Göttinger Predigten im Internet, hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch

Sonntag: Invokavit
Datum: 1.3.1998
Text: Hebräer 4, 14-16
Verfasserin: Karin Klement


PREDIGTTEXT
ASSOZIATIONEN ZUM TEXT
PREDIGT
ANMERKUNGEN ZUR PREDIGTSITUATION

PREDIGTTEXT Hebräer 4, 14 - 16

Weil wir einen großen Hohenpriester haben, JESUS, den Sohn Gottes, der die Himmel durchschritten hat, so laßt uns festhalten an dem Bekenntnis.

Denn wir haben nicht einen Hohenpriester, der nicht könnte mit leiden mit unserer Schwachheit, sondern der versucht worden ist in allem, wie wir, doch ohne Sünde.

Darum laßt uns hinzutreten mit Zuversicht zu dem Thron der Gnade, damit wir Barmherzigkeit empfangen und Gnade finden zu der Zeit, wenn wir Hilfe nötig haben.

Nach eigenen Worten (s. Gute Nachricht):

Laßt uns festhalten an unserem Bekenntnis! Denn wir haben einen Hohenpriester, JESUS, Gottes Sohn, der die Himmel durchschritten hat und Gott nahegekommen ist, wie kein anderer.

Er gehört nicht zu jenen, die kein Verständnis für unsere menschlichen Schwächen haben. Vielmehr wurde er, genau wie wir, auf die Probe gestellt, und blieb doch ohne Sünde.

Darum laßt uns zuversichtlich vor den Thron treten, auf dem die Gnade und Menschenfreundlichkeit regiert. Dort werden wir immer, wenn wir Hilfe brauchen, Liebe und Erbarmen finden.

ERSTE ASSOZIATIONEN zum Text:

- Menschen brauchen Führung und Anleitung, einen "Hohenpriester mit direktem Draht" ? mein Problem ist eher eine gewisse Führungsschwäche.

- Führungskraft kommt aus der Erkenntnis dessen, was gerade nötig ist. Wer mitleiden kann, kann auch verstehen, und weiß, was zu tun ist.

- Unsere Führungskraft ist JESUS, der die Himmel durchschritten hat, d.h. Himmel und Hölle erfahren, erlitten und überwunden hat. Daran sollen wir uns festhalten, ihn bekennen.

- Was für eine Art Hohenpriester ist er überhaupt? Einfühlsam, mitleidend mit unseren menschlichen Schwächen, in Versuchung gebracht wie wir, aber ohne ihr zu erliegen. Ein Mensch, wie wir sein sollten! Einer, der uns Gott nahebringt.

- Hinzutreten mit Zuversicht ? keine Scheu vor dem Heiligen, keine Vermittlungsnotwendigkeiten mehr; nicht passiv, sondern aktiv glauben!

- Thron der Gnade ? Bild für den liebenden, versöhnenden Gott.

 

ERSTE INTENTIONEN:

- Bestärkung der Zuversicht gegen Resignation, z.B. Arbeit im KV, Anfeindungen und Kritik ausgesetzt, obwohl doch ehrenamtliche, fleißige Arbeit geleistet wird; fehlende Anerkennung.

- Was sollen wir heute noch glauben? Führungsgestalten verlieren ihre Glaubwürdigkeit.


PREDIGT

Liebe Gemeinde!

"Das ist ja cool, Mensch!" Cool-Sein ist in! Wenn meiner fast 12jährigen Tochter etwas wirklich gut gefällt, dann äußert sie ihre Begeisterung mit diesem englischen Begriff: COOL. Er drückt eigentlich genau das Gegenteil von einer feurigen Begeisterung aus, eher so etwas wie ein unterkühltes, gleichgültiges Desinteresse, eine gefühlsmäßige Distanzierung. Selbst bei den ganz jungen Teenies hat es sich herumgesprochen, daß man heute mehr Aufmerksamkeit erzielt, wenn man die Leute mit dem Gegenteil ihrer Erwartungen schockt. Cool-Sein ist in! Lässige Distanz ist gefragt in jeder Situation. Nur "Kleinkinder" zeigen sich berührt, offenbaren ihre wirklichen Gefühle. Im Konfirmandenalter gibt man sich cool und welterfahren, altklug und lässig und vor allem: distanziert!! Nichts soll mich berühren; dann kann mich auch nichts verletzen! Manchmal ist es wohl notwendig und gut, wenn man eine innerliche Distanz einhält gegenüber Mitmenschen oder Ereignissen, die uns treffen, um sich vor schmerzhaften Enttäuschungen zu schützen. Andererseits, mindestens genauso heftig, wie wir die Distanz suchen, sehnen wir uns auch nach Nähe. Das Cool-Sein sucht ja gerade die Aufmerksamkeit des anderen. Das gilt nicht nur gegenüber unseren Mitmenschen, das gilt auch gegenüber Gott!

