Göttinger Predigten im Internet, hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch


Sonntag: 20. Sonntag n. Trinitatis
Datum: 25.10.1998
Predigt im Festgottesdienst "100 Jahre lutherische Erlöserkirche Jerusalem"
Verfasser: Bischof Dr. Rolf Koppe

Predigt im Festgottesdienst "100 Jahre lutherische Erlöserkirche Jerusalem"

am Sonntag, den 25. Oktober 1998, in Jerusalem

Liebe Gemeinde!

Es gibt eine tiefe Sehnsucht, im Heiligen Land Jesus auf die Spur zu kommen. So scheuen touristische Pilger keine Pilger keine Mühe, die Wüste zu durchqueren, den allerletzten historischen Ort aufzusuchen und immer wieder in die Gesichter der Einheimischen zu schauen in der Hoffnung, Ähnlichkeiten mit den Bildern festzustellen, die sie seit ihrer Kindheit in sich tragen.

Einen Steinwurf von dieser Kirche entfernt, so stelle ich mir vor, ist Jesus auf einem Esel in die Stadt hineingeritten. Nur einen Steinwurf entfernt, so sagt es die älteste Überlieferung, ist er gekreuzigt worden. Und ganz in der Nähe haben die ängstlich-mutigen Frauen am Ostermorgen das leere Grab entdeckt.

Vom Kirchturm der Erlöserkirche kann man unten das Kidrontal liegen sehen und oben den Ölberg. Hinter den Bergen ist die Wüste zu ahnen, der Ort des Alleinseins und des Erkennens.

So nah sind hier die Landschaft, die Geschichte und die Menschen! Ist Gott auch so nah?

Seit vielen Jahrhunderten haben Juden, Christen und Muslime in Jerusalem seine besondere Nähe gesucht und ihn hier angebetet, jeder auf seine Weise – nebeneinander, aber in Gewißheit, vor dem einen Gott zu stehen.

Ich gebe zu, daß ich einige Schwierigkeiten habe, mich im Gewirr der Gassen und heiligen Orte zurechtzufinden. Nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich. Deshalb halte ich mich lieber an das biblische Wort und versuche, es als Leitfaden für meinen Glauben zu befolgen. Wenn ich höre, daß es Gottes Wille ist, daß allen Menschen geholfen werde, so stimme ich dem sofort zu und mir fällt dazu ein, daß an einer anderen Stelle Jesus von sich sagt, daß er der Weg, die Wahrheit und das Leben ist. Das glaube ich, weil er den Menschen ganz nahe gewesen ist, bei seinen Wanderungen durch dieses Land und in dieser Stadt. Er hat sie geliebt. Und sie haben gesagt: Er ist Gottes Sohn und damit zum Ausdruck gebracht, daß er mehr ist als ein gewöhnlicher Mensch. Das haben sie erfahren und sind gesund geworden, frei von ihren Lasten. Auch die viel später Geborenen, die an ihn geglaubt haben. Martin Luther zum Beispiel, der sich sehr geängstigt hat vor der Strafe Gottes und in Jesus Christus den gnädigen Gott gefunden hat. Oder die Studentin aus dem Iran, die ich letztes Jahr in England getroffen habe und die durch das Lesen der Bibel zur Christin geworden ist.

All das fällt mir ein, wenn ich höre: "Denn es ist ein Gott und ein Mittler zwischen Gott und den Menschen, nämlich der Mensch Christus Jesus". Die Theologen haben später vom wahren Gott und wahren Menschen gesprochen, um beide Erfahrungen auf den Begriff zu bringen. Aber das sind alles Versuche, eine Wirklichkeit zu beschreiben, die in Wirklichkeit gar nicht zu fassen ist, jedenfalls nicht mit dem Verstand. Denn es ist die Wirklichkeit des Glaubens. Luther hat es mit folgendem Bild versucht: "Wie das Wasser, wenn es erhitzt wird, zwar Wasser bleibt, aber doch ganz anders wird, so macht der Glaube den Menschen neu."

