"Denn ich bin überzeugt, daß dieser Zeit Leiden
nicht ins Gewicht fallen gegenüber der Herrlichkeit, die an uns offenbart
werden soll. Denn das ängstliche Harren der Kreatur wartet darauf,
daß die Kinder Gottes offenbar werden. Die Schöpfung ist ja
unterworfen der Vergänglichkeit - ohne ihren Willen, sondern durch den,
der sie unterworfen hat -, doch auf Hoffnung; denn auch die Schöpfung wird
frei werden von der Knechtschaft der Vergänglichkeit zu der herrlichen
Freiheit der Kinder Gottes. Denn wir wissen, daß die ganze Schöpfung
bis zu diesem Augenblick mit uns seufzt und sich ängstet. Nicht allein
aber sie, sondern auch wir selbst, die wir den Geist als Erstlingsgabe haben,
seufzen in uns selbst und sehnen uns nach der Kindschaft, der Erlösung
unseres Leibes.
Eine Kirche kann sprechen.
Ich höre die Klosterkirche sprechen, wenn ich aus meinem unruhigen
alltäglichen Tun in meine Kirche gehe. Einige Stufen den Berg hinab gehe
ich, vorbei an den Gräbern, die die Kirche umgeben, dann in der
Türschwelle eine Stufe hinab. Wie in ein Schiff steige ich. Aus meiner
bedrohten Umwelt komme ich in das Haus Gottes. Habe mich von den Gräbern
an den größten Feind des Lebens, den Tod erinnern lassen, bin aber
dann im bergenden Schiff.
Wie Noah seine Leute und die Tiere in der Arche bergen und wie Jesus seinen
Jüngern auf dem schwankenden Boot auf stürmischer See die Angst
nehmen konnte, so erfahre ich den Kirchenraum als Stätte der Bewahrung.
Ich setze mich hinten neben an den Mittelgang und werde ruhig. Mein Blick
richtet sich nach vorn in den Altarraum. Er ist konzentriert auf diese Mitte
wie alles in diesem Mittelschiff auf dieses Zentrum dort vorne konzentriert
ist. Das Zentrum meines Glaubens. Die Geschichte vom Kreuz Christi. Die Bilder
des Schnitzaltares sind mir vertraut, ich erkenne sie von weiterem. Aber hinter
der hohen Wand des Altares ist noch Raum. Er scheint mir heller zu strahlen als
das Licht draußen vor der Kirche. In der achteckigen Rundung des
Chorraumes verdichten sich auf engstem Raum in der Wand fünf hohe Fenster.
Sie lassen alles Licht dieser Welt in den Raum. Am Ende meines Blickes ist
Licht. Am Ende ist Hoffnung, ist Auferstehung. Je heller der lichte Raum hinter
dem Altar mir erscheint, desto dunkler ist die Wand des Schnitzaltares. Wo
Licht ist, ist viel Dunkel, so drückt der Volksmund diese vertraute
Erfahrung aus.
Ich schaue noch einen Augenblick von meinem Platz in der Richtung Osten,
Richtung Orient. Ich bin orientiert an der Geschichte von Kreuz und
Auferstehung. Diese Blickrichtung in meiner Kirche, diese Erfahrung und
Grundeinsicht hat sich tief in meine Seele eingegraben.
Und ich freue mich über jede andere Kirche, in der ich das wieder
entdecke.
Am Ende ist Licht, ist Leben. Diese Erkenntnis ist leicht zu tragen, wenn sie
eingeübt ist und ich munter in der letzten Reihe der Kirche meine Sinne
ausrichte.
Wenig greifen, wenig überzeugen und trösten mag sie, wenn ich
mittendrin stecke im Leid. Wenn die Hütte, der einzige Lebensraum, von der
Flut in Sekunden weggeschwemmt und die Armut doppelt bestraft wird wie bei
Menschen in Mittelamerika in diesen Tagen.
Wenn der Bruder trotz Rettungsversuch und die eigene Frau in wenigen Tagen
nacheinander an Krebs sterben, wie es dem Mann in dieser Woche geschehen ist,
dessen Lieder ich leidenschaftlich gerne laut mitsinge: Herbert
Grönemeyer.
