Göttinger Predigten im Internet, hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch


Sonntag/Feiertag: Misericordias Domini
Datum: 26. April 1998
Text: 1. Petrus 2, 18-25
Verfasser: Dr. Wilhelm Hüffmeier


Text: 1. Petr. 2, 18-25

18 Mahnungen an die Sklaven Ihr Sklaven, ordnet euch in aller Furcht den Herren unter, nicht allein den gütigen und freundlichen, sondern auch den wunderlichen. 19 Denn das ist Gnade, wenn jemand vor Gott um des Gewissens willen das Übel erträgt und leidet das Unrecht. 20 Denn was ist das für ein Ruhm, wenn ihr um schlechter Taten willen geschlagen werdet und es geduldig ertragt? Aber wenn ihr um guter Taten willen leidet und es ertragt, das ist Gnade bei Gott. Denn dazu seid ihr berufen, da auch Christus gelitten hat für euch und euch ein Vorbild hinterlassen, daß ihr sollt nachfolgen seinen Fußtapfen; er, der keine Sünde getan hat und in dessen Mund sich kein Betrug fand; der nicht widerschmähte, als er geschmäht wurde, nicht drohte, als er litt, er stellte es aber dem anheim, der gerecht richtet; 24 der unsre Sünde selbst hinaufgetragen hat an seinem Leibe auf das Holz, damit wir, der Sünde abgestorben, der Gerechtigkeit leben. Durch seine Wunden seid ihr heil geworden. 25 Denn ihr wart wie die irrenden Schafe; aber ihr seid nun bekehrt zu dem Hirten und Bischof eurer Seelen.

Liebe Gemeinde,

ein befremdlicher, ein fast ärgerlicher Text! Wir erwarten in der Osterzeit nicht Leiden und Kreuzigung im Zentrum der Botschaft, sondern den neuen Morgen danach. Aber Ostern wäre mißverstanden, wenn es für uns bedeutete: Das Kreuz ist nun vergangen und vergessen. Selbst der Zweifler Thomas erkennt den auferstandenen Christus an den Wundmalen des Gekreuzigten.

Es ist mit Ostern wie mit der Liebe: Erst wenn sie auch den Leiden und den Schmerzen ausgesetzt war, hat sie ihre Prüfung bestanden. Die Kämpfe, die sie zu überstehen hat, ihre Wunden, ihre Narben, sind der Test auf ihre innere Wahrheit. So ist das auch mit dem guten Hirten, der sich nicht aus dem Staub macht, wenn es gefährlich wird. Geradezu wirbt er für ein Leben mit ihm.

Aber zunächst geht es ja gar nicht um Christus. Es geht um uns Christen. Um Dich und mich. Es geht um die Macht der Auferstehung in unserem Leben. "Blüh' auf, gefrorner Christ, der Mai steht vor der Tür."

Sicher, wir sind keine Sklaven, wie die in unserem Text angesprochenen Personen. Aber in allerlei Abhängigkeitsverhältnissen stehen wir doch, leichtere und schwerer zu handhabende. Der unzufriedene oder aufbrausende Chef, die ungerechte Vorgesetzte, der ewig nörgelnde Kollege, die Unzufriedenheit von Mitarbeitern oder Untergebenen, die Abhängigkeit von Ämtern und Behörden. Abhängigkeiten bestehen nicht nur von oben nach unten, wer oben ist, kann auch höllisch abhängig sein von denen unten - z.B. ihren Launen und ihrer Arbeitswilligkeit. In der Familie gibt es ja auch nicht nur die "gütigen und freundlichen" Väter und Mütter, Onkel und Tanten, Cousins und Cousinen, sondern auch, wie es in der Lutherübersetzung unseres Textes heißt, die "wunderlichen". Eine moderne Übersetzung spricht von den "verdrehten" Leuten, mit denen wir auskommen müssen.

Christen, so heißt nun die Botschaft dieses Textes, sind verträgliche, versöhnliche, zur Vergebung bereite Menschen, also solche, die lieber Unrecht leiden als zurückzuschlagen. Freilich, so weiß der Text auch: Sich so verhalten zu können, ist eine besondere Gnade. Es ist also kein Gesetz, das überall und unter allen Umständen gilt. In der Erziehung wird der Vater oder die Mutter auch einmal energisch raten müssen: "Wehr' Dich, schlag' zurück, verschaffe Dir Respekt." Aber christliche Eltern werden zu gegebener Zeit hinzufügen; "Um so eindrücklicher ist es, wenn Du dann, wenn Du Respekt gewonnen hast, wenn Du etwas darstellst, Nachsicht übst und bei der nächsten Gelegenheit großzügig vom Zurückschlagen absiehst. Das macht einen bleibenden Eindruck."

Ich weiß, das ist leicht gesagt, auch von einer Kanzel. Im Getümmel des Alltags geht's hart zu. Was könnte das Motiv sein, woher nehme ich meine Kraft, zu vergeben, lieber Unrecht zu erleiden, als zurückzuschlagen oder auch nur heimlich die Fäuste zu ballen und auf Rache zu sinnen?

