Göttinger Predigten im Internet, hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch


Sonntag: 3. Sonntag im Kirchenjahr, 3. Advent
Datum: 13.12.1998
Text: Lukas 3, 1-14
Verfasser: Prof. F. H. Beyer

Liebe Gemeinde,
Daß wir uns in der Adventszeit befinden, das brauchen wir uns nicht zu sagen. Wir spüren es, wir sehen, riechen und schmecken es allerorten. Und das Besondere an dieser Vorzeit, dieser Zeit der Vor-Bereitung, ist wohl immer wieder, daß sie angefüllt ist von Vorbereitungen, von Erwartungen, von Freude, aber auch von Hektik und Streß.
Die lange Vorbereitungszeit vor dem großen Fest, vor Weihnachten, ist dabei von einer Vor-Zeit zu der Haupt-Zeit geworden. Die Weihnachtsdekoration in den Geschäften und auf den Straßen bleibt gleich - spätestens vom November an bis hinein in das neue Jahr. Die Veranstaltungen in verschiedenen Gruppen, in den Vereinen und in den Gemeinden konzentrieren sich ebenso auf diese Zeit vor Weihnachten. Keine andere Zeit des Jahres, so scheint es, ist so geprägt von Geschäftigkeit, von vorbereitenden Überlegungen und Tätigkeiten wie die Adventszeit. Keine andere Zeit im Jahr gibt so viel Veranlassung für gemeinsame Vorhaben wie die Vorweihnachtszeit. Da ist der Besuch des Weihnachtsmarktes, oder der gemeinsame Einkaufsbummel, da ist der Besuch eines Konzerts und die Weihnachtsfeier oder doch wenigstens das Kaffeetrinken beim Schein der Adventskerzen.
Bei so viel selbstverständlich gewordener Aktivität und Bemühung haben wir möglicherweise eine Pressemeldung in dieser Zeit kaum wahrgenommen. In dieser Meldung ist davon die Rede, daß auf Kuba in diesem Jahr zum ersten Mal seit Jahrzehnten Weihnachten ein staatlicher Feiertag ist. Das mag dazu helfen, auch einmal distanziert auf unsere Gestaltung dieser Zeit zu schauen.
Denn die Adventszeit ist in der christlichen Tradition nicht nur durch Tätigwerden, durch Aktivität geprägt, sondern sie ist auch eine Zeit der Besinnung, ursprünglich sogar der Buße. In den Adventsliedern, die wir singen, kommt das sehr deutlich zum Ausdruck. Und Johannes der Täufer, von dem wir in unserem Predigttext gehört haben, ist gewissermaßen der Platzhalter dieser alten Bedeutung der Adventszeit.
Aber wir hören da nicht allein von Johannes, sondern davon, daß eine Schar von Menschen sich zu ihm aufgemacht hat. Diese Menschen haben ihre vertrauten, ihnen haltgebende Strukturen - für eine Zeit zumindestens - zurückgelassen. Erwartungsvoll sind sie aufgebrochen. Das läßt sie uns nahe sein, in dieser Zeit der Vorbereitung und der Erwartung.
Ich möchte in dieser Predigt versuchen, diese Menschen ein Stück weit zu begleiten - und das in drei Schritten: 1. Die Botschaft; 2. Die Frage; 3. Die Fragenden.

1. Die Botschaft
"Alle Menschen werden den Heiland Gottes sehen". Dieser Satz beinhaltet für uns die Botschaft der Adventszeit. In dem Predigttext ist dieser Satz der Abschluß des alttestamentlichen Zitats aus dem Mund des Johannes: "Alle Menschen werden den Heiland Gottes sehen". Dieser Satz ist in seiner Wirkung durchaus ambivalent. Er kann ent-täuschend wirken und er kann ent-grenzend wirken.
Enttäuschend muß dieser Satz auf alle die wirken, die meinen, besser und genauer um das Erwartete und um den Erwarteten zu wissen. Und das ist wohl auch für uns und unsere Haltung in der Vorweihnachtszeit von Bedeutung. Manchmal ist es recht einfach, den Adventsrummel, die als Konsumorgie empfundene kommerzielle Seite dieser Vorweihnachtszeit zu kritisieren und in ihr lediglich etwas äußerliches zu sehen. Und es liegt dann nahe, eine andere, kritische und distanzierte Haltung, eine Protesthaltung dagegenzustellen. Und selbstverständlich ist das nicht etwas Falsches. Schließlich gibt die Adventszeit allen den Anlaß und die Möglichkeit, in jeweils eigener Weise diese Adventszeit zu gestalten und auszufüllen. Da mag dann der oder die einzelne für sich durchaus zwischen richtiger und zwischen falscher Gestaltung unterscheiden, aber nur in diesem persönlichen Bereich.
Denn die Botschaft, daß alle Menschen den Heiland Gottes sehen werden, wirkt eben zugleich ent-grenzend. Wo wir dieses im Blick behalten, da sind alle Abgrenzungen nicht mehr das Entscheidende und das Ausschlaggebende. Auch nicht die scheinbar richtige Weise der Vorbereitung ist hier entscheidend. Und es kommen vor allem auch diejenigen in den Blick, die an der vorweihnachtlichen Geschäftigkeit nicht teilhaben können: die Einsamen, die Hoffnungslosen, die Vergessenen.

