Göttinger Predigten im Internet, hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch


Sonntag: 8. S. nach Trinitatis
Datum: 2.8.1998
Text: Epheser 5, 8b-14
Verfasser: Wolfgang Petrak


Predigttext: Einheitsübersetzung 1980

"Denn einst wart ihr Finsternis, jetzt aber seid ihr durch den Herrn Licht geworden. Lebt als Kinder des Lichts! Das Licht bringt lauter Güte, Gerechtigkeit und Wahrheit hervor. Prüft, was dem Herrn gefällt, und habt nichts gemein mit den Werken der Finsternis, die keine Frucht bringen, sondern deckt sie auf! Denn man muß sich schämen, von dem, was sie heimlich tun, auch nur zu reden. Alles, was aufgedeckt ist, wird vom Licht erleuchtet. Alles Erleuchtete aber ist Licht. Deshalb heißt es: Wach auf, du Schläfer, und steh auf von den Toten, und Christus wird dein Licht sein."

Liebe Gemeinde!

Es ist früh. Der Wecker klingelt. Das heißt: er gibt diesen zunächst leisen, aber durchdringenden Summton von sich; wird dann immer lauter, immer schneller. Die Zeitansage ist nicht durch Gleichmaß bestimmt, sondern durch Beschleunigung. Sie sagt dir: "Es ist höchste Zeit." Du versuchst, den Wecker abzustellen, dich noch mal auf die andere Seite zu drehen, um noch einmal - und sei es nur für Sekunden - einzuschlafen und dich von der Weite eines zeitlosen Traumes einfangen zu lassen. Und das, obwohl die Träume der Nacht schwer gewesen sind.

Das Licht des Morgens fällt durch einen Gardinenspalt auf dein Gesicht. Die Sonne. Du kannst die Augen nicht geschlossen halten. "Wach auf, du Schläfer ..., steh auf!"

Aufstehen: das ist dem Leben eine andere Richtung geben. Liegenzubleiben hieße: nachzugeben, der Müdigkeit anheimzufallen, jener Sucht des Verdrängens, die mit der Beschleunigung der Zeit korrespondiert. Aufzustehen: jetzt bist du da, erkennbar für andere. Und du stehst auf beiden Beinen, mal sehen, wie der Tag so läuft.

Schnell raus ins Bad, fertig machen. Der übliche Blick in den Spiegel; sich jeden Morgen als der gleiche wahrzunehmen und zugleich ungeschönt mit der Wirklichkeit konfrontiert zu sehen: Spuren des Älterwerdens, die Haare, Faltenbildung. Dir fallen die Träume wieder ein, waren sie aus dieser Nacht oder davor oder überhaupt? Sie gleichen sich so. Da ist diese Situation, mit einem Mal wieder Schüler zu sein; du bist mit Vokabeln dran. du willst was zu deiner Entschuldigung sagen, aber es geht nicht. Du hörst nur."Setzen" und: "Du wirst sitzenbleiben". Der Versuch rauszulaufen mißlingt, die Beine sind bleischwer... Eigenartig, welche Macht die Vergangenheit hat.

Du denkst jetzt, es ist eigentlich Zeit für Urlaub. Du siehst auf die Uhr: Es ist noch Zeit für Kaffee. Und für einen Blick in die Zeitung. Härte im Jugendstrafvollzug. Du denkst, daß sich die Parteien im Wahlkampf gleichen, obwohl doch Neues dran ist. Ist es die Hilflosigkeit vor unserer Zeit, die harte Männlichkeitsprofile fordert? Müdes Umblättern. Unten rechts eine kleine Meldung: Flüchtlingselend im Kosovo. Wer hilft ihnen? Wie sie sieht das aus mit den Kosovo-Albanern bei uns, deren Duldung abläuft: müssen die zurück in die Ungewißheit des Bürgerkrieges? Wird es genauso werden wie in Bosnien? Gibt es überhaupt ein Konzept eines Nationalismus, für den Krieg als Option gilt? Fragen ohne Antwort. Ist es die Macht des Gestrigen, die dich so schnell umblättern läßt, ist es müde Resignation, oder diese hetzige Haltung, die im Fluge der Zeiten nach Abwechslung verlangt?

