Göttinger Predigten im Internet, hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch


Sonntag: Sonntag Judika
Datum: 29.3.98
Text: Hebräer 5,7-9
Verfasser: Professor Dr. Wolfgang Ratzmann

Predigttext:

"Und er hat in den Tagen seines irdischen Lebens Bitten und Flehen mit lautem Schreien und mit Tränen dem dargebracht, der ihn vom Tod erretten konnte; und er ist auch erhört worden, weil er Gott in Ehren hielt. So hat er, obwohl er Gottes Sohn war, doch an dem, was er litt, Gehorsam gelernt. Und als er vollendet war, ist er für alle, die ihm gehorsam sind, der Urheber des ewigen Heils geworden."

Vorbemerkungen:

Hebr. 5, 7-9 löst ambivalente Gefühle aus: Einerseits wird der Text wegen der Menschlichkeit, in der der leidende Jesus hier geschildert wird, oft in seiner seelsorgerlichen Kraft verstanden. Andererseits löst er Gefühle von Abwehr aus, weil z.B. der Begriff "Gehorsam" als Signal für einen autoritären, das Leiden liebenden Gott aufgefaßt werden kann. Ich möchte diese Ambivalenz in der Predigt aufnehmen und dann den Text vor allem seelsorgerlich entfalten. Dabei stütze ich mich auf die Überzeugung, daß der so dogmatisch durchtränkte Hebräerbrief mit seinen uns oft recht fremden Bildern, z.B. dem des Hohenpriesters, letztlich eine seelsorgerliche Absicht verfolgt. Die Gemeinden sind selbst Gemeinden unter der Verfolgung (vgl. 10, 32ff.).

Predigt:

Liebe Gemeinde,

diese wenigen Verse kann man wohl mit ganz unterschiedlichen Empfindungen hören. Die einen werden durch sie an den gekreuzigten Christus erinnert. Sie sehen ihn vor sich, wie er vor Schmerzen weint und schreit, und gerade so kommt er ihnen ganz nahe.

Die anderen fühlen sich eher abgestoßen. Sie hören einzelne schwierige Begriffe. Sie spüren, wie hier problematische Themen angeschnitten werden: Leiden - ein Weg zum Gehorsam? Gehorsam - eine erstrebenswerte Tugend? Gott - einer, der Gehorsam im Leid fordert?

Bleiben wir zunächst bei den Einwänden. Christus, so heißt es hier, habe an dem, was er litt, Gehorsam gelernt. Gehorsam ist heute keine Tugend mehr, die sich allgemeiner Anerkennung erfreute. Das hat wohl nicht nur mit dem "Kadavergehorsam" und der Inanspruchnahme dieses Begriffs durch das preußische Heereswesen und später durch die deutsche Wehrmacht zu tun. Die Gründe liegen vielleicht noch mehr in den für eine moderne Gesellschaft nötigen Werten.

Stellen Sie sich einmal vor: Wir besuchen eine Werkhalle in einer High-Tech Fabrik und befragen einen der wenigen Arbeiter, die dort inmitten der vielen Automaten und Anlagen tätig sind nach den Kompetenzen, die er für seine Tätigkeit braucht. Er würde vermutlich nicht mehr an erster Stelle die alten Werte nennen wie Fleiß und Gewissenhaftigkeit, Gehorsam gegenüber den Vorgesetzten: er würde vielmehr darauf hinweisen, daß es um Kooperationsbereitschaft geht und um Kreativität und um eine positive Einstellung zum Unternehmen. Gehorsam zählt nicht mehr.

Unser Text kommt offensichtlich aus einer vergangenen Welt. Er scheint alte, ziemlich überholte Werte zu transportieren. Kein Wunder, wenn der christliche Glaube ins gesellschaftliche Abseits gerät und seine Moral als überaltet erscheint. Christus habe an dem, was er litt, Gehorsam gelernt. Das klingt so, als habe Gott eine heimtückische Strategie mit den Menschen, und zwar mit jedem einzelnen Menschen damals und heute ebenso wie mit Jesus damals: sie leiden lassen, damit sie Gehorsam lernen. Leben als Erziehung, als Züchtigung, als Leidensschule. Was ist das für ein Gott? Hat er Freude am Leid anderer? Ist der biblische Gott ein Masochist? An welchen Gott glauben wir eigentlich: an einen solchen Gott?