2. Die Frage
Etwas weiteres mag die damaligen Menschen uns heute nahebringen. Ich meine damit die Frage, die sie an Johannes richteten, die uns aber heute in gleicher Weise vertraut ist: "Was sollen wir denn tun?" Zunächst: Eine solche Frage hat eine Vorgeschichte, oder besser: Wer so fragt, der hat eine Vorgeschichte. Der oder die hat vorher etwas gehört, etwas wahrgenommen, hat innegehalten. Wer so fragt, für den, für die ist gewissermaßen eine vorher nur geradeaus führende Straße zu einer Weggabelung geworden. Anhalten, Ausschau halten, sich besinnen - was soll ich, was sollen wir tun? Wegweisung ist gesucht und Entscheidung gefordert.
Auch in der Adventszeit ist uns diese Fragestellung nur allzu nahe und gut vertraut. Die Vielzahl der Herausforderungen, die auf uns eindringen, die Nähe der unzähligen Bilder von hungernden, leidenden und frierenden Menschen - können wir sie noch wahrnehmen als Herausforderung, oder suchen wir scheinbaren Schutz in Gleichgültigkeit? Die Not ist so groß und vielfältig, daß die Aufforderung zur Hilfe manchmal als Überforderung empfunden wird. Was sollen wir denn tun? Alles, was wir tun möchten, scheint doch oft hilflos angesichts der Größe der Not und angesichts von Strukturen an vielen Orten, die dort die Not nicht lindern, sondern eher vergrößern.
In diesen Tagen werden wir an den 50. Jahrestag der Verkündung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte erinnert. Darin heißt es u.a.: "Jeder Mensch hat ein Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Person". Wir treten für diese Rechte ein, und doch kennen wir auch die Nachrichten, die wir jeden Tag hören: "Was sollen wir denn tun?"

3. Die Fragenden
Wir haben bisher das in den Blick genommen, was die Menschen von damals uns heute nahezubringen vermag. Aber es gibt auch genug Unterschiede zwischen jenen Menschen damals und uns heute.
"Im fünfzehnten Jahr der Herrschaft des Kaisers Tiberius" in Rom, - so ordnet der Evangelist Lukas das Berichtete in die Weltgeschichte ein. Zu jener Zeit also, als die Römer dort Besatzungsmacht waren, da brachen Menschen auf, um zu Johannes zu gehen und auf ihn zu hören und schließlich auf eine Antwort auf ihre Frage zu warten: "Was sollen wir denn tun?". Hören wir noch einmal einen Teil des Predigttextes (VV 10-14).
Johannes antwortet, indem er auf das verweist, was der Mensch notwendig zum Leben braucht. Darum geht es, darauf zu achten, daß der Mensch neben mir leben kann, daß er Kleidung hat, die ihn wärmt, daß er Lebensmittel hat, um satt zu werden.
Aber noch etwas ist in diesem Zusammenhang von Bedeutung und Interesse: Lukas kennzeichnet nicht allein den Zeitpunkt, sondern auch einzelne Gruppen in der Menschenmenge: Zöllner und Söldner etwa sind dabei. Ihr Verhalten war für die Menschen zu jener Zeit besonders wichtig. Von der Willkür oder von dem gerechten Verhalten - sowohl der Zöllner als auch der Söldner - war das Wohl und Wehe der Menschen, war ihr Leben letztlich abhängig.
Diese politische Dimension der Predigt des Johannes ist im Laufe der Jahrhunderte immer wieder einmal in Erinnerung gerufen worden. Es waren Künstler, die diese Dimension für ihre Zeit ins Bild gesetzt haben. So sehen wir etwa auf einem Bild aus dem 16. Jahrhundert Johannes, der in einem Wald predigt. Die Zuhörer sind Landesfürsten, Heerführer und Bischöfe. Es sind die Personen und die Gruppen, von denen es abhing, wie es der Bevölkerung im 16. Jahrhundert erging; sie bestimmten maßgebend über das Wohl und das Wehe der Menschen.
Und heute? Wenn wir heute solch ein Bild malen oder gestalten sollten: Welche Adressaten würden wir hier aufnehmen? Wen würden wir hier als Hörer der Predigt des Johannes sehen wollen, der da verkündet: "Tut niemandem Gewalt oder Unrecht"?
Ich denke allerdings, daß auch wir in dieses Bild hineingehören - als Adressaten, als Hörende und als Fragende: "Was sollen wir denn tun?"
Adventszeit ist die Zeit der Vorbereitung und der Erwartung, eine Zeit aber auch der Sehnsucht und der Verheißung: "Alle Menschen werden den Heiland Gottes sehen". Diese Verheißung ist nicht an unsere Adventskultur gebunden, ganz und gar nicht. Ältere Menschen werden das aus den Erfahrungen ihres Lebens bestätigen können. Es gibt auch die Beobachtung, daß gerade in der Adventszeit Einsamkeit als besonders schwer erlebt wird. Die Verheißung ist auch nicht an Weihnachten als einen staatlichen Feiertag gebunden, wie die Nachrichtenmeldung aus Kuba verdeutlicht. Aber all das, was für uns zur Adventszeit dazugehört, kann eben auch hilfreich sein, uns gegenseitig wahrzunehmen und zwar im Lichte dieser Verheißung. Dann sind die Gestalt des Johannes und seine Predigt nicht allein Platzhalter für einen (vielleicht) verlorengegangenen Bedeutungsgehalt, sondern Hinweis und Ermunterung, das zu tun, wozu wir Menschen in der Lage sind. Nicht alles, was krumm ist, können wir gerade machen; wir müssen es auch nicht. Aber das, was gerade ist, soll so bleiben und von uns nicht krumm gemacht werden.
Amen.

Prof. Dr. F.H. Beyer, E-Mail: ev.Relpaed@rz.ruhr-uni-bochum.de


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