Wie ein Pendeln zwischen Distanz und Nähe empfinde ich unser Verhältnis zur Welt und zu Gott. Manchmal schwanke ich zwischen einer selbstgewissen Zufriedenheit, dem Empfinden, in meinem Leben Gott eigentlich überhaupt nicht nötig zu haben, und der bangen Erkenntnis, allein auf eigenen Beinen stehen zu müssen, der Befürchtung, von Gott verlassen zu sein. Ich bin stolz auf das, was ich kann, und zugleich unsicher, weil es noch vieles gibt, was ich nicht selber leisten kann. Wo ich angewiesen bin auf meine Mitmenschen und auf einen unsichtbaren Gott.

Vor einigen Tagen schauten viele von uns mit Zufriedenheit und Stolz auf die menschliche Leistungsfähigkeit und die Medaillien-Erfolge in Nagano. Nur kurze Zeit später mußten wir uns fragen, verunsichert und sorgenvoll, ob ein Kriegsgeschehen im IRAK noch vermieden werden könne, oder ob uns die Dinge dort aus der Hand gleiten könnten. Einerseits nehmen wir selbstbewußt unsere menschlichen Fähigkeiten zur Kenntnis nehmen, andererseits sind wir über unsere mangelnden Fähigkeiten oftmals auch zutiefst erschrocken.

Mit dem Pendeln zwischen DISTANZ und NÄHE in unserer Beziehung zu Gott und in Gottes Verhalten zu uns, hat auch der heutige Predigttext zu tun. Der Verfasser des Hebräerbriefes geht vom Bild des Tempels mit dessen Allerheiligsten aus. Jener Raum, das Allerheiligste im Zentrum des Tempels, darf allein vom Hohenpriester, und auch nur einmal im Jahr betreten werden, um das Versöhnungsopfer für das Volk darzubringen. Mehrere Vorhöfe im Tempel, die in Abstufung Frauen und Männern vorbehalten sind, verweisen auf die überwältigende Heiligkeit Gottes und seine unnahbare Distanz. Dahinter steht die Vorstellung, daß Gott unendlich hoch erhaben über der ganzen Welt thront. Seine Macht und Größe ist so unvorstellbar gewaltig, daß jedes "normale" Menschenkind in Staub und Asche vor ihm vergeht, wenn es ihm zu nahekommt.

Ein Mittler wird benötigt, ein Hoherpriester, der den Zugang überbrückt, ohne jedoch die Distanz zwischen Gott und Mensch zu verwischen. Wie bei einem Popstar oder anderen Idolen, müßte nach dieser Vorstellung Gott umso wertvoller, interessanter und gewichtiger werden, je unerreichbarer er für unsere menschlichen Bemühungen ist. Doch wie bei jedem Idol beinhaltet auch dieses Bild eine Gefahr: Es könnte sein, daß die anfängliche Bewunderung umschlägt in ein frustriertes, cooles Desinteresse.

Der Autor des Hebräerbriefes bleibt im Bild dieser Vorstellung, um noch etwas anderes, Neues mitzuteilen: Unser Hoherpriester, JESUS, der die Distanz zwischen Gott und Mensch überwindet und einen Zugang zu Gott eröffnet, ist kein übernatürliches Wesen. Er ist uns nahe, menschlich wie wir, schwach und ohnmächtig wie wir, angefochten und verführbar wie wir und zugleich doch wieder ganz anders: Ein Mensch wie er sein sollte, ohne Sünde, ohne das, was uns von Gott trennt: Schuld, Versagen, grenzenlose Hoffnungslosigkeit, resignierende Verzweiflung. In diesem Menschen- und Gotteskind prallen buchstäblich zwei Welten aufeinander: Himmel und Erde, Gottheit und Menschheit, vereinen sich beide. (EG 66)

Um Gott und Mensch einander nahezubringen, wird ein Opfer vollzogen, doch der, welcher opfert, ist zugleich selbst das Opferlamm. Was er darbringt, ist sein eigenes Leben - nicht erst im Kreuzesleiden und Tod, sondern vielmehr dadurch, daß er sich aufgemacht hat in unser menschliches Leben hinein, daß er dieses Leben für sich selbst annimmt, hier in einer Welt, die manchmal eher der Hölle gleicht als dem Himmel. In JESUS CHRISTUS begegnet uns ein sym--pathischer Gott, ein mit--leidender Gott, der empfindsam bleibt gegenüber allem, was auf dieser Erde lebt.

Der Mensch JESUS, mit dem Geiste Gottes begabt, gibt sich selbst dahin. Er zerreißt den Vorhang im Tempel unserer Ängste, unserer Schuld. Er zerreißt unsere Vorstellungen von Unnahbarkeit und Distanz gegenüber einem allmächtigen, fernen Gott, der mit unserem Alltag angeblich nichts zu tun habe. Er zerreißt alles, was wir selbst an Trennendem zwischen Gott und uns aufgebaut haben.