Ich stelle mir vor, wie Jesus in die Wüste gegangen ist, vielleicht voller Zweifel über seinen weiteren Weg, wie er da nachts gefroren hat, und wie dann am Morgen die Sonne aufging, erst als ein Schimmer am Horizont, dann immer voller und voller, bis sie den Sand erwärmte und schließlich wieder das Leben zum Erwachen brachte. So stellte ich mir den Durchbruch zur Erkenntnis der Wahrheit vor. In Jesus, bei allen Menschen, denen Gott helfen will. Auch mir, wenn ich nicht mehr weiter weiß. Und ich wünsche allen anderen, daß sie diese Erfahrung auch machen, wenn sie beten, Gottesdienst feiern oder zu Hause ihre Kinder erziehen, im Beruf hart arbeiten oder arbeitslos sind.

Liebe Gemeinde, als vor hundert Jahren am Reformationsfest diese Kirche eingeweiht wurde, da haben sich die Vertreter der Kirchen der Reformation aus Deutschland in den Strom der Sehnsucht nach Gottes Nähe Heiligen Land mitten hineingestellt und große Hoffnungen damit verbunden. Der Kaiser selbst hat mit feierlichen Worten den Wunsch ausgesprochen, daß von hier aus reiche Segensströme in die ganze evangelische Christenheit zurückfließen mögen und daß in der Heimat Gottvertrauen, Nächstenliebe, Geduld im Leiden und tüchtige Arbeit des deutschen Volkes edelster Schmuck bleibe. Letzteres würden wir vielleicht etwas nüchterner ausdrücken, aber den Wunsch im ganzen können wir sehr wohl wiederholen, gerade nach den leidvollen und schuldbeladenen Erfahrungen, die wir in den ersten 50 Jahren unseres Jahrhunderts gemacht haben. Wir haben, denke ich, auch einiges noch dazugelernt, vor allem, was die Weite unseres Glaubens betrifft.

Wir haben gehört: Gott will, daß allen Menschen geholfen werde. Das ist eine Vorstellung, der keiner, der guten Willens ist, seine Zustimmung verweigern wird, gerade in unserer Zeit, die sich dadurch auszeichnet, daß sie in großen, globalen Zusammenhängen denkt und handelt. Hannah Arendt, 1906 in Hannover geboren und 1974 in New York im Exil gestorben, deutsch-jüdische Philosophin, hat als Konsequenz aus den schlimmen Erfahrungen totalitärer Systeme in diesem Jahrhundert eine "erweiterte Denkungsart" gefordert, um aus dem eng begrenzten privaten Leben auszubrechen und am öffentlichen Leben teilzunehmen. Wendet man diesen Gedanken auf die Religionen an, so ist es an der Zeit, auch eine "erweiterte Glaubensart" zu pflegen, damit anderen nicht das Recht abgesprochen wird, anders zu glauben und anders zu leben als man selbst.

Damit gebe ich den von mir gefundenen und bejahten christlichen Weg zur Erkenntnis der Wahrheit nicht auf, aber ich überlasse es letzten Endes Gott selbst, darüber zu befinden, warum er so handelt, wie er handelt. Jedenfalls bemühen wir uns um diese Erweiterung des eigenen Glaubens in den Dialogen, die wir schon lange mit anderen Kirchen, jüdischen Partnern und seit kurzem auch mit Muslimen führen.

Wenn wir uns als evangelische Christen hier in Jerusalem versammeln, dann nicht in der Absicht, uns von den anderen Konfessionen und Religionen abzugrenzen, sondern zu ihnen Brücken zu bauen, in der Gewißheit, daß Gott allen Menschen helfen will. Mögen in diesem Sinn von der Erlöserkirche weiterhin Ströme der Liebe und der Wahrheit ausgehen.

Und der Friede Gottes, welcher höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus.

Amen.

Bischof Dr. Rolf Koppe, Kirchenamt der EKD, Herrenhäuser Straße 12, 30419 Hannover, Tel.: 0511-2796-0; Durchwahl: 0511-2796-124, Fax: 0511-2796-725



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