Göttinger Predigten im Internet, hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch

Sonntag/Feiertag: Estomihi
Datum: 22.2.1998
Text: 1. Korinther 13,1-13
Verfasser: Prof. Dr. Stefan Knobloch


Predigttext (1 Kor 13,1-13)

"Wenn ich mit Menschen- und mit Engelzungen redete und hätte die Liebe nicht, so wäre ich ein tönendes Erz oder eine klingende Schelle.
Und wenn ich prophetisch reden könnte und wüßte alle Geheimnisse und alle Erkenntnis und hätte allen Glauben, so daß ich Berge versetzen könnte, und hätte die Liebe nicht, so wäre ich nichts.
Und wenn ich alle meine Habe den Armen gäbe und ließe meinen Leib verbrennen und hätte die Liebe nicht, so wäre mir's nichts nütze.
Die Liebe ist langmütig und freundlich, die Liebe eifert nicht, die Liebe treibt nicht Mutwillen, sie bläht sich nicht auf, sie verhält sich nicht ungehörig, sie sucht nicht das Ihre, sie läßt sich nicht erbittern, sie rechnet das Böse nicht zu, sie freut sich nicht über die Ungerechtigkeit, sie freut sich aber an der Wahrheit; sie erträgt alles, sie glaubt alles, sie hofft alles, sie duldet alles.
Die Liebe hört niemals auf, wo doch das prophetische Reden aufhören wird und das Zungenreden aufhören wird und die Erkenntnis aufhören wird. Denn unser Wissen ist Stückwerk, und unser prophetisches Reden ist Stückwerk. Wenn aber kommen wird das Vollkommene, so wird das Stückwerk aufhören.
Als ich ein Kind war, da redete ich wie ein Kind und dachte wie ein Kind und war klug wie ein Kind; als ich aber ein Mann wurde, tat ich ab, was kindlich war. Wir sehen jetzt durch einen Spiegel ein dunkles Bild; dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich stückweise; dann aber werde ich erkennen, wie ich erkannt bin.
Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die größte unter ihnen."

"Durch den Spiegel der Liebe ... tiefer sehen"

Paulus hatte wohl einen besonders guten Tag. Er hatte - nehme ich an - gut geschlafen, hatte gut gefrühstückt und war voller Energie und Elan: "Heute setze ich meinen Brief an die Korinther fort, heute sage ich Ihnen in hymnischem Schung, was ich ihnen schon lange sagen wollte: An eurem Christsein fehlt alles, wenn euch die Liebe fehlt." Er ließ sich von den Flügeln der Liebe forttragen - und scheint dabei in der Tat die Bodenhaftung verloren zu haben.

1. Paulus ein Dichter

"Hoheslied der Liebe", sagen wir. Ist es nicht ein zu hohes Lied geworden, das uns in seinem Überschwang und in seiner Realitätsferne Mühe macht? Das uns eher reizt, als daß es uns ums Herz herum warm werden ließe? Man kann`s auch übertreiben, könnten wir gegen Paulus einwenden wollen. Aber dann täten wir ihm Unrecht.

Paulus kommt mir hier vor wie ein Dichter. In fast hymnisch anmutenden Worten ver-dichtet er in seinem hohen Lied der Liebe die Wirklichkeit der Liebe in einer Weise, wie wohl kaum jemand einmal die Liebe erfahren haben dürfte. Seine Worte sind also nicht Ausdruck eines Realitätsverlustes, dem der Blick für die manchmal traurige Wirklichkeit der Liebe unter Menschen abhanden gekommen wäre. Paulus überspringt nichts von den Gefährdungen der Liebe. Aber er ver-dichtet seine Aussagen so, daß uns über unsere Erfahrungen der Höhen und Tiefen in der Liebe hinaus eine Ahnung überkommen kann, daß Liebe noch viel mehr kann, daß sie noch zu viel mehr in der Lage ist, als es uns bisher bewußt ist.