Der Sportteil. Tour de France. Unglaublich, mit was für einem Tempo die die Alpenpässe nehmen. Unglaublich und schlimm wieder dieser Doping-Skandal. Der Sport steht unter dem Diktat der Zeit. Daß Geschwindigkeiten übertroffen, daß Leistungen überboten werden: das erwartet man. Daß der Körper im Prinzip eine endliche Größe ist: das weiß man. Also werden Mittel genommen, die die Grenze hinausschieben, zumindest zeitweise. Übrigens: wie viele nehmen Medikamente ein, weil sie ihnen Zeit zum Entfliehen zu gewähren scheinen, wie viele haben sich an den Alkohol gewöhnt, weil sie eigentlich aus dem Druck rauskommen wollen und eine entspannte Stimmung suchen. Und dann der Morgen danach.

Es ist Zeit, du legst die Zeitung weg. Du siehst den Morgen. Es ist Sommer. Morgenlicht leuchtet.

"Wach auf, du Schläfer, und steh auf von den Toten, und Christus wird dein Licht sein".

Du weißt ja, wie das mit dem Licht ist. Wie es wachsen läßt und Kräfte gibt ohne dein Zutun. Du weiß auch, wie das mit der Müdigkeit ist, jenem Ineinander von rasend schneller Entwicklung und dem Versuch, dem etwas entgegenzustellen. anzuhalten, an das Vergangene zu binden. Es sind beides Seiten der Zeit, die wie eine Macht über uns kommt und darin ausgeliefert sein läßt, müde und verschlossen. Ach, die griechischen Sagen erzählten davon, daß Chronos, das Ungeheuer fortschreitender Zeit, seine eigenen Kinder auffraß. Er konnte nur durch Kairos, den Gott der erfüllten Gegenwart aufgehalten werden.

Die Bibel aber sagt dir direkt: "Wach auf .. Steh auf !" Steh auf von den Mächten des Todes, der Schuld und der Zeit. Du bist da drin - gewesen, in der Dunkelheit. Aber jetzt ist es anders. Schluß, aus. Das Alte ist vergangen, Neues ist geworden. Gott sei Dank. Du bist im Licht des Morgens, und wie das Licht nicht bei sich selbst bleibt, sondern herausgeht und alles umfängt, so gehst du heraus. Erkennbar. In eine neue Richtung. So wie Christus nicht bei sich selbst bleibt, sondern hineinkommt in unsere Zeit der Welt. Er wird erkennbar in dem, wie du wach wirst, gehst, arbeitest, glaubst. Steh auf und geh. Sieh, wer dir begegnet und was zu tun ist.

Sie ist ungefähr 75. Sie sagt, daß sie jetzt richtig wach geworden ist. Sie war zum ersten Mal nach Polen gefahren, in die alte Heimat. Sie habe übrigens schon immer gemeint, man müsse die Realitäten sehen. Aber es sei schwer gewesen. Ihre Schwester war in Polen geblieben, hatte dort geheiratet, ihre Kinder sprachen nur polnisch. Aber sie hatten sich alle beim Wiedersehen gefreut, es wurde gefeiert und erzählt, von den alten Zeiten, wie schwer das alles gewesen war. Und natürlich auch von den neuen Zeiten, wie schwierig das alles geworden sei, es könne einen richtig bedrücken und müde machen. Und dann sei sie am nächsten Morgen in ihre Kirche gegangen, wo sie konfirmiert worden ist. Da habe sie nicht anders gekonnt, es kamen die Tränen, so als ob alles rauskommt.

Die polnische Küsterin, die sie reingelassen hatte, weil sie gerade saubermachte, kam auf sie zu, sah sie an und sagte: "Ich verstehe Sie"', Und dann ging sie in die Sakristei und kam mit einem Gesangbuch zurück. "Für Sie, ich verstehe Sie". Das sei dann so gewesen, als ob mit einem Mal Licht reinkommt.

Wissen Sie", sagte sie, "ich lebe jetzt irgendwie anders. Ich bin wach geworden, Gott sei Dank. Ich glaube, daß es wirklich Versöhnung gibt. Es zählt nicht mehr die alte Zeit, sondern das, was wir jetzt machen. dieses Buch mit seinen Worten bleibt. Dieses Gesicht, das mich verstanden hat - ich werde es nie vergessen".

So ist Jesus Christus. Gott sei Dank.

Lied nach der Predigt: 450,1-3

Wolfgang Petrak
Pastor in St. Petri-Weende
Schlagenweg 8a, 37077 Göttingen


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