Ich will nicht ausschließen, liebe Gemeinde, daß es zunächst einmal Klugheit sein kann. Lieber nachzugeben, Unrecht zu dulden, als gegenzuhalten, kann ein Gebot der Lebensklugheit sein. Der Sklave, der schlechte Behandlung und das Unrecht seines Herrn erträgt, weiß vielleicht: Der sitzt am längeren Hebel, bei dem strampele ich umsonst. Mit Widerworten und Widerstand erreiche ich gar nichts.

Als ich kürzlich in London war, erzählte mir eine ältere Dame, die als junges Mädchen in Deutschland einen englischen Soldaten geheiratet hatte und in ein Dorf bei Nottingham verpflanzt worden war: "Wissen Sie, zu Anfang haben die Dorfbewohner mir viele häßliche Worte nachgerufen und mich mit Blicken der Verachtung dafür gestraft, daß ich es gewagt hatte, einen der ihren zu heiraten. Ich verstand nicht alles, aber ich spürte, wie sie sagen wollten: "Sind denn unsere Mädchen nicht gut genug für einen Engländer? Muß der sich ausgerechnet eine aus Nazi-Deutschland mitbringen?!" Dann fuhr sie fort: "Ich habe die Leute immer angelächelt und sie freundlich gegrüßt, das war alles. In wenigen Wochen war ich von ihnen akzeptiert."

Ich weiß, nicht jeder kann das, und nicht jedes Temperament läßt das zu. Aber aus der Lebensklugheit kann eine solche Macht der Überwindung des Bösen durch das Gute kommen. Es war eine recht einfache Weisheit, aber sie führte zum Ziel. Die Beschämung durch Großzügigkeit hat es erst recht in sich. Freilich, die Kraft zum Ertragen von Unrecht kann auch noch von woanders herkommen. Der Text sagt: "Christus hat für euch gelitten und euch ein Vorbild hinterlassen, daß ihr sollt nachfolgen seinen Fußstapfen."

Die damals am Kreuzweg in Jerusalem standen, die Zeugen seines Leidens, seiner Geißelung und Verspottung, die haben es unmittelbar gespürt. Da ist einer, der das Gesetz von Haß und Rache, von Unrecht und Vergeltung durchbricht und dafür in die Bresche tritt. Da er sich doch selbst nichts hatte zuschulden kommen lassen, ein Gerechter war unter so vielen Ungerechten, begannen sie zu ahnen: Der tut das nicht für sich, er tut das für andere, stellvertretend für uns. Aus einer tiefen Sympathie für diesen Menschen, der nicht Gleiches mit Gleichem vergalt, nicht Schmähungen mit Schmähungen, nicht Leiden mit Drohungen, rief der heidnische Hauptmann am Kreuz aus: "Wahrlich, das ist Gottes Sohn." Napoleon soll einmal gesagt haben: "Ich kenne die Menschen, der war mehr als ein Mensch."

Und wir? Ist uns sein Bild, die Kraft seines Erduldens und Ertragens so fern gerückt, daß es uns nicht mehr bewegt? Sind die Zwänge des Alltags so stark, daß diese Botschaft nicht mehr wahr und richtig sein soll? In dem Roman von Dostojewski "Die Brüder Karamasow", liebe Gemeinde, geht der jüngste Sohn Mitja in die Schule des Mönchs Sossima. Ich weiß, das ist so ein Roman, den man unter Umständen viele Male zu lesen versucht, aber durch den man nie ganz durchkommt; er ist wie ein alpiner Berg, ein Massiv. Aber vielleicht ist jemand doch einmal bis zu der Stelle vorgedrungen, wo der Mönch Sossima zu Mitja sagt: "Vor manch einem Gedanken bleibt man in Ratlosigkeit stehen, namentlich beim Anblick der Sünden des Menschen. Und man fragt sich: Soll man es mit Gewalt anfangen oder mit demütiger Liebe? Entscheide dich immer so: 'Ich will es mit demütiger Liebe versuchen'...Liebevolle Demut ist eine gewaltige Macht, die stärkste von allen, und es gibt keine, die ihr gleich käme."

Liebevolle Demut - das ist gegen die Selbstherrlichkeit vieler Menschen, auch von Christen und Pastoren, der eine göttliche Wesenszug des Christus. Wir dürfen in seine Fußstapfen treten, in den vielen Geschichten unseres Alltags, wo es an Nachgiebigkeit fehlt, wo ich meine, auf Teufel-komm-raus mein Recht durchsetzen zu müssen, wo ich denke, wieder einmal zu kurz gekommen zu sein. Demütige Menschen sind daran zu erkennen, daß ihnen Erfolge nicht zu Kopf steigen, daß sie sich das Nachtragen verbieten, daß sie in Streitigkeiten den ersten Schritt zur Versöhnung machen. Die kommende Woche kann eine Probe darauf sein. Was uns dabei mißlingt, was als Ungeist der Vergeltung und der Heimzahlung und des Aufrechnens doch wieder aus uns herausbricht, das und all das, was dieser Ungeist angerichtet hat, dürfen wir ihm, dem Christus aufhalsen. Der gute Hirte hat es schon hinaufgetragen an das Holz des Kreuzes. Daß er das getan hat, das ist unser Ostern.

Amen!

Dr. Wilhelm Hüffmeier, Jebensstraße 3, 10623 Berlin


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