Wie oft erleben wir eine unheile und un--heilige Welt; wir durchschreiten Erfahrungswelten, die uns himmelweit von Gott entfernt scheinen. Und doch sagt der Glaube, daß diese Welt durchwoben und umgeben ist vom Heil und von der Heiligkeit Gottes. Hinter aller Zerbrochenheit des Lebens leuchtet ein Glanz, den wir uns nicht selber geben können. Jedes Leben wird durch eine Würde geheiligt, die durch nichts zerstört werden kann, nicht einmal durch den Tod.

Als ein schlichter, mitleidender Mensch hat der Gottessohn unsere Lebenswelten durchschritten. Ein kurzes Leben nur an einem winzigen Punkt der Erde und doch ein unübersehbarer, unüberhörbarer Hinweis auf den heilbringenden Gott, der uns nicht losläßt.

Die Bedrohungen des Lebens sind damit nicht aufgehoben. Trauer und Schmerz hören nicht einfach auf. Menschen, die wir lieben, sterben uns weiterhin unter den Händen weg. Es scheint, als ob wir der Macht des Un--Heils ausgeliefert sind. Doch in der Hand, die uns hält, geht kein einziges Leben verloren. So können wir uns festhalten an unserem Glauben, und unsere seelischen Wunden können schon im Hier und Heute besser heilen.

Wir haben einen Hohenpriester, der die Himmel durchschritten hat. Er nimmt uns mit, wenn wir wollen! Wenn wir miteinander Gottesdienst feiern, dann feiern wir die Nähe Gottes, ganz unmittelbar "unter" Brot und Wein, "unter" seinem Wort, das eine neue Wirklichkeit erschafft.

Gewiß, auch wir haben dafür ein Ritual, eine symbolische Handlung. Der Zugang zum Heiligen, zum Sakrament des Abendmahles, wie wir es heute miteinander feiern wollen, vollzieht sich nach einem bestimmten Ablauf. Jenes Protokoll dient jedoch nicht als Selbstzweck, sondern um uns das "zuversichtliche Hinzutreten" zu erleichtern. Wir werden nicht herbeizitiert, nicht zum Appell gerufen, wie vor den Thron eines Herrschers, sondern wir sind eingeladene, erwünschte, gern gesehene Gäste vor dem Thron, auf dem Gottes Menschenfreundlichkeit und Liebe regiert.

Symbole wie das Abendmahl sind mehr als nur Zeichen, in ihnen eröffnet sich eine neue Wirklichkeit. Wenn wir beim Abendmahl an den Altar Gott treten, empfangen wir äußerlich nur ein kleines Stück Brot, einen Schluck trockenen Wein. Damit könnten wir uns zufrieden geben. Mehr ist eben nicht. Aber da wir es nicht allein tun, sondern in Gemeinschaft mit anderen, und da wir uns dabei Gedanken machen, wird aus diesem Mahl etwas Besonderes. Nichts, was wir festhalten könnten, doch etwas, zu dem wir uns be--kennen, an dem wir uns festhalten können.

Wir haben einen gnädigen, einen mitfühlenden Gott. Nichts ist ihm fremd von dem, was wir tun oder erleiden. Einen "coolen", unnahbaren Gott kann ich mir ehrlich gesagt nicht vorstellen. Er hat es gar nicht nötig, sich anders zu geben, als er ist. Gott kann Gefühle zeigen - und was für ein Gefühle!!

AMEN

 

ANMERKUNGEN:

In einem unserer beiden Dörfer hat es in den letzten 4 Wochen mehrere Todesfälle gegeben, die nicht nur die betroffenen Familien bewegten, sondern auch viele ihrer Mitmenschen. Der Tod ist uns nahegerückt, geht uns unter die Haut. Doch in unserem Predigttext finde ich dafür kein seelsorgerliches Wort, das uns weiterhelfen könnte.

Zwei Wochen zuvor war ich mit beiden Konfirmandengruppen unserer Gemeinden auf einer Wochenendfreizeit zur Vorbereitung der Vorstellungsgottesdienste. Das ermöglichte nicht nur für mich, sondern wohl auch für die KonfirmandInnen ein neues intensives gegenseitiges Kennenlernen. Und damit vielleicht auch ein besseres gegenseitiges Verstehen.

Die Theologie des Hebräerbriefes mit seiner Überbetonung des Hohenpriesters als stellvertretenden Vermittlers zwischen Gott und Mensch behagt mir wenig.

 

Pastorin Karin Klement
Kirchengemeinden Roringen und Herberhausen
Lange Straße 42, 37077 Göttingen, Tel. 0 55 1/ 2 15 66
e-mail: kklement@mpc186.mpibpc.gwdg.de

Göttinger Predigten im Internet, hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch


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