Göttinger Predigten im Internet, hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch


Sonntag: Vorletzter Sonntag im Kirchenjahr, Volkstrauertag
Datum: 15.11.1998
Text: Römer 8,18-23
Verfasser: Dr. Johannes Neukirch

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"Denn ich bin überzeugt, daß dieser Zeit Leiden nicht ins Gewicht fallen gegenüber der Herrlichkeit, die an uns offenbart werden soll. Denn das ängstliche Harren der Kreatur wartet darauf, daß die Kinder Gottes offenbar werden. Die Schöpfung ist ja unterworfen der Vergänglichkeit - ohne ihren Willen, sondern durch den, der sie unterworfen hat -, doch auf Hoffnung; denn auch die Schöpfung wird frei werden von der Knechtschaft der Vergänglichkeit zu der herrlichen Freiheit der Kinder Gottes. Denn wir wissen, daß die ganze Schöpfung bis zu diesem Augenblick mit uns seufzt und sich ängstet. Nicht allein aber sie, sondern auch wir selbst, die wir den Geist als Erstlingsgabe haben, seufzen in uns selbst und sehnen uns nach der Kindschaft, der Erlösung unseres Leibes."

Liebe Gemeinde,

"Weil die Toten schweigen, beginnt alles wieder von vorn!" hat Gabriel Marcel gesagt. Dieser Satz hat es in sich. Stellen wir uns das doch mal vor: Die Toten der Kriege und Verbrechen würden nicht schweigen, sondern reden, schreien, klagen, jammern. Das ist eine furchtbare Vorstellung! Wenn die Toten nicht schweigen würden, dann würden sie uns sicherlich ununterbrochen ins Gewissen reden, sie würden uns warnen, uns anflehen: Hört auf mit dem Unfrieden, mit dem Haß, mit der Habgier, mit dem Morden. Sie würden uns fragen: Wie konnte das geschehen? Wir verstehen nicht, weshalb so viele weggeschaut haben, einfach nicht wahrnehmen wollten, was damals geschehen ist.

Aber es ist nun mal so: Die Toten schweigen. Nur deshalb können wir heute am Volkstrauertag der Toten gedenken, die durch Kriege und Gewaltherrschaft ihr Leben verloren haben. Denn eigentlich muß man doch verrückt werden wenn man bedenkt, daß Millionen und Abermillionen Menschen auf den Schlachtfeldern, in den Bombennächten, auf der Flucht, in der Gefangenschaft und in Konzentrationslagern ihr meist junges Leben gelassen haben. Nur weil die Toten schweigen, können wir heute damit leben.

Genau das ist aber auch der Grund dafür, daß wir den Volkstrauertag begehen. An diesem Tag geben wir den Toten eine Stimme - wir ermahnen uns zum Frieden, zu Gerechtigkeit, zu Versöhnung. Verglichen damit, was los wäre, wenn die Millionen selbst reden würden, ist das eine ganz leise, zaghafte Stimme. Aber wir haben heute wenigstens zu dieser leisen Stimme Gelegenheit, und es ist gut, daß wir diese Gelegenheit nutzen.

"Weil die Toten schweigen, beginnt alles wieder von vorn!" - leider hat sich das ja immer wieder bestätigt. Nicht einmal die leise Stimme des Volkstrauertages, die gegen dieses Schweigen sich erheben will, konnte daran etwas ändern. Vier Jahre nach dem Ende des ersten Weltkrieges gab es das erste mal einen Volkstrauertag. In einer Gedenkfeier im Reichstag gedachten die Deutschen ihrer Gefallenen. Auch damals war dieser Tag ein Tag der Mahnung zum Frieden. Sicherlich ahnte an diesem Tag niemand, daß nicht einmal zwanzig Jahre später ein noch viel entsetzlicherer Krieg Schrecken und Verwüstung über viele Länder brachte.

"Weil die Toten schweigen, beginnt alles wieder von vorn!" Das ist ein sehr pessimistischer Satz. Er klingt so, als gäbe es keinen Ausweg aus dem Verhängnis, als könnten wir nichts daraus lernen, daß in der Geschichte der Menschheit schon viele Millionen Menschen sinnlos gestorben sind.

