Göttinger Predigten im Internet, hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch

Sonntag/Feiertag: Septuagesimä
Datum: 8.2.1998
Text: 1. Korinther 9, 24-27
Verfasser: Prof. Dr. Leo Karrer


Entschiedene Treue
(Damit der Glaube seine Seele nicht verliere)

Predigttext (1. Kor. 9, 24-27)

"Wißt ihr nicht, daß die, die in der Kampfbahn laufen, die laufen alle, aber einer empfängt den Siegespreis? Lauft so, daß ihr ihn erlangt. Jeder aber, der kämpft, enthält sich aller Dinge; jene nun, damit sie einen vergänglichen Kranz empfangen, wir aber einen unvergänglichen. Ich aber laufe nicht wie aufs Ungewisse; ich kämpfe mit der Faust, nicht wie einer, der in die Luft schlägt, sondern ich bezwinge meinen Leib und zähme ihn, damit ich nicht andern predige und selbst verwerflich werde."

I. Ist Christsein Leistungssport?

1. Zeitgemässes Bild

a) In meiner Jugendzeit hat mir das Bild vom Wettlauf in der Kampfarena, mit der Paulus das Christsein vergleicht, Eindruck gemacht. Vielleicht war es die Suggestion des Bildes, die so nachhaltig wirkte. Es ist aktuell wie eh und je. Wenn ich am Sonntag das deutsche oder schweizerische Fernsehen einschalte, dann sind es nicht Gottesdienste, die ins Auge fallen, sondern Sportveranstaltungen: zur Zeit insbesondere Skirennen, Schanzenspringen oder Eishockey; und die Winterolympiade im japanischen Nagano steht vor der Tür.- Der Wettlauf zwischen Kirche und Sportstätten hat sich 0:1 entschieden. Das wird im Frühling nicht besser: Nur sind es dann die Tennisplätze und die Fussballstadien. Wie soll da die Kirche noch am Ball bleiben? Etwa, indem sie das Christsein selbst, um im Wortlaut des Paulus zu bleiben, als etwas wie Wettlauf, spirituelle Leistung und sportliche Anstrengung gestaltet und an Kirchentagen so etwas wie eine Olympiade der Gläubigkeit begeht? Der Sport ist schon an der Wiege der Kirche höchst aktuell gewesen.

b) Wenn Paulus das Bild vom Läufer und dessen Wettlauf im Stadion heranzieht, dann bestätigt er nur seine Aufgeschlossenheit und seine Fähigkeit zur Anpassung an seine Hörerschaft, an das, was wir heute Inkulturation nennen. Schon bei den Griechen galt das leidenschaftliche Interesse den Sportveranstaltungen, die fast mit gottesdienstlichem Glanz umgeben waren. Und in der unmittelbaren Nähe Korinths fanden die Isthmischen Spiele statt, die zu den grossen olympischen Spielen gehörten. So bildete das Bild vom Wettkampf einen eigenen Bestand der damaligen Lebensphilosophie und der Erziehung. Bekannt ist das Wort von Seneca: Vivere militare est. Leben heisst kämpfen. Paulus konnte sich übrigens auf ein Schriftwort berufen: "Des Menschen Leben ist ein Kampf."

2. Ist aber Christsein eigene Leistung?

Kann das aber stimmen? Ist Paulus diesem sportlichen Vergleich nicht sozusagen auf den Leim gegangen? Ist Christsein ein Wettkampf, bei dem jeder und jede an erster Stelle ins Ziel jagen will? Gibt es nur einzelne Gewinner und viele "Verlierer"? Kommt es nur auf den Sieg und den Erfolg der eigenen Leistung an? Kann dies die Lebensphilosophie aus einer christlichen Sicht sein? Oder erliegen wir wiederum dem Trend der Zeit? Denn Wettbewerb gibt es weiss Gott nicht nur beim Sport. Resultate, Rendite, Bilanzen, Leistungsergebnisse und Konkurrenz bestimmen das Leben als Kampf und unbarmherzigen Wettbewerb. Wie die geforderten Einschaltquoten für die Redakteure beim Fernsehen oder Radio einen Alptraum bedeuten können, ist indes Christentum nicht zu kaufen. Sonst wäre Erfolg der Mass-Stab für christliches Handeln; und der Mensch wäre auf seine eigene religiöse Anstrengung und seinen religiösen Sieg festgelegt.

