Göttinger Predigten im Internet, hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch


Sonntag: Erntedankfest
Datum: 4.10.1998
Text: 2. Korinther 9,6-15

Verfasser: Peter Kusenberg


Predigttext:

"Ich meine aber dies: Wer da kärglich sät, der wird auch kärglich ernten; und wer da sät im Segen, der wird auch ernten im Segen. Ein jeder, wie er’s sich im Herzen vorgenommen hat, nicht mit Unwillen oder aus Zwang; denn einen fröhlichen Geber hat Gott lieb. Gott aber kann machen, daß alle Gnade unter euch reichlich sei, damit ihr in allen Dingen allezeit volle Genüge habt und noch reich seid zu jedem guten Werk; wie geschrieben steht (Psalm 112, 9): "Er hat ausgestreut und den Armen gegeben; seine Gerechtigkeit bleibt in Ewigkeit."
Der aber Samen gibt dem Sämann und Brot zur Speise, der wird auch euch Samen geben und ihn mehren und wachsen lassen die Früchte eurer Gerechtigkeit. So werdet ihr reich sein in allen Dingen, zu geben in aller Einfalt, die durch uns wirkt Danksagung an Gott. Denn der Dienst dieser Sammlung hilft nicht allein dem Mangel der Heiligen ab, sondern wirkt auch überschwenglich darin, daß viele Gott danken. Denn für diesen treuen Dienst preisen sie Gott über eurem Gehorsam im Bekenntnis zum Evangelium Christi und über der Einfalt eurer Gemeinschaft mit ihnen und allen. Und in ihrem Gebet für euch sehnen sie sich nach euch wegen der überschwenglichen Gnade Gottes bei euch. Gott aber sei Dank für seine unaussprechliche Gabe!"

Liebe Gemeinde!

Jahr um Jahr treten wir am ersten Sonntag im Oktober vor einen geschmückten Altar, um den herum die Erntegaben ausgebreitet sind. Früchte und Erträge aus Feld und Garten, eingesammelt von den Konfirmanden, gegeben als Zeichen des Dankes für das, was wir ernten konnten. Wir haben auch in diesem Jahr Anlaß, Dank zu sagen. Nicht nur für die Ernte auf den Feldern, nicht nur dafür, daß wir reichlich Nahrung haben, sondern auch Dank für Wohlstand, Freiheit und Sicherheit, die uns geschenkt sind.

Der lange Predigttext sagt viel über das Beschenkt–Werden und das Geben. Geradezu sprichwörtlich geworden ist z. B. der Satz: "Einen fröhlichen Geber hat Gott lieb."

Ich möchte noch einen anderen Satz hinzunehmen, auch wenn er erheblich schwieriger und umständlicher zu verstehen ist: "Der aber Samen reicht dem Sämann und Brot zur Speise, der wird auch euch Samen reichen und ihn mehren und wachsen lassen die Früchte eurer Gerechtigkeit. So werdet ihr reich sein in allen Dingen, zu geben in Lauterkeit…"

Und weil dies nun wirklich komplizierte Sprache ist, das Ganze noch einmal in einer aktuelleren Version: "Gott hat auch in euch seinen Samen geworfen und wird euch immer mehr Saatgut in die Hand geben, damit immer mehr Frucht in euch wachsen möge, nämlich die zuverlässige Güte, das Herzstück der Gerechtigkeit."

Paulus, der dies schrieb, erinnert die Christengemeinde in Korinth an das "Saatgut" in ihrer Hand. Immer mehr soll wachsen. Gemeint ist aber dabei nicht ein "immer mehr" an Menge, an Quantität, sondern ein Wachstum an Güte. Sie wird das Herzstück, der Kern der Gerechtigkeit genannt.

Die Saat der Güte – bei diesem Bild denke ich unwillkürlich an die Taufe. Denn in der Taufe wird ja sozusagen das Samenkorn des Glaubens in die Seele eines Kindes gelegt, und es soll zusammen mit ihm heranwachsen, in der Hoffnung, daß die Pflanze des Glaubens reift und selbst neuen Samen hervorbringt, zum Weitergeben an andere Menschen. Für andere – immer mehr. Ich wäre froh, gäbe es bei diesem "immer mehr – für andere" wenigstens annähernde Zuwachsraten wie auf anderen Gebieten.

Immer mehr – das erlebe ich nämlich leider oft nur als Forderung. Nach mehr Geld, mehr Freizeit, mehr Unterhaltung. Immer höher klettern die Aktienkurse, und man redet von Katastrophe, wenn sie fallen, obwohl sie immer noch weit besser stehen als im Jahr zuvor. Immer mehr für mich selbst – aber immer weniger für andere.

– Es war einmal eine Familie, die wurde auf eine öde, felsige Insel verschlagen. Keine Hoffnung, je von dort hinweg zu kommen. Auch war die Insel nicht allzu groß. Doch dann, bei der genaueren Erkundung ihrer Zuflucht, entdeckt die Familie versteckt hinter einem Hügel ein Haus. Ein riesiges Haus mit vielen Fenstern und Zimmern, eigentlich schon fast ein richtiges Schloß.

