Göttinger Predigten im Internet, hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch


Sonntag/Feiertag: Kantate
Datum: 10. Mai 1998
Text: Kolosser 3, 12-17
Verfasser: Dr. Jan Chr. Vaessen, Groningen


Predigttext:

12 So zieht nun an als die Auserwählten Gottes, als die Heiligen und Geliebten, herzliches Erbarmen, Freundlichkeit, Demut, Sanftmut, Geduld;
13 und ertrage einer den andern und vergebt euch untereinander, wenn jemand Klage hat gegen den andern; wie der Herr euch vergeben hat, so vergebt auch ihr!
14 Über alles aber zieht an die Liebe, die da ist das Band der Vollkommenheit.
15 Und der Friede Christi, zu dem ihr auch berufen seid in einem Leibe, regiere in euren Herzen; und seid dankbar.
16 Laßt das Wort Christi reichlich unter euch wohnen: lehrt und ermahnt einander in aller Weisheit; mit Psalmen, Lobgesängen und geistlichen Liedern singt Gott dankbar in euren Herzen.
17 Und alles, was ihr tut mit Worten oder mit Werken, das tut alles im Namen des Herrn Jesus und dankt Gott, dem Vater, durch ihn.

Exegetische und homiletische Hinweise:

In dieser Predigt habe ich versucht, eine andere Paulusinterpretation darzubieten als die übliche. Die Beziehung zu unserer Aktualität liegt in Paulus Interesse an einer großen Verschiedenheit philosophischer und geistlicher Strömungen, die in Kolossä und Umgebung in einer Situation von wirtschaftlichem Wohlstand geläufig waren. Dafür habe ich den Kommentar zu dem Kolosserbrief von Dr. L. Th. Witkamp benutzt (Kolossenzen, in: Teksten en Toelichting Kampen, 1994). Homiletisch wirkt sich das dann so aus, daß die einigermaßen vergleichbare Situation - kleine, mehr oder weniger bedrohte Gemeinden Christi in einer religiös und kulturell pluralen Umwelt - fruchtbar gemacht werden für die Gemeinde. Paulus Ansichten über die Taufe sind auch heute noch interessant und können Gemeinden und Glaubenden helfen, ihr Leben nach dem Modell des Reiches Gottes zu gestalten.

Predigt

Liebe Gemeinde,

es hört sich so leicht an: ziehet nun an herzliches Erbarmen, Freundlichkeit, Demut, Sanftmut, Geduld. Als ob man eine Jacke anzieht. Eigentlich stimmt die Formulierung auch nicht ganz , denn es handelt sich hier um innere Qualitäten. Die kommen nicht von außen und die zieht man nicht leicht und locker an und aus. Sie befinden sich tief im inneren Leben des Menschen und sind sehr oft die Frucht eines langen und meistens streitenden Glaubenslebens. Es wundert mich, daß Paulus das alles so einfach niederschreibt, weil er sonst immer sehr sorgfältig und nachdenklich seine Gedanken und Ideen formuliert. Was steckt dahinter? Hat es vielleicht etwas zu tun mit den Kolossern im allgemeinen oder mit der christlichen Gemeinde in Kolossä im besonderen?

Die kleine Stadt Kolossä lag in der Gegend Phrygien, das ist irgendwo in der heutigen West-Türkei, in einem Tal das berühmt war wegen seiner Wollindustrie. Mit Laodizea und Hierapolis formte Kolossä das Zentrum dieser Wollindustrie. Die Wolle wurde hier bearbeitet und gefärbt mit den schönsten Farben. Da gab es auch eine wichtige Landstraße an diesen drei Städten entlang, die Ost und West der damaligen biblischer Welt verbunden hat, und diese Landstraße hatte militärisches und wirtschaftliches Gewicht. Dies war eine Gegend, wo Menschen aus der ganzen Welt ein- und ausreisten und sich auch bleibend ansiedelten, das alles wegen ihres blühenden Wohlstands. Phrygien hatte sogar eine große jüdischen Gemeinschaft, die sich dort angesiedelt hat, und die Juden wurden in dieser internationalen und interkulturellen Gesellschaft geliebt und geachtet. Die jüdischen Gebräuche und Gesetze übten immerhin große Anziehungskraft aus auf Nicht-Juden, übrigens ohne daß diese Leute zum Judentum übergehen mußten.