Ist aber der Weg der christlichen Kirchen nicht davon geprägt gewesen? Sind die Kirchen etwa auch deshalb leerer geworden, weil der christliche Glaube allzusehr als Leistungssport, als moralisches Müssen und als erschöpfender kirchlicher Aktivismus gepredigt worden ist? Die Frohbotschaft von einem befreienden und barmherzigen Gott verkam allzuoft zu einer angstmachenden Frömmigkeitsleistung. Der Mensch sah sich Gott gegenüber nur mehr als sündiger Schuldner, der den Herr-Gott durch religiöses Ritual und durch moralisches Wohlverhalten gnädig zu stimmen hatte. Davon lebte zum Teil doch die Beichte. Durch Busse und Unterwerfung galt es, die verloren geglaubte Liebe Gottes zurückzugewinnen. Und man spürte nicht, dass man durch eigenes Tun Gott gleichsam für sich gnädig abrichten wollte. Wir nannten das früher "den Himmel verdienen". Der Mensch wäre dadurch nur nochmals auf sich selbst zurückgeworfen, denn keine Leistungsreligiosität kann die Beziehung zu Gott erzwingen noch Gottes Liebe erschleichen. Wir Menschen bleiben dadurch Gott gegenüber hoffnungslos zahlungsunfähige Schuldner. Das kann aber Paulus bei bestem Willen nie gemeint haben. Und Martin Bubers Wort ist in Erinnerung zu rufen, dass Erfolg keiner der Namen Gottes sei.

Andererseits ist heute zu fragen, ob der christliche Glaube nicht oft allzu liberal und zu bürgerlich betrachtet wird; man kann ganz gut Gott und dem Mammon dienen; man bleibt unversöhnlich verstritten oder ist im Berufsalltag rücksichtslos auf den eigenen Vorteil bedacht... als ob der Glaube im konkreten Leben keine Konsequenzen hätte. Ist aber Gott so harmlos und gutmütig indifferent gegenüber unserem Tun und Handeln?

II. Annäherung an das Anliegen (des Paulus): Konzentration auf das Ziel

"Die Anwendung des Bildes führt bei Paulus fast schon zu gewohnten Verschiebungen. Vergleichspunkt ist nur die Anspannung, die im Stadion alle aufbringen, um jener einzige zu sein" (H.-J. Klauck, 1. Korintherbrief. Die neue Echter Bibel. Würzburg ³1992, 69). Paulus hat selbst sehr genau herausgearbeitet, worauf es ihm ankommt: "Lauft so, dass ihr ihn gewinnt" (1 Kor. 9,24). Ihm geht es im christlichen Leben um das Augenmerk auf das Ziel hin. Und es ist ein gemeinsames Ziel, bei dem jeder und jede - im Gegensatz zur Konkurrenz beim Wettkampf - zu seinem Ziel gelangen soll.

Der Brief ist an seine Gemeinde in Korinth gerichtet. Sein Verhältnis zur Gemeinde ist für ihn - gerade im Korintherbrief - von ausschlaggebendem Gewicht. Und die Gemeinde nennt er im Philipperbrief seine "Freude und seinen Ehrenkranz" (4,1). Die Pointe des Bildes oder des Vergleichs lautet: Lauft so, dass ihr ans Ziel gelangt. Dabei zeigt sich aus den Worten von Paulus, dass er einen klaren Unterschied zu einem vergänglichen Ziel, einem verwelkenden Siegeskranz, markiert. "Einen unvergänglichen Siegeskranz" (1 Kor. 9,25) gilt es zu gewinnen. Damit meint er ohne Zweifel die erlösende Rettung durch Gott, die in Jesus Christus offenbar geworden ist. Eine klarere Deutung des Bildes bleibt er uns in diesem Zusammenhang schuldig. Aber die Kraft und Eindeutigkeit des Zieles ist gleichsam mit Händen zu greifen, denn "er laufe nicht wie einer, der ziellos läuft, und kämpfe mit der Faust nicht wie einer, der in die Luft schlägt" (9,26). So erläutert er die zielgerichtete Energie, die Kraft und die Konzentration, mit der er zu Werk geht (H.-J. Klauck, a.a.O.). Und diesem seinem grossen Ziel macht er in stetem Ringen alle seine leiblichen Kräfte gefügig (vgl. 9,27). - Paulus versteht sich selbst alles andere denn als Schattenboxer, das Training ist nicht Selbstzweck.

