einen Augenblick zu verlassen. Wir richteten ihn weihnachtlich her, hatten für jeden ein Päckchen geschnürt und legten es auf den Tisch, zündeten Kerzen an und baten die jugendlichen Gefangenen wieder herein.

Was folgte, brachte uns völlig aus dem Tritt. Alle verstummten. Sie sanken immer tiefer in ihr Schweigen und konnten nicht mehr herausgeholt werden. Wir waren hilflos und sind hilflos in unsere Studentenbuden zurückgefahren. Es gibt verschiedene Welten. Wer eingesperrt ist und damit ausgeschlossen aus der Gesellschaft, empfindet diese Situation in der Begegnung mit Weihnachten noch stärker. Das Leben ist nicht so, wie es sein sollte, wie es sein könnte. Das helle Licht wirft einen langen Schatten. "Welt ging verloren", dies ereignet sich täglich neu. Menschen versinken in Kummer und Elend.

Und doch gilt: Christ ist geboren, "und alle, die an ihn glauben, werden nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben." Lassen sie mich auch dies zunächst praktisch verdeutlichen. In Hamburg, der großen Stadt, gibt es einen "Mitternachtsbus". Er fährt eine besondere Route. Er klappert Brücken ab, Parkbänke, Erdhöhlen, Baustellen, Hauseingänge, in denen Menschen ohne Wohnung Unterschlupf gefunden haben. Sie bekommen ein heißes Getränk angeboten, eine warme Suppe, wenn nötig auch eine Decke. Mehr nicht. Von einem Arbeitsplatz ist nicht die Rede, von einer Wohnung ebensowenig. Woher auch nehmen mitten in der Nacht? Nur diese wenigen Gaben also. Sie sind nicht einmal das wichtigste. Entscheidend an diesem Mitternachtsbus ist für die Obdachlosen, daß jemand nach ihnen sieht, sich um sie kümmert, ein Wort mit ihnen redet oder auch zwei. Ein Zeichen dafür, daß sie nicht verloren gegeben werden. Um Mitternacht sind sie wieder Menschen. Auch in der Heiligen Nacht wird der Bus seine Tour fahren, und die, die Dienst tun, werden vermutlich nicht von der Menschwerdung Gottes reden. Aber sie werden so handeln, daß Ausgeschlossene für einen Moment dazugehören, daß Verlorene sich weniger verloren vorkommen, daß Geringgeschätzte Wertschätzung erfahren. Ein kleiner Weihnachtsstrahl nur, aber immerhin.

Er läßt erahnen, wie hell der Schein ist, wenn alle, die glauben, nicht mehr verloren werden, sondern das ewige Leben haben. Hier erst öffnet sich der weihnachtliche Vorhang ganz. Es geht um Leben, das Verlorensein überwindet. Es geht um ein Leben, das Fülle bringt und von Dauer ist. Es geht um ein Leben, das über Elend und Tod hinausreicht.

Noch einmal bekommt der Glaube grundlegende Bedeutung. Er ist das Organ, wenn ich so sagen darf, das den weiten Horizont Gottes erahnt, ertastet, vielleicht sogar in Umrissen erfaßt. Und wer nun meint, Glauben hieße, seinen Verstand abzugeben, dem sei mit Kant und anderen klugen Köpfen gesagt: Wage, dich deines Verstandes zu bedienen. So viel, so oft du kannst. Schöpfe deine Möglichkeiten aus. Aber damit ist der weite Horizont Gottes nicht ausgeleuchtet. Er hebt an, wenn wir noch nicht zu denken begonnen haben, und er ist längst nicht am Ende, wenn uns selbst die wissenschaftliche Welt mit Brettern vernagelt ist. Diese Größe, diese Weite ist nun versammelt in dem ganz Kleinen.

"Ich steh an deiner Krippen hier ..." beginnt eines der schönsten Weihnachtslieder. Und mitten in seinem Singen und Sinnen bricht es aus dem Sänger heraus: "Ach, daß mein Sinn ein Abgrund wär und meine See[ ein weites Meer, daß ich dich möchte fassen."

Ich schließe mit einer Karte. Eine Patientin im Krankenhaus, die ich besucht hatte und trösten wollte, gab sie mir mit. Ich las: "Schön ist es zu sehen. Schön ist es zu wissen. Überaus schön ist, was man nicht fassen kann."

Amen.

Dr. Hinrich Buß Landessuperintendent für den Sprengel Göttingen
Von-Bar-Str. 6
37075 Göttingen
Tel.: 0551 / 5 63 61

[Zum Anfang der Seite]

[Zurück zur Hauptseite] [Zum Archiv] [Zur Konzeption] [Diskussion]