Da klingt der Zuspruch des Apostels zynisch, vollmundig, fast
unerträglich. "Ich bin gewiß, daß dieser Zeit Leiden
nicht ins Gewicht fallen gegenüber der Herrlichkeit, die an uns offenbart
werden soll." Ich lebe jetzt und leide jetzt. Ja, vielleicht mag ich das
Bild meiner Kirche einmal erinnern, wenn es mir selbst elend geht. Aber Leiden
gegen Herrlichkeit in einen Vergleich bringen, klingt nach Vertröstung
oder Nicht-Ernst-Nehmen.
Oder des Apostels Versuch einer Tröstung läßt mich völlig
unbeteiligt, weil es mir zur Zeit gut geht. Was soll ich stöhnen über
Leiden?
Ich persönlich könnte damit den Text als nicht aktuell zur Seite
legen. Trifft zur Zeit nicht zu! Laß uns über etwas anderes
reden.
Ich könnte das tun, wenn der Apostel nicht weit über das
persönliche Geschick hinaus denken würde. Er bezieht in sein
Nachdenken die ganz Schöpfung mit ein. Er tut das übrigens hier
für uns erkennbar das einzige Mal. Darum macht er mich besonders
neugierig.
Ich blicke aus Anlaß des Volkstrauertages in die Erfahrungen des letzten
Krieges zurück. Anschaulich wurde es mir in den Erzählungen meiner
Eltern. Die ganze Schöpfung stöhnt.
Aufregend war das, wenn mein Vater mit den Nachbarn am Abend zusammenkam, die
Männer unter sich, und sie erzählten von ihren Kriegserlebnissen. Es
schien das einzige Mal zu sein, daß sie in ihrem Leben aus ihrer
begrenzten Heimat Ostfriesland herausgekommen waren, die große weite Welt
erfahren hatten. Auf dem Flakbunker in Hamburg, an der wunderbaren Küste
Norwegens, und in Frankreich vor allem, Wein und Brot kam in Fülle auf den
Tisch. Mit Begeisterung erzählten sie davon und überboten sich mit
ihren tollen Erlebnissen. Und ich hörte als Junge staunend und gerne zu.
Andere Erfahrungen wurden nicht mitgeteilt. Daß die Panzer ganze
Landschaften aufrissen, daß die Atlantik-Küste zum Schutz gegen
Alliierte mit Beton zugegossen wurde, daß die zum Geschütztransport
eingesetzten Pferde bei Granateneinschlägen zerfetzt wurden. Das habe ich
erst später aus Büchern erfahren. Es gibt kaum eine Zeit wie den
Krieg, in der alle Schöpfung stöhnt und geschlagen wird. Die
Erfahrung der Vergänglichkeit allen Lebens kann nicht deprimierender sein
als in den Zeiten, in denen der Mensch selbst das Zerstörungswerk in Gang
setzt.
Was meine Mutter vom Krieg erzählte, klang sehr anders. Selten
erzählte sie davon, dann aber in stillem Ton. Als Kind hielt ich beim
Zuhören den Atem an. Ihr Mann, mein Vater, freiwillig von 1939-45 Soldat,
Mutter allein mit ihren drei Kindern und dem polnischen Zwangsarbeiter auf dem
Hof. Englische Tiefflieger brummten über die Wiese, wenn sie die Kühe
molk, und bedrohten alles Leben um sie herum. Ihre Angst übertrug sich
Jahre nach allem immer noch auf mich. Meine Mutter in Lebensgefahr.
Und nur sie deutet an, wie aus Tieffliegern auf dem nicht flakgeschützten
flachen Land Kühe erschossen wurden. Wie der Feuerschein vom dreißig
Kilometer entfernten Emden ahnen ließ, daß nicht nur Häuser
und Menschen elend verbrannten-.
Die ganze Schöpfung seufzst unter der Last der Vergänglichkeit. Die
Mütter und Frauen scheinen dafür ein empfindsameres Gefühl zu
haben als die Soldaten, die Männer.
"Die Schöpfung ist unterworfen der Vergänglichkeit,"
schreibt der Apostel. Und er meint damit offensichtlich mehr als unsere etwas
melancholischen Herbstgefühle angesichts der fallenden Blätter und
schwindenden Haare. Und ich denke, er meint mehr als unsere Einsichten in
ökologische Katastrophen, die Menschen im großen und kleinen der
Natur antun.