III. Christsein: Ziel-bewusst leben

Wenn Paulus das Ganze des christlichen Lebens mit Kampf umschreibt, dann ist nicht die Selbstrechtfertigung als religiöse Leistung gemeint, sondern die ganze Konzentration aller Energien und Bedingungen auf das entscheidende Ziel hin. Betont wird also zielstrebiges und situationsbewusstes Leben: ausdauernd, beständig, beharrlich und konsequent. Wenn es um die Zukunft Gottes in der Geschichte der Menschen geht, um das Evangelium von Jesus Christus als dem tragfähigen Grund aller Lebenserfahrungen, dann ist eine Dynamik des Lebens angesprochen, die sich nicht beirren lassen will.

Kann man dann einfachhin noch gedankenlos in den Tag hineinleben? Kann man sich dann einfach treiben- und gehenlassen von dem, was gerade Mode ist? Kann ich zielbewusst auf den Weg gehen oder gar den Wettlauf im Stadion antreten, wenn ich mich übersatt gegessen und voll betrunken habe? Kann ich gegenüber dem Ziel wach und offen bleiben, wenn ich vom Konsum besessen, vom Lärm des Alltags schwindelig und vom Genuss betäubt bin? Oder gewinne ich vom Ziel her nicht doch eine gewisse Distanz die mich nicht in die momentane Stimmung und in den vorlauten Stress des Alltags verlieren lässt? Das Evangelium beim Wort zu nehmen, heisst doch: das Leben besser zu verstehen, es in seiner Tiefe entdecken und besser zu begreifen lernen, was seine Verheissung und seine Fülle sind, was es mit dem Menschsein vom Gott Jesu auf sich hat. "All das tue ich um der Heilsbotschaft willen, um an ihr teilzuhaben", so formuliert Paulus im unmittelbar vorausgegangenen Vers (23).

Damit nennt er das Motiv, das seinem Ringen mit der Gemeinde von Korinth und dem Bild von der Kampfbahn zugrunde liegt. Kein Leistungssport ist gefordert und kein einsamer Sieger gesucht, sondern die Treue dem Ziel gegenüber. Keine Überforderung ist damit signalisiert, sondern die Zuversicht, dass im oft banalen Alltag des konkreten Lebens die Hoffnung auf Gottes Kommen in unser Leben hinein erwacht oder wachgehalten bleibe. In diesem Zusammenhang darf sicher an die Tatsache erinnert werden, dass wir Menschen mit all dem Glück und Unglück, mit Gelingen und Misslingen, mit Erfolg und Misserfolg, mit unseren Begabungen und unseren Schwächen, mit dem guten Willen und der abgrundtiefen Boshaftigkeit, mit unseren bewussten Anteilen und verlorenen Bruchstücken, mit unseren Schulderfahrungen und Neurosen, mit unserer Liebesfähigkeit und unserer Lebenslust, mit unserem Humor und unserer Trauer - wie wir eben sind - vom Gott Jesu erwartet und geliebt werden. Das ist die konkrete vordergründige und hintergründige Wirklichkeit, mit der Gott rechnet. Gott ist das Ziel auf dem Weg des Christseins, auf dem Paulus mahnt, alle Kräfte des Leibes und der Seele darauf auszurichten. Denn von Gott her sind unsere begrenzten Möglichkeiten Einfallstore für sein Wirken und Ankommen. Unter dem Einfluss seines Geistes wandeln sie sich zum Segen.- Aber der christliche Glaube ist nicht beliebig, sondern ruft zur Umkehr, d.h. zur Abkehr von allem, was vom Ziel wegführt und den Menschen niederhält. Christsein will im Alltag Ernstfall werden.