Dabei läßt sich Paulus nicht dichterisch hinreißen, um sozusagen zügellos und maßlos zu werden. Er setzt seine Sätze wohlüberlegt. Er hat ihnen eine klare Struktur gegeben. Nur merken wir das beim bloßen Hören nicht mehr ohne weiteres.

Ich will Sie nicht mit Stil- und Formfragen langweilen, aber interessant ist es schon, daß Paulus das Wort "Liebe", griechisch "agape", in unserem Text genau neunmal verwendet. Nicht öfter und nicht weniger. Und zwar in drei Dreiergruppen. Sie mögen das für Zahlenspielerei halten, aber in der symbolischen Bedeutung dieses Zahlenspiels unterstreicht Paulus das Gewicht seiner inhaltlichen Aussagen zur Liebe. "Drei" steht für Vollendung, für Erfüllung. Man denke an den "dritten Tag" als Tag der Vollendung (vgl. Mk 10,34: "Aber nach drei Tagen wird er auferstehen"). Das dreimal drei gesetzte Wort "Liebe" verweist auf das Gewicht dieses Wortes und seine Bedeutung im Horizont der christlichen Botschaft.

2. Unsere anderen Denkhorizonte

Liebe ist das alles entscheidende - und ohne Liebe ist alles nichts. Paulus sagt das mit seinen Worten, mit Worten und in einem Denkhorizont, der nicht mehr ohne weiteres unser Denkhorizont ist.

Das eine können wir allenfalls noch nachvollziehen: Mag einer noch so sprachenbegabt sein, sozusagen in vielen (Fremd-)Sprachen zu Hause sein, was nützt ihm das, wenn er keine Liebe hat. Mit den "Sprachen der Engel" dürften wir größere Schwierigkeiten haben, weil wir uns wohl mit der Wirklichkeit der Engel überhaupt schwertun. ("Englisch" ist ja mit der "Sprache der Engel" nicht gemeint!).

Das andere dürfte uns auch ziemlich fernliegen: auf den Gedanken zu kommen, alle Zusammenhänge der Welt kennen zu wollen, oder einen Glauben zu besitzen, der Berge versetzt. Aber auch solches zählte nicht, wenn wir nicht die Liebe hätten.

Was sich Paulus dann einfallen läßt, grenzt schon ans Paranoide: das ganze Hab und Gut wegzugeben oder sich öffentlich zu verbrennen (gedacht ist nicht an Leichenverbrennung und Urnenbestattung!), auch solches wäre ohne Liebe nutzlose Effekthascherei und Wichtigttuerei.

Von welcher Liebe spricht Paulus überhaupt? Von der Liebe zur Schöpfung? Zum Nächsten? Zum Fernsten? Zum Freund? Zum Feind? Zu Gott? Zum fernen Gott? Ob Paulus diese Nachfrage überhaupt verstünde? Er spricht offenbar von der Liebe als der alles bestimmenden Grundkraft unseres Lebens.

3. Liebe, die allem standhält.

Ich erspare mir die nochmalige Aufzählung der Eigenschaften der Liebe, die Paulus vornimmt: wie Liebe ist, was sie tut und was sie nicht tut. Daß Liebe allem standhält, sagt er am Ende seiner Aufzählung. Sie schultere alles, sie lasse sich alles aufladen, ohne unter der Last zusammenzubrechen, ohne zu fragen, ob das, was man ihr da auflädt, sein darf oder nicht sein darf. "Liebe, die allem standhält": Hat das nicht stets eine hohe Aktualität?