Auch in Kolossä war so eine kleine jüdische Gemeinschaft, die ihre Anhänger aus diesen in den jüdischen Gebräuchen und Gesetzen interessierten Nicht-Juden bekam. Sie wurden Christen genannt. Diese Gemeinschaft war nicht von Paulus gegründet worden, aber von Paulus Mitarbeiter Epafras der selber aus Kolossä kam. Er hatte ihnen das Evangelium Jesu Christi gelehrt, und er informierte Paulus ständig über die Entwicklungen in dieser neuen Gegend der Mission. Die Gemeinde in Kolossä war eine kleine Gemeinde, die in einer Umgebung mit einer verwirrenden Menge verschiedener Glaubens- und Weltbetrachtungen aufwachsen mußte. Es war eine Gemeinde, die so vielen total verschiedenen Einflüssen ausgesetzt war, daß man es als ein Wunder betrachten kann, daß überhaupt noch etwas vom Evangelium standhalten konnte. Deswegen schrieb Paulus auch ab und zu - aufgrund der Dinge, die er von Epafras hörte - einen Brief an die Gemeinden; und dieser Brief sollte dann auch den anderen Gemeinden in der Gegend vorgelesen werden. So war es auch mit dem Brief von Paulus an die Kolosser.

Paulus wendet sich in diesem Brief an die Kolosser besonders gegen eine Weltanschauung, die in Kolossä und Umgebung sehr einflußreich geworden war. Vielleicht liegt die Ursache im blühenden Wohlstand - auf jeden Fall ist das heute bei uns sehr oft so -, aber in Kolosse und

Umgebung gab es auf einmal sehr viel Interesse am innerlichen und geistlichen Wohl des Menschen. Das Materielle wurde ein Tabu, das innerliche Heil wurde überwichtig. Diese Weltbetrachtung war vor allem asketisch, das heißt man soll vom Genuß des Lebens absehen, um gut glauben und das göttliche Heil realisieren zu können. Man bemühte sich um Kenntnisse der Innenseite der Wirklichkeit. Nur die Tiefen unter den äußerlichen Erscheinungen waren eigentlich und wesentlich interessant. Die Weisheit diente dazu, um in Harmonie mit diesen Tiefen zu leben. Das bedeutete in der Praxis des Alltags, daß man hart sein sollte zu sich selbst und zu seinem eigenes Leib; es bedeutete Fasten und Selbstzüchtigung; es bedeutete, pünktlich die jüdischen Feiertage und eine strenge Diät einzuhalten. Auf diese Weise konnte man die Demut erwerben, die auch die Engel haben und die die himmlische Liturgie kennzeichnet. Auf diese Art und Weise bekam man sogar Zugang zum himmlischen Ehrendienst und wurde es möglich, diesen auch auf Erden zu kopieren. "Demut" ist also bei den Kolosser kein Begriff, der die Beziehungen zwischen Menschen gut und schön machen kann, sondern ein Begriff, der den Zugang zu direkten individuellen Glaubenserfahrungen und zu subjektiven Glaubensoffenbarungen möglich macht.

Mit diesem Fasten, diesem strengen Leben, diesem dauernden Beschäftigtsein mit dem eigenen innerlichen Leben wurde Kontakt mit den Engeln und den anderen höheren Machten und Kräften, die den Lauf der Dinge in der Weltordnung regieren, möglich. Sie wurden zwar in der Gemeinde von Kolossä nicht verehrt, aber doch als die elementaren Mächte im ganzen Universum erfahren. Und weil es eine feste Verbindung gibt zwischen dem Makrokosmos des ganzen Universums und dem Mikrokosmos der Familie und den zwischenmenschlichen Verbänden - ist es wichtig, die Harmonie mit diesen Mächten und Kräften zu gewinnen! Nur dann wird es möglich, die göttliche Vollkommenheit zu erreichen, und dafür braucht man viel Übung und ein strenges Lebensregime. - Nur diejenigen, die das wollen und können sind die richtigen Glaubenden. Alle anderen gelten als faul und lax.

Alle diese philosophischen Gedanken wirken natürlich auch in der Gemeinde Jesu Christi in Kolossä! Und für Paulus ein bißchen zu viel, weil sie zu viel Nachdruck auf das eigene Handeln der individuellen Glaubenden legen, um das Heil zu verdienen, und zu wenig Wert legen auf das große Geschenk, das sie vom Herren bei ihrer Taufe bekommen haben.

Wie so oft führt auch hier der Kultus der 'Niedrigkeit' zu einer unausstehlichen Arroganz und zu einem schrecklichen Herabsehen auf die sogenannten Laxen. Kein Wunder, daß Paulus sich hiergegen wendet, denn das ist doch nicht mehr Evangelium Jesu Christi. Er führt der Gemeinde von Kolossä vor, was ihnen mit der Taufe im Namen des Vaters und des Sohns und des Heiligen Geistes gegeben worden ist. Mit der Taufe sind wir in das Kraftfeld Jesu hinübergebracht worden, und das bedeutet Befreiung. Denn, weil Jesus Herr ist über das ganze Universum, sind wir in ihm befreit worden von allen Mächten der Finsternis, von Sünde und Tod. Das bedeutet Befreiung von der beklemmenden Zwangsjacke der religiösen Gesetze und Pflichte, Befreiung von der Selbstzufriedenheit und der Erniedrigung anderer Leute, Befreiung vom Eigenwahn. Dadurch wird Platz gemacht für innerlichen Frieden, herzliches Erbarmen, Freundlichkeit, Demut, Sanftmut, Geduld. Ja, und diese Früchte des geistlichen Lebens werden nicht - ich wiederhole: nicht - verdient durch ein hartes und strenges Leben, das meistens auf Kosten anderer geht, sondern sie sind Dir gegeben bei der Taufe. Nicht Hochmut und Arroganz, sondern Dankbarkeit, Toleranz und Liebe. Keine Aufteilung innerhalb der Gemeinde zwischen den Echten und den Laxen, sondern gegenseitige Treue und Verbundenheit in Christum. Viele Gaben, ein Geist, der die Gemeinde zusammenbringt, zu Lobliedern antreibt und die Glaubenden alles tun läßt im Namen Jesu, wodurch Gott dem Vater gedankt wird, wie Paulus sagt.