IV. Selbst gehen, aber nicht allein gehen

1. Selbst gehen

In solcher Sicht ist es kein zielloser Weg und kein hoffnungsloser Gang, der uns mit dem christlichen Glauben zugemutet wird. Aber Christsein bedarf der bewussten Pflege, der Treue gegenüber der Berufung. Dies kann uns niemand abnehmen, noch ist der Ernstfall des Christseins an Stellvertreter zu delegieren. Auch als Christ und als Christin muss man selbst gehen. Der Preis des Zieles ist der Weg; der Preis des Weges sind wir selbst. Ich werde verantwortlich, ob ich mich am Ziel ausrichte, ob ich im Beten und in der Meditation einen Weg zu gehen versuche, um der Unachtsamkeit gegenüber Gott im Druck und Geschiebe des Alltags zuvorzukommen. Vieles würde an Wichtigkeit verlieren. Wie wäre es, wenn ich mir jeden Tag nur drei Minuten Zeit einräumen würde, um abzuschalten und kurz innezuhalten, mich womöglich auf Gott einzulassen. Es braucht gerade heute Einübung ins Christentum - in möglichst kleinen Schritten.

2. Nicht allein gehen

Auf diesem Weg geht kein Christ und keine Christin allein. Bewusst kann ich den Weg des Glaubens nur gehen, wenn ich nicht allein gelassen bin und mich nicht absondere. Die Glaubwürdigkeit der Kirche liegt darin, zum Zeichen zu werden, in dem Gott unaufhörlich zu den Menschen will. Kirche ist in diesem Sinn Weg-Gemeinschaft im Glauben, somit Weg zu den Quellen und zu den Grundlagen des Glaubens, Weg zu den Ressourcen des Christseins. Dafür hat Kirche zu Diensten zu stehen.

3. Miteinander und füreinander gehen

Solcher Glaube zieht sich nicht in eine frömmelnde Kuschelgruppe zurück, noch verliert er sich in lauter Gerede und in viele Glaubenssätze. Vielmehr kommt er erst dann zu sich, wenn er in konkreten Hoffnungsschritten für andere und für die Nöte der Menschen und ihrer Welt gleichsam aufersteht. Mancher Lebensplan und manche Karriere ist über Nacht zerstört. Viele Menschen werden aus dem Rennen geworfen, kommen vom Weg ab und sind auf mannigfache Weise Verlierer und Verliererinnen in der Arena des Lebens und im beruflichen Boxkampf harter Konkurrenz. Manche gelangen nur hinkend ans Ziel oder erleiden Stillstand oder Leerlauf. Dann zeigt es sich, welches Ziel mich steuert. Will ich nur freie Bahn für mich haben und räume aus dem Weg, wer mir im Wege steht? Oder sieht das Einüben anders aus? Bücken wir uns zu denen, die aus der Laufbahn fielen? Halten wir inne und helfen denen auf die Beine, deren Kraft geschwunden ist? Leihen wir den Gestürzten unseren Arm oder tragen wir, wenn jemand nicht mehr selbst gehen kann?

So finden die entschiedene Treue zum Ziel und die Konzentration der Kräfte, die Paulus mit seinem Bild vom Lauf in der Arena anspricht, ihre Mitte darin, dass sie sich bewähren in Solidarität, Liebe und Lebenssinn - auch im bruchstückhaften oder zerbrochenen Leben. Denn bei Gott können wir nicht ins Ziel gelangen, ohne die Schwester und den Bruder mitzunehmen. Nur wenn Gottesliebe und Menschenliebe nicht getrennt werden, sondern zusammenfinden, darf man an das Wort aus der Paulusschule erinnern: "Ich habe den guten Kampf gekämpft, den Lauf vollendet, die Treue gehalten. Nun harrt meiner der Kranz der Gerechtigkeit..." (2 Tim 4,7f).

Prof. Dr. Leo Karrer, Université de Fribourg Suisse, Pastoralinstitut, Miséricorde, CH 1700 Fribourg, Tel. 0041-37-219396


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