Aber die größte Überraschung erleben sie, als sie den Keller betreten. So weit das Auge reicht, ziehen sich Reihen von Regalen und Vorratskisten. Die Bretter biegen sich förmlich unter der Last der reichhaltigsten Vorräte, die man sich nur denken kann: Einmachgläser, Konserven, Batterien von Flaschen mit ausgesuchten Getränken – es wirkt gerade so, als hätte jemand für lange Zeit vorgesorgt.

Nun, die Familie entdeckt rasch, wo Dosenöffner und Korkenzieher zu finden sind, und ist sich bald einig, daß man mit diesem Schloß das große Los gezogen hat. So nehmen sie ihr neues Heim in Besitz und lassen sich’s gut gehen.

Ein ziemlich schlichtes Märchen, mag man denken. Aber die Geschichte fängt jetzt erst richtig an. Denn im Verhalten und in den Gewohnheiten der Familie auf der Insel gehen allmählich Veränderungen vor sich: beim Essen und Trinken wird es besonders deutlich. Immer mehr sollen die Kinder, die stets nach den Vorräten geschickt werden, aus dem Keller heraufholen, immer ausgefallenere, erlesenere Sachen. Was übrig bleibt oder nicht schmeckt, werfen sie fort und kippen es hinter die Klippen, von wo es mitunter, wenn der Wind ungünstig steht, schon schlimm riecht.

Dennoch macht die Familie weiter, bis eines Tages die Kinder mit einer schier unglaublichen Nachricht aus dem Keller kommen: die Vorräte sind nicht unbegrenzt! Hinter manchen Lücken in den Speiseregalen kommt das Mauerwerk zum Vorschein. Den Eltern ist das erstaunlich gleichgültig – vielleicht haben sie, auf beiden Backen kauend, noch gar nicht recht begriffen. Jedenfalls verlangen sie von den Kindern, wie bisher die Vorräte zu plündern – es werde sich schon eine Lösung finden, später.

Aber die Kindern verweigern den Gehorsam. Sie wollen nicht mehr mitmachen, sich nicht länger an Übermaß und Verschwendung beteiligen. Sie wollen, daß auch ihre Kinder noch Vorräte im Keller finden, sagen sie. Die Eltern verstehen das zunächst nicht, aber schließlich, nach vielem Hin und Her, nach langen Diskussionen mit den Kindern, wird auch den Eltern klar, daß es nicht wie bisher weitergehen kann.

Hier hört die Geschichte auf. Ich weiß nicht, ob die Familie auf der Insel eine Lösung gefunden hat und wie sie ausgesehen haben mag. Ich weiß aber, daß mir vieles an der Geschichte sehr vertraut vorkommt. Wenn ich statt der Insel unsere Erde nehme? Die Vorräte im Keller? Rohstoffe, Energieträger wie Kohle, Öl, oder Edelmetalle. Auch sie sind nicht in unendlicher Fülle vorhanden, und je mehr wir jetzt von ihnen nehmen, desto früher werden sie erschöpft sein.

All das ist seit vielen Jahren bekannt, und deshalb gibt ja es auch bei uns eine wachsende Zahl von Menschen, die sagen: da machen wir nicht mehr mit. Die eingesehen haben, daß es mit dem bisherigen Motto des "immer mehr" nicht weitergehen darf. Und die mahnen, daß wir miteinander über andere Lösungen diskutieren müssen. Und wenn, wie es aussieht, ein paar von ihnen der nächsten Regierung angehören, gibt das eher zu Hoffnung Anlaß als zu Ängsten.

Die Frage ist: Geben wir das, was wir immer noch reichlich haben, so weiter, daß auch den nachfolgenden Generationen davon genug bleibt? Nicht nur die greifbaren Güter wie Nahrung, sondern auch das Gefühl von Sicherheit, Geborgenheit, Liebe? Gibt es ein besseres "Danke" für all das, was uns zufällt, als wenn wir es mit anderen Menschen teilen? Der Volksmund hat den Ausdruck dafür: Geteilte Freude ist doppelte Freude. Die Bibel sagt: Einen fröhlichen Geber hat Gott lieb. Gemeint ist dasselbe.

Unser Dank–Altar soll ein Zeichen sein. Aber dies Zeichen braucht auch eine Entsprechung in meinem Leben. Und unser Dank–Altar gehört mitten in unsere Gesellschaft – als Mahnung, daß mit jeder Ernte auch die Aufgabe der neuen Aussaat verbunden ist. Wer kärglich sät, wird kärglich ernten. Wer nichts von seiner Ernte hergeben will, um Neues wachsen zu lassen, wird beim nächsten Mal ohne Ertrag dastehen. Wer sich hinter Ellenbogen und Egoismus verschanzt, wird vergebens auf Entgegenkommen hoffen.

Wer aber weitergibt von dem, was er empfängt, wer andere an seiner Freude teilhaben läßt, der wird selbst wieder zum Beschenkten. Und dann wird das wahr, was Paulus schrieb: "Gott hat auch in euch seinen Samen geworfen, und er wird euch immer mehr Saatgut in die Hand geben, damit immer mehr Frucht in euch wachsen möge, nämlich die zuverlässige Güte, das Herzstück der Gerechtigkeit."

Peter Kusenberg

Pastor und freier Journalist
Auf dem Kirchberg 2
37139 Adelebsen

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