Göttinger Predigten im Internet, hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch


Sonntag: 11. S. nach Trinitatis
Datum: 23.8.1998
Text: Epheser 2, 4-10
Verfasser: Walter Meyer-Roscher


Predigttext: Epheser 2, 4-10

"Aber Gott, der reich ist an Barmherzigkeit, hat in seiner großen Liebe, mit der er uns geliebt hat, auch uns, die wir tot waren in den Sünden, mit Christus lebendig gemacht – aus Gnade seid ihr selig geworden -; und er hat uns mit auferweckt und mit eingesetzt im Himmel in Christus Jesus, damit er in den kommenden Zeiten erzeige den überschwenglichen Reichtum seiner Gnade durch seine Güte gegen uns in Jesus Christus. Denn aus Gnade seid ihr selig geworden durch den Glauben, und das nicht aus euch: Gottes Gabe ist es, nicht aus Werken, damit sich nicht jemand rühme. Denn wir sind sein Werk, geschaffen in Christus Jesus zu guten Werken, die Gott zuvor bereitet hat, daß wir darin wandeln sollen."

Liebe Gemeinde,

Soll das eigentlich immer so weitergehen? Schritthalten im täglichen Konkurrenzkampf, nicht zurückbleiben, nicht zulassen, daß andere an uns vorbeiziehen, jederzeit beweisen, daß wir den Anforderungen an uns auch gewachsen sind, keine Anzeichen von Schwäche oder Müdigkeit zeigen! Soll das eigentlich immer so weitergehen - mit dem Druck, dem wir uns nicht entziehen können, mit der Hetze, in die wir zwangsläufig hineingeraten?

Viele von Ihnen sind aus dem Sommerurlaub zurückgekehrt. Einmal aussteigen, Atem holen, jeden neuen Tag genießen, sich an den Schönheiten der Schöpfung freuen - so sollte es sein! Vielleicht war es auch so - für wenige Wochen im Jahr, für eine kurze Zeit. Nun holen sie uns wieder ein, die Herausforderungen und Probleme des Alltags. Leben von einem atemlosen Augenblick zum nächsten! Soll das so weitergehen?

"Tage kommen und gehen", schreibt Rose Ausländer, "alles bleibt wie es ist". Eine einfache Antwort, die alle Fragen erschlägt! Nein, so einfach hat es sich diese empfindsame und in all ihrer Hinfälligkeit dem Leben zugewandte Frau nicht gemacht. Sie hat weiter und tiefer gesehen. "Tage kommen und gehen. Alles bleibt, wie es ist. Nichts bleibt, wie es ist, es zerbricht wie Porzellan. Du bemühst dich, die Scherben zu kleben zu einem Gefäß und weinst, wenn es nicht glückt."

Tage kommen und gehen, nach außen hin bleibt das gewohnte Gleichmaß - aber nur nach außen hin und nur an der Oberfläche! Wir reagieren, wie immer, auf den Druck und die Atemlosigkeit mit scheinbar demonstrativer Gelassenheit. Aber wir tragen unsere Wunden innen. Da sind wir verletzbar, angeschlagen, müde. Da fragen wir uns, was unser Leben eigentlich wertvoll macht, ob sich aus den vielen Bruchstücken von Versagen, vielleicht auch Schuld doch noch ein sinnvolles Ganzes fügen läßt. Und dann erleben wir: es gelingt uns nicht. Was wir zusammenfügen möchten, zerbricht wie Porzellan. Scherben halten wir in der Hand. "Du bemühst dich, die Scherben zu kleben zu einem Gefäß", sagt Rose Ausländer, "und du weinst, weil es nicht glückt".

Soll auch das dann immer so weitergehen? Das wäre ja die Hölle! Der Verfasser des Epheserbriefes, der die Gedanken des Apostels Paulus nachgedacht hat, sagt in diesem Zusammenhang folgerichtig: Wer so lebt, ist eigentlich schon tot. In dem Licht einer gnadenlosen Beurteilung des Leben bedeutet das: ihr seid gescheitert. Alle eure Anstrengungen, euer Bemühen haben nichts genutzt. Der Einsatz aller Kräfte war vergeblich, In diesem durchdringenden Licht bleibt nur die Erkenntnis eigenen Versagens, und damit ist ein Leben im Grunde schon abgeschlossen und abgewertet, auch wenn der Mensch im täglichen Auf und Ab weiterexistiert und weiterfunk tioniert, "Tot in den Sünden", nennt es der Schüler des Paulus, und er meint: nicht mehr zu einem sinnvollen Leben fähig.

Muß das so sein, muß das so bleiben? Nein, der Briefschreiber hält dagegen: Gott selbst will nicht, daß es so bleibt. In einem geradezu überschwenglichen Hochgefühl wird Gottes Handeln mit uns beschrieben. Seine Barmherzigkeit und seine Liebe haben ein Ziel: gelungenes, sinnvolles Leben

Da ist nicht mehr von den vielen Bruchstücken die Rede, die wir zu einem Gefäß zusammenkleben wollen, die unter unseren Händen jedoch zu einem Scherbenhaufen werden. Hier entsteht vor unseren Augen und auch wider alles Erwarten ein sinnvolles Ganzes, und das ist - mit den Wortendes Bibeltextes - Gottes Werk, geschaffen durch Jesus Christus, verankert und aufgehoben im Himmel.