Wenn wir den Predigttext hören, bestätigt sich dieser Pessimismus. "Denn wir wissen, daß die ganze Schöpfung bis zu diesem Augenblick mit uns seufzt und sich ängstet" schreibt Paulus, und daran hat sich bis heute nichts geändert. Paulus rechnet damit, daß er selbst und andere leiden müssen. Er spricht von den "Leiden dieser Zeit" und an keiner Stelle davon, daß die irgendwann mal in unserer irdischen Zeit aufhören würden. Auch für ihn geht das immer so weiter, und heute, viele Jahre später wissen wir, daß er damit recht behalten hat. Es ist so weitergegangen, vielleicht schlimmer geworden. Paulus hat das absolut realistisch gesehen.

Genau so klar beschreibt Paulus auch, was daraus folgt: die Sehnsucht der Menschen nach Erlösung aus der Vergänglichkeit. Die Sehnsucht nach Herrlichkeit und nach Freiheit von Leid, Schmerz und Tod. Und es klingt fast wie ein Vorwurf gegen den Schöpfer, wenn er sagt: "Die Schöpfung ist ja unterworfen der Vergänglichkeit - ohne ihren Willen, sondern durch den, der sie unterworfen hat." - Ohne daß wir das wollen, müssen wir sterben. Deshalb ist die Sehnsucht nach Erlösung von der Vergänglichkeit ein urmenschlicher Trieb. Wir sind eigentlich, im Grunde unseres Herzens, nicht damit einverstanden, daß die Welt, die ganze Schöpfung, so ist, wie sie ist. Und wir sehnen uns mit aller Kraft nach einer anderen, besseren Welt.

An dieser Stelle sagt uns nun Paulus: Wir sind zwar vergänglich, wir müssen auch leiden - das ist richtig und unabänderlich. Die jetzige, bestehende Welt wird nicht besser. Was es aber gibt, das ist eine fest begründete Hoffnung: Die Hoffnung, daß es eine neue Schöpfung geben wird! An Jesus Christus haben wir gesehen, daß wir durch den Tod hindurchgehen und wieder auferstehen werden. Durch seine Auferstehung haben wir einen Blick auf die zukünftige Welt geworfen, die nicht mehr seufzt, nicht mehr trauert und nicht mehr vergänglich ist.

"Weil die Toten schweigen, beginnt alles wieder von vorn!" Dieser Satz hat es in sich, habe ich anfangs gesagt. Er hat sich in erschreckender Weise bestätigt. Aber gleichzeitig ist er schon jetzt durch Jesus Christus widerlegt! An dem Tag, an dem Gott seine neue Schöpfung machen wird, gilt er nicht mehr. Dann beginnt nichts mehr wieder von vorn. Dann können die Toten wieder reden, und niemand hat mehr Angst vor ihren Stimmen, niemand muß sich dann noch die Ohren zuhalten, denn "die Schöpfung wird frei werden von der Knechtschaft der Vergänglichkeit zu der herrlichen Freiheit der Kinder Gottes".

Ich glaube, liebe Gemeinde, daß wir auch schon heute, am Volkstrauertag 1998, etwas von dieser herrlichen Freiheit der Kinder Gottes haben - durch die Hoffnung. Die Hoffnung darauf, daß wir eines Tages endgültig von der Vergänglichkeit erlöst werden, die ermöglicht es uns, heute den Toten unsere Stimmen zu verleihen. Die Hoffnung auf die neue Schöpfung läßt uns heute sagen: Wir gedenken der Toten, damit wir selbst Frieden halten und schaffen. Wir gedenken der Opfer von Gewaltverbrechen, damit wir selbst mutig genug sind, gegen Gewalt anzugehen. Denn wir sind - mit Paulus - davon überzeugt, daß die Leiden dieser Zeit nicht ins Gewicht fallen gegenüber der Herrlichkeit, die an uns offenbart werden soll. Wir gehen auf eine neue Schöpfung zu - deshalb laßt uns alles uns mögliche dafür tun, daß wir in der jetzigen Schöpfung für Frieden und Gerechtigkeit sorgen.

Amen.

Johannes Neukirch, Pastor in Hemmoor-Warstade
E-Mail: Johannes.Neukirch@t-online.de


Liedvorschläge aus: Gottesdienst - Arbeitshilfe zur Erneuerten Agende, 5. Lieferung, 11. Jg., hrsg. von der Liturgischen Konferenz Niedersachsens e.V., Tel.: 0511-1241-486:

EG 612 (Herr, gib mir Mut zum Brückenbauen)
EG 617, (Unfriede herrscht auf Erden)
EG 619 (Damit aus Fremden Freunde werden)
EG 620 (Freunde daß der Mandelzweig)
EG 421 (Verleih uns Frieden gnädiglich)

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