Unser Text stürzt uns in harte Fragen, die die Fundamente des christlichen Glaubens ins Wanken bringen können. Aber offenbar kann man die Verse auch anders aufnehmen. Da sehen Menschen den leidenden Christus am Kreuz vor sich. Daß er, der Gottessohn, "Bitten und Flehen mit lautem Schreien und mit Tränen" Gott dargebracht hat, wie es hier heißt, das tröstet und stärkt sie in ihrem Leid. Denn das ist ja Tatsache - damals und heute: Menschen leiden. Sie leiden, weil sie sich von ihrem Ehepartner nicht verstanden fühlen. Oder weil ihnen im Beruf das Leben zur Hölle gemacht wird. Oder weil sie sozial an den Rand gedrängt werden. Oder weil sie mit sich selbst nicht zurechtkommen. Oder weil sie ganz einsam sind und sich überflüssig vorkommen. Das alltägliche Leiden. Manchmal wissen wir, woran der Mensch neben uns leidet. Und oft wissen wir es nicht. Wieviele Geschichten vom erlittenen Leid könnten wir uns hier im Gottesdienst erzählen?! In wieviele Gesichter des Leids würden wir blicken?!

Es ist Tatsache: Menschen leiden, und manchmal so, daß es uns die Sprache verschlägt. In meinem Bekanntenkreis ist der einzige Sohn eines Ehepaares in dieser Woche tödlich verunglückt. Ein Autounfall mit 21 Jahren. Seine Freundin habe, als sie die Nachricht erhielt, stundenlang geschrien, hat man mir erzählt. Es ist Tatsache: Menschen leiden. An vielen Orten der Welt leiden sie nicht nur individuell, sondern kollektiv, nicht nur ein bißchen, sondern massiv: in der Provinz Kosovo in Jugoslawien, wo wieder einmal Opfer der Gewalt zu beklagen sind, in den Hunger- und Seuchengebieten der Erde, in den überschwemmten Dörfern und Städten in Peru...

Der Brief an die Hebräer, dem unsere Verse entnommen sind, richtet sich an Menschen, denen ihr Leid zu schaffen macht. Sie leiden unter dem, worunter Menschen zu allen Zeiten leiden: unter Konflikten und Mißachtung. Sie leiden unter der Armut und Ungesichertheit eines einfachen Lebens in der griechisch-römischen Welt einige Jahrzehnte nach dem Auftreten Jesu. Und vor allem leiden sie unter den gehässigen Nachstellungen und blutigen Verfolgungen der Mehrheit, weil sie sich als Christen verstehen. Im 10. Kapitel des Hebräerbriefes ist von Beleidigungen die Rede, die sie durchmachen, von Bedrängnissen, vom Raub des Besitzes, von Gefangenschaft. Und deshalb ist ihre Frage nicht philosophischer Art, ob und inwieweit sie sich Gott vorstellen sollten und welche Werte für die Gesellschaft wichtig und weniger wichtig sind.

Ihre Frage ist: Wer kann uns helfen in unserem Leid? Und vielleicht ist es auch deine und meine Frage: Wer kann mir helfen in meinem Leid? Auf diese Frage versucht der Hebräerbrief zu antworten. Seine Antwort heißt: Gott kann dir helfen, Gott wird dir helfen, Gott hat schon geholfen - durch seinen Sohn, durch Jesus Christus.

Ein Bild tritt im Hebräerbrief besonders deutlich hervor: Jesus wird mit einem "Hohenpriester" verglichen. Was ein Priester war, wußte man; einer, der Gott Opfer darbringt. Und man wußte auch, daß einmal im Jahr im Jerusalemer Tempel das große Versöhnungsopfer feierlich vom Hohenpriester dargebracht wurde. Mit diesem Bild vom Hohenpriesteramt versuchte man nun, die Bedeutung Jesu zu verstehen. Wer ist der, der da zwischen Galiläa und Jerusalem gewirkt hat und der am Kreuz endete? Hoherpriester, der wahre Hohepriester Gottes.

Das Bild mußte freilich eigentümlich umgebrochen werden: Christus - ein Hohepriester, der nicht immer wieder neu seine Opfer darbringt, sondern der es nur einmal, ein für allemal dargebracht hat. Ein Hoherpriester, der keine fremden Gaben Gott darbringt, sondern der sich selbst opfert.

Damit sind wir bei unseren Versen: Jesus, ein Mensch, wie wir, gelitten wie wir und noch mehr als wir. Gelitten nicht erst am Kreuz, sondern schon längst vorher; gelitten unter der Ablehnung von Menschen, die ihn nicht als Mann Gottes, sondern als Sohn des Teufels einordneten, gelitten unter der Meinung der Angehörigen, die ihn als verrückt, als "von Sinnen" betrachteten; gelitten unter dem Verrat engster Vertrauter; gelitten im Gebetskampf von Gethsemane; gelitten schließlich unter der physischen brutalen Gewalt der Henker, unter Spott und Hohn der Zuschauer, unter den Todesschmerzen; gelitten unter der letzten Einsamkeit eines solchen Sterbens. Das alles steht wohl dahinter, wenn wir im Glaubensbekenntnis sprechen: "gelitten, gekreuzigt und gestorben", Jesus, ein Mensch, dem Leiden brutal ausgeliefert.