Paulus mag es gern nachzudenken, hin- und herzureden und zu phi1osophieren. Er vertieft sich auch immer sehr in die Denkweisen und Philosophien, die so herumgehen in den Gemeinden, an die er seine Briefe schreibt. Er versucht immer, so gut wie möglich zu verstehen, was die Leute von Haus aus treiben, damit er besser auslegen kann, wie das Reich Gottes aussieht, wenn man es mit den autochthonen Ideen und Philosophien vergleicht. Wo liegen die relevanten Differenzen, und wo droht die Gefahr, daß wir uns irren und verwirren? Dasselbe geschieht auch im Kolosserbrief. Daß Paulus so locker und einfach sagt: ziehet nun an herzliches Erbarmen, Freundlichkeit, Demut, Sanftmut, Geduld, steht, so denke ich, in einer direkten Verbindung mit der in Kolossä und Umgebung herrschenden Weltanschauung.

Es ist, als ob Paulus sagt: Diese christliche Tugenden kann man in seinem eigenen innerlichen Leben nicht mit Meditation, strengen geistlichen Regimes und Verweigern von Genuß kultivieren. Das gibt nichts und nützt nichts. Es führt nur zu Hochmut, Zwangsneurosen und unheimlichen Sekten. Nein - Liebe, Frieden, Freundlichkeit, Demut sind Dir bei der Taufe schon von Gott gegeben. Sie sind wie eine warme Jacke um Dich gelegt und geben Dir innerliche Ruhe und Geborgenheit. Gott hat dafür gesorgt, und er wird damit nicht aufhören so lange Du lebst. Dann wirst Du nicht mehr in Ängsten und in der einsamen Verzweiflung leben, ob das Heil Dich überhaupt noch erreichen wird, sondern in einer entspannten Dankbarkeit, die Dich öffnet für die Gemeinschaft mit anderen Menschen. Dann wird das Leben gut, denn wir sind zusammen, wir ertragen einander, vergeben einander, lieben einander, genießen zusammen und wissen uns vereinigt in Christum durch die Liebe Gottes. Ja, und was könnte ein Mensch eigentlich noch mehr wollen!? Nachdenken ist prima, aber es muß keine 'Nabelschau' werden, denn das nutzt keinem. Nachdenken ist okay, wenn es geschieht zu Ehren Gottes und zum Wohl des Mitmenschen und man dadurch selbst auch noch froh und glücklich wird.

Paulus weiß ganz genau, daß die Früchte des Heiligen Geistes wachsen müssen - tief im Inneren des Glaubenden. Und deutlich ist ihm auch, daß das ein Leben lang dauert, ein Leben mit Rückschlägen und Überwindungen und mit einem zunehmenden Vertrauen, daß der Herr nie verlassen wird, was seine Hand begonnen hat. Aber Kolossä muß es noch mal gesagt werden - und uns wird das auch nicht wehtun, nochmal zu hören: daß uns alles bei der Taufe schon gegeben ist, daß wir nicht alles selber machen müssen, sondern daß Gott Menschen, die sich leiten lassen wollen durch den Heiligen Geist, ein gutes Leben geben will und wird. Die Taufe ist davon das greifbare Zeichen, das uns helfen will, unser Leben gut und schön zu machen.

Hast Du diese Freude verloren? Dann bitte frage den Herrn damit er Dein Herz öffnet für seinen Geist, den er in Dich gelegt hat bei der Taufe oder legen will. Laß doch seinen Geist in Dir wirken und sieh mal, was geschieht. Du wirst Dich wundern. Neue Perspektive werden sich anmelden, Perspektiven die Du schon längst vergessen hast oder noch nie gedacht hast. Ich selbst habe oft - neben dem Gegenteil - glücklicherweise auch diese Erfahrung gehabt, und ich kann Dir sagen: Es ist fabelhaft, in Harmonie mit Gott, mit sich selbst, mit den Menschen und mit der Gemeinde zu leben. Das gilt nicht nur den Kolossern, sondern jedem, der es hören und erleben will. Es wird Dir gegeben, damit Du etwas damit anfangen kannst und tun wirst.

Amen.

Dr. Jan Chr. Vaessen, Groningen

E-Mail-Adresse: jcvaes@worldaccess.nl


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