Dies Gefühl umfassender Vergänglichkeit, das alles Leben ergreift,
meint er. Und das sitzt tief. Es ist uns in unsrer gegenwärtigen Situation
nur deshalb nicht bedrängend, weil wir genügend materielle
Möglichkeiten der Zerstreuung und Verdrängung haben, die uns daran
vorbeisehen lassen.
Wer aber mitten drin steckt, der weiß, wovon Paulus redet. Er harrt,
wartet auf Besserung. Er seufzst, um seinem Schmerz für einen Augenblick
Erleichterung zu verschaffen.
In seinem Sehnen drückt er aus, daß er Änderung, Besserung
wünscht.
Es wird anders werden, sagt der Apostel.
Damit meint er offensichtlich nicht nur ein Leben nach dem Tod.
"Sie warten darauf, daß die Kinder Gottes offenbar werden."
"Sie sehnen sich nach der Kindschaft."
Wo liegt die Rettung, die Erlösung von der Kraft der
Vergänglichkeit.
Sie ist schon in uns angelegt. "Die wir den Geist als Erstlingsgabe
haben." Da ist offensichtlich schon etwas in uns angelegt. Der Geist als
Geschenk Gottes. Der Geist Gottes macht frei, sagt er kurz vorher.
Dieser Geist ist bei Paulus immer der Geist, der Christus auferweckt hat. Es
ist etwas unverwüstliches in mir. Gott hat es geschenkt, Erstlingsgabe,
sein erstes Geschenk für mich. Er tritt mir zur Seite, wenn ich schwach
werde. Er spricht für mich, wenn ich nicht mehr kann, weil ich kein Wort
mehr über die Lippen bringe, nur seufzen kann.
Aber wie wird in mir wirksam, was in mir angelegt ist, aber gedämpft,
erstickt ist durch Erfahrungen von Leid und Qual?
Ich glaube, das geschieht durch Worte und Bilder, die sich in mich eingepflanzt
haben. Hoffnungsbilder. Eine blühende Rose im Winter, ein fließender
Bach, eine lachende Frau nach drei Jahren schlimmster Erfahrungen. Das
könnten meine Bilder sein. Aber auf keinen Fall sind es Argumente.
Hoffnung speist sich nicht aus Argumenten. Sondern aus Bildern wie der
eingeübte und verinnerlichte Blick in meiner Kirche. Hinter dem Kreuz der
Raum des Lichtes. Ob er mir einmal helfen wird, ich weiß es nicht. Ich
hoffe es.
"Denn wie kann man auf das hoffen, was man sieht?!
Am Ende werde ich das Gefühl nicht los, ich bin in meiner Predigt doch
leicht mit einem schweren Wort umgegangen. Mag sein. Bewähren werde ich es
im Leben müssen. Und dann noch einmal eine ganz andere Tiefe
durchschreiten müssen, um mit Paulus sagen zu können:
"Ich bin überzeugt, daß die Leiden dieser Zeit nicht ins
Gewicht fallen gegenüber der Herrlichkeit, die an uns offenbart werden
soll." Davon bin ich überzeugt.
Nachtrag: Zur Erläuterung der Predigt:
Das Thema von Leiden und Hoffnung ist tückisch für den Prediger.
Zu oft ist er durch die Perikopenordnung dazu aufgefordert, darüber zu
predigen. Die Gefahr der Banalisierung ist groß. Wenn Paulus in Röm
8 die ganze Schöpfung in seine Reflexion des Leidens mit einbezieht, darf
Hoffnung nicht in kleine Münze verwandelt werden.
Der Kasus des Volkstrauertags ist für viele Gemeinden aufgrund
traditioneller Strukturen oder des Nachdenkens im Rahmen einer Friedenswoche in
diesen Tagen noch aktuell. So sollte der Prediger daran nicht vorbeisehen.
Der vorliegende Entwurf beginnt aus theologischen und rhetorischen
Gründen positiv, bezieht Erfahrungen des Krieges mit ein und
schließt mit Bildern der Hoffnung.
Heinz Behrends, In der Wort 7, 37077 Göttingen, Tel./Fax 0551/21222
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