Und wie ihm das Leiden zugesetzt hat, das hat er auch gezeigt: mit seinen Bitten an Gott, den bitteren Kelch an ihm vorübergehen zu lassen; mit seinem lauten Todesschrei am Kreuz, mit seinen Tränen von Gethsemane. Kein heroischer Typ, den antiken Göttern gleich, schmerzlos, apathisch, sondern einer, der weint und schreit und leidet.

Aber dieser Mensch Jesus, so der Hebräerbrief, ist gerade darin nicht nur ein Mensch wie wir alle, sondern der besondere "Hohepriester". Er bringt Gott keine fremden Opfergaben dar, sondern sich selbst: seine Tränen, sein Geschrei, sein Leiden, sein Leben. Und vielleicht ist er auch darin nicht nur ein Mensch wie wir alle, daß er in seinem Leiden Gott "in Ehren hielt", wie es in unserem Text heißt, und daß er hier seinen "Gehorsam" Gott gegenüber durchhielt. Er lernte es, dennoch in der "Hörbereitschaft" auf Gott zu bleiben. Auch wo aller Sinn zerbrach, lernte er es, "unter dem Gehörten zu bleiben" (so die wörtliche Bedeutung des griechischen Wortes für "Gehorsam"). Auch wo man sich auf nichts mehr in sich selbst verlassen konnte, lernte er es, sich dennoch auf Gott zu verlassen.

Wer hilft uns in unserem Leid? Das ist die paradoxe Antwort des Hebräerbriefes: In unserem Leid kann uns dieser leidende Christus, dieser besondere Hohepriester, helfen. Inwiefern?

Einmal dadurch, daß er uns in unserem Leid versteht und wir mit unserem Leid nicht allein unverstanden bleiben müssen. Denn das macht das Leid besonders bitter: Wenn wir keinen haben, dem wir es sagen, mit dem wir es teilen können. Deshalb hat Gott in Christus unser Leid geteilt, daß wir in unserem Leid nicht einsam bleiben müssen.

In meiner ersten Gemeinde besuchte ich eines Tages eine altersschwache, bettlägerige Frau. Sie sah kaum noch etwas. Ihr Leben war ihr zur bloßen Last geworden. Aber über ihrem Bett hatte sie ein Bild hängen. Es war wohl nur ein Ausschnitt aus einer Zeitung, und auf ihm war der Kopf des Gekreuzigten vom Turiner Grabtuch zu sehen. Mit der historischen Frage des Tuches hatte sie sich nie beschäftigt. Die war ihr gleichgültig. Aber das Bild war ihr nicht gleichgültig. Die Person, die dargestellt war, war ihr nicht gleichgültig. Im Gegenteil. "Der versteht mich", sagte sie. "Der hat noch viel mehr durchgemacht als ich". Und das tröstete sie. Das gab ihr Kraft, daß der Gekreuzigte sie in ihrem Leid des mühselig gewordenen Lebens verstand. In unserem Leid kann uns der leidende Christus helfen. Inwiefern?

Zum anderen auch dadurch, daß der das Leid begrenzt. Er selbst ist "vollendet" worden, wie es hier heißt. Er ist aus der Welt des Todes und der Gewalt, aus der Welt des Leides, in die Welt Gottes gegangen. Wie gut, daß wir von diesem Weg wissen!

Was sollen wir denn von uns selbst her Tröstliches sagen können, wenn ein 21jähriger junger Mann ums Leben kommt? Was sollen wir Hilfreiches zu sagen wissen, wenn armen Bauern in Peru ihr bißchen Haus und Besitz von Wassermassen und von Schlammlawinen weggespült wird? Wenn wir ehrlich sind, haben wir nichts aus uns selbst weiterzugeben, wissen wir nichts Tröstliches zu sagen. Oder genauer gesagt: Wir wüßten gar nichts zu sagen und hätten in solchen Situationen gar nichts zu hoffen, wenn Gott nicht diesen Hohenpriester gesandt hätte. Denn der begrenzt das Leid. Er, der da bat und flehte mit lautem Schreien und mit Tränen, ist der "Erstling geworden unter denen, die da schlafen". Er ist in die Welt des ewigen Heils vorangegangen. Er hat uns, er hat allen, die leiden, damit einen Weg eröffnet, einen Weg in die andere Welt, in der "kein Leid, kein Geschrei, kein Schmerz" mehr sein wird, weil das Erste vergangen ist.

So kann uns der leidende Christus helfen mit seiner Perspektive vom Ende des Leides und von der Vollendung im ewigen Heil. Durch Christus haben wir Hilfe in unserem Leid. So laßt uns ihm danken mit unserem Leben, mit unseren Liedern und mit unserem Gebet: "Nun, ich danke dir von Herzen, Herr, für alle deine Not: für die Wunden, für die Schmerzen, für den herben, bittern Tod; für dein Zittern, für dein Zagen, für dein tausendfaches Plagen, für dein Angst und tiefe Pein, will ich ewig dankbar sein" (EG 86,8).

Amen.

Professor Dr. Wolfgang Ratzmann Toskastr. 34a, 04149 Leipzig



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