4. Grenzenlose Liebe und menschliche Erkenntnis

In dem Zusammenhang verdient ein weiterer Gedanke unseres Textes (1 Kor 13,9) Beachtung. Paulus stellt - was wir hier nicht weiter verfolgen müssen - menschliche Erkenntnis und prophetisches Reden der Liebe gegenüber. Die Liebe höre niemals auf, sie sei sozusagen grenzenlos. Menschliche Erkenntnis und menschliche Rede - um es allgemeiner zu nehmen und nicht auf die Sonderproblematik der "prophetischen" Rede einzugrenzen - stünden unter dem unerbittlichen Gesetz des (griechisch) "ek merus", in ihnen äußere sich immer nur ein "begrenzter" und ein "stückwerkhafter" Zugriff auf die Wirklichkeit.

Ohne Erkenntnis und Liebe in einen Gegensatz bringen zu wollen: Ist nicht in der Tat die Liebe der höhere Lebenswert, die verläßlichere Orientierung im Leben, verläßlicher, als die bruchstückhafte Erkenntnis, die womöglich meint, einen Wahrheitsbegriff außerhalb der Liebe etablieren zu können? Sagt man nicht: Nur die Liebe sieht gut?

Nicht selten wird Bezug genommen auf das Augustinuswort "Ama, et fac quod vis". "Liebe, und tu, was du willst". Es lädt nicht ein zu Verantwortungslosigkeit und Libertinismus, noch weniger und schon gar nicht zu Egoismus und Selbstversponnenheit. Es ist vielmehr eine Aufforderung zur Liebe, "die allem standhält". Liebe ist der Weg zur Wahrheit. Das müßte dann auch als Richtlinie gelten bei der Suche "nach neuen Wegen" in der Schwangerschaftskonfliktberatung. "Durch den Spiegel der Liebe ... tiefer sehen".

5. Nur Entsetzen? Oder Liebe, die niemals aufhört?

In diesen Tagen sind alle Medien voll der Würdigungen und Hommagen auf Bert Brecht, den Dichter und Lyriker, der in diesen Tagen 100 Jahre alt geworden wäre. Ist es statthaft, eine Verbindung herzustellen zwischen ihm und unserem hohen Lied auf die Liebe? Nicht gleich zum ganzen Lied, eher nur zu einer Zeile daraus? Nämlich zu der Zeile: "Jetzt schauen wir in einen Spiegel und vieles bleibt als Rätsel stehen"? Aus dieser Einschätzung des "Jetzt", das heißt des menschlichen Lebens in seinen realen Bedingungen und Begrenzungen, sprechen - so könnte man im ersten Augenblick meinen - resignative Töne. Es gibt keine klare Verläßlichkeit, alles ist von einer grundsätzlichen Rätselhaftigkeit durchzogen. Die Frage, warum in einem Leben etwas so und nicht anders ist, muß offen bleiben. Also ist an dem "Jetzt" als Inbegriff unseres Da- und Hierseins nicht viel? Vielleicht gerade soviel wie nichts? Treibt uns Paulus in eine stumme Resignation?

Nein. Dem "Jetzt", dem gewiß rätselhaften Jetzt stellt er ein "Dann" gegenüber: "Dann werden wir schauen von Angesicht zu Angesicht". Die rätselhaften Seiten des Lebens werden sich lichten in einem Dann, in einer Verläßlichkeit, die nicht rein zukünftig ist, die nicht einfach nur aus-steht, sondern die den rätselhaften Unter- und Hintergrund unseres Lebens heute schon darstellt. Unsere Jetzt-Erfahrungen sind schon wie durchwoben von den Silberfäden des ausstehenden und doch schon an-wesenden Dann. Die Liebe, die "niemals aufhört", schlägt nach Paulus die verläßliche Brücke hinüber in dieses Dann bzw. in dieses jetzt schon an-wesende Dann, verläßlicher, als es Glaube und Hoffnung je könnten.

Wo soll hier eine Verbindung herzustellen sein zu Bert Brecht? Zu einem seiner Gedichte? Die Frankfurter Allgemeine Zeitung hat in ihrer Beilage "Bilder und Zeiten" vom 7. Februar das Brecht-Gedicht "Schlechte Zeit für Lyrik" abgedruckt. Mir will scheinen, man darf es in einer spannenden Ähnlichkeit, aber auch in einer bleibenden Unähnlichkeit mit unserer Paulusstelle "Jetzt schauen wir in einen Spiegel" lesen.