Gelungenes, sinnvolles Leben - wenn man diesen Worten glauben darf, hängt es letzten Endes nicht am Einsatz unserer Kräfte und Fähigkeiten. Gott selbst will es garantieren - unabhängig von Leistung und Verdienst, Erfolg oder Versagen. Dafür ist Jesus Christus eingetreten mit seinen Worten, mit seinen Taten, schließlich mit seinem Sterben. Deshalb kann man sich darauf einlassen.

Erinnern wir uns: auf andere Menschen ist er zugegangen, als sei das selbstverständlich, als brauchte man keine Legitimation und keinen Leistungsnachweis, als genügte es, ein Mensch zu sein. Auf andere ist er zugegangen, als brauchte man sich nicht vor ihnen zu fürchten und sich nicht gegen sie durchzusetzen, als genügte es, mit Verständnis, Hilfsbereitschaft und Mitmenschlichkeit zu reagieren. Die Menschen aber, denen er sich so zugewandt hat, sind in seiner Nähe anders geworden. In seiner Offenheit und Menschenfreundlichkeit haben sie Gottes Ja zum Leben gespürt, und das hat ihren Alltag verändert. Ein neuer Geist hat ihr Denken und Handeln bestimmt. Sie haben gespürt, wofür eigentlich leben und wofür es sich zu leben lohnt.

"Geschaffen zu guten Werken", sagt der Briefschreiber. Ja, auch das gehört zum Menschsein dazu und bereichert unser Leben. Das kann auch zufrieden und glücklich machen für andere da sein, sie in die eigenen Lebensvorstellungen und Wünsche einbeziehen, mit ihnen hilfsbereit und fürsorglich zusammenleben.

Wenn wir fragen, wie es eigentlich weitergehen soll, dann schleicht sich so oft das Gefühl ein: wir sind zum Erfolg verdammt - auch mit unseren sogenannten guten Werken. Die Bilanz hat positiv zu sein. Wir denken vielleicht an Bertolt Brecht und seinen Stoßseufzer: "Es muß ein guter Schluß sein, muß muß, muß!"

Der Schluß ist ja gut, und die Bilanz ist schon positiv. Wir haben den guten Schluß schon hinter uns. So jedenfalls sieht es der Schüler des Paulus, wenn er behauptet, unser Leben sei, wo wir uns auf den Geist des auferstandenen Christus einlassen, schon im Himmel verankert.

Jeder Mensch hat "seinen" Himmel, seinen Lebenshorizont mit den Orientierungspunkten, die ihm wichtig sind und mit den Zielen, die er sich gesetzt hat. Aber wie oft verschwimmt solch ein Horizont, löst sich auf, wird unsichtbar! Wir kennen das doch, wenn wir fragen, wie es eigentlich weitergehen soll. Der Himmel, den uns der Epheserbrief erschließen will, ist ein weiterer, umfassenderer Lebens- und Verstehenshorizont. Gott hat ihn gesetzt mit Jesus und seinem Verständnis von Leben. Er garantiert auch, daß dieser Horizont unverrückbar und sichtbar bleibt.Wir können auf ihn zugehen, und er wird mit uns wandern. Da eröffnen sich tatsächlich neue Räume für eine sinnvolle Gestaltung des Lebens und neue Möglichkeiten für mitmenschliches Zusammenleben. Der von Gott gesetzte Lebenshorizont stimmt, auch wenn wir auf dem Weg hin und wieder ins Stolpern geraten. Sein Horizont ist wichtig, nicht die Frage nach unseren erfolgreichen Schritten.

Natürlich bleibt die Herausforderung "Geschaffen zu guten Werken", in denen wir uns ja auch bewähren wollen. Natürlich bleibt das Leben eine Aufgabe. Aber der Epheserbrief macht die Voraussetzung klar: "Gottes Gabe ist es, denn wir sind sein Werk. Aus Gnade seid ihr selig geworden, ist euch der Himmel geschenkt. Verdienen und erkämpfen könnt ihr ihn euch nicht, aber darauf vertrauen könnt ihr".

Diese Voraussetzung nimmt unserem Bemühen und unseren Lebensversuchen den Druck, dem wir - auf uns selbst angewiesen - nicht standhalten könnten. Aber Gott, der den Horizont gesetzt hat, begleitet uns auf unserem Weg in neue Räume von Leben und Freiheit. Da ist dann auch Zeit, um zur Ruhe zu kommen, um Atem zu holen, Zeit für Glück.

Tage kommen und gehen, das bleibt, wie es ist - Gott sei Dank!

Amen

Walter Meyer-Roscher
Landessuperintendent in Hildesheim
Michaelisplatz 3A
31134 Hildesheim


[Zum Anfang der Seite]

[Zurück zur Hauptseite] [Zum Archiv] [Zur Konzeption] [Diskussion]