Das Brechtsche Gedicht entstand 1939 in der Zeit seines dänisches Exils. Brecht schreibt unter der Überschrift "Schlechte Zeit für die Lyrik" u.a.:

Schlechte Zeit für Lyrik

Ich weiß doch: nur der Glückliche
Ist beliebt. Seine Stimme
Hört man gern. Sein Gesicht ist schön.

Der verkrüppelte Baum im Hof
zeigt auf den schlechten Boden, aber
Die Vorübergehenden schimpfen ihn einen Krüppel
Doch mit Recht.

..................

In mir streiten
Die Begeisterung über den blühenden Apfelbaum
und das Entsetzen über die Reden des Anstreichers
Aber nur das zweite Drängt mich zum Schreibtisch.

Was Brecht hier "zum Schreibtisch drängt", sind die rätselhaften Zumutungen, die nicht nur einfach rätselhaft sind, sondern Entsetzen einjagen. Zuvorderst Hitlers Reden, die Agitation des ehemaligen Anstreichers, sind entsetzlich. Aber rätselhaft und schwer einzuordnen erscheint Brecht so vieles im Leben, schon der verkrüppelte Baum, dem es versagt blieb, schöngewachsen dazustehen; ein Krüppel wird er genannt. Dann, später verweist Brecht auf die rissigen Garnnetze der Fischer, die die Beute nicht halten können. Und schließlich - ähnlich wie der Baum - auf eine gekrümmte Frau (vgl. Lk 13,11), die mit 40 Jahren schwer vom Leben gezeichnet ist. Das alles wiegt für Brecht so schwer, daß ihm ein schöngereimtes Gedicht darüber fast wie Übermut vorkäme.

Gewiß, sein Blick erfaßt nicht nur das Rätselhafte, die Zumutungen, das Entsetzen Einjagende. Vor sein Auge kommen auch die Stimme und das Gesicht eines Glücklichen, das heitere Hin und Her der Boote auf dem Meer, die warmen Brüste junger Frauen, sogar - wie in einer Zusammenfassung - das Bild des blühenden Apfelbaumes.

Aber was Brecht an den Schreibtisch drängt, ist nicht sein innerer Kampf zwischen diesen frohen, heiteren, beglückenden Seiten des Lebens und seinen Abstürzen ins Unzumutbare und Entsetzen. Was ihn hier antreibt, ist allein - sein Entsetzen. "Jetzt sehen wir nur Rätselhaftes, wie in einem Spiegel. Aber dann schauen wir von Angesicht zu Angesicht." Es hat den Anschein, als sei das das Unterscheidende zu Brecht in unserer Paulusstelle: Paulus sieht sich und uns zwar ebenso der Rätselhaftigkeit ausgeliefert, aber was ihn drängt und wozu er gewissermaßen uns drängen möchte, ist die sichere Zuversicht, daß die Rätsel, das Unzumutbare, das Entsetzen sich lichten werden. Das größte ist die Liebe, die niemals aufhört. Fast möchte man am Ende meinen, Paulus spreche hier gar nicht mehr von unserer menschlichen Liebe, sondern von der Liebe, die niemals endend von Gott her als göttliche Liebe auf unser Leben einstrahlt.

Uns also - anders als Brecht - einen guten "Reim" auf unser Leben zu machen, ist nicht unbegründeter "Übermut", sondern Ausdruck unseres Glaubens, unserer Hoffnung, unserer Liebe; dieser drei. Und mögen sie noch so angefochten sein. "Am größten unter ihnen ist die Liebe".

Amen

Prof. Dr. Stefan Knobloch, Lion-Feuchtwangerstr. 38, 55129 Mainz, Tel. 06131/508982