Göttinger Predigten im Internet, hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch

Sonntag/Feiertag: 3. Sonntag nach Epiphanias
Datum: 25.1.1998
Text: Römer 1, 16-17
Verfasser: Henje Becker


Text: Römer 1, 16+17

Denn ich schäme mich des Evangeliums nicht; denn es ist eine Kraft Gottes, die selig macht alle, die daran glauben, die Juden zuerst und ebenso die Griechen. Denn darin wird offenbart die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, welche kommt aus Glauben in Glauben; wie geschrieben steht (Habakuk 2,4): "Der Gerechte wird aus Glauben leben".

Predigt

Das ist schon etwas, liebe Gemeinde, wenn einer das sagen kann: Ich schäme mich des Evangeliums nicht. Paulus schreibt es der christlichen Gemeinde in Rom. Er sagt es uns – mir: Du brauchst dich des Evangeliums nicht zu schämen, ganz und gar nicht. Da gibt es keinen Grund. Ganz im Gegenteil. Dafür steht er mit seinem Leben ein, wie unzählige Menschen seitdem, wie die christliche Kirche zu allen Zeit und an allen Orten.

Wie ist das eigentlich mit mir - mit uns? Evangelium, das steht für Glaube und Kirche, für Wirkung von Christentum und Handeln von Christen und Kirche. Es steht für Wort Gottes und Bibel, für den Christus am Kreuz wie für Auferstehung und Ewigkeit. Das macht schon Mühe - auch mir selbst. Da ist vieles so schwach, kümmerlich und wirkungslos. Und die Fehler, die Kirche und Christen machen! Wie ist das mit den Katastrophen auch im persönlichen Leben, mit Leiden, den oft so entsetzlichen Krankheiten, mit den vielen großen und kleinen Ungerechtigkeiten? Christ sein und Glaube kann schon mühsam sein. Man kann sich schon des Evangeliums genieren. Vielleicht schämen wir uns auch manchmal wegen Gott und seiner scheinbaren Schwäche und Wirkungslosigkeit.

Ich schäme mich des Evangeliums nicht. Der Apostel steht trotzdem unbeirrbar zum Evangelium, hält es fest, ja - klammert sich daran. Im Gegensatz zu uns riskierte er damit allerhand, ja alles, sein Leben. Da redet einer, der durch dieses Evangelium eine neue Welt- und Lebenssicht bekommen hat und gewiß auch neuen Lebensmut. Zuversicht wird spürbar, Ermutigung.

Das ist schon etwas Bemerkenswertes, liebe Gemeinde, wer das so sagen kann. Vielleicht sage und denke ich das ein wenig staunend, neidisch, aber auch sehnsüchtig. Denn das mit dem Evangelium, und daß es eine Lebenskraft ist, das wird eine unterschiedliche Geschichte mit uns haben, auch in mir selber. Das Evangelium ist eine Kraft Gottes. Das ist zentrale Botschaft meines Gottes und meiner Kirche. Indem er sie sagt, lädt er mich zu ihr ein, sagt, ja bittet mich: Laß dich doch darauf ein. Evangelium, das heißt: Gott schämt sich nicht und nie meiner, trotz meines schwachen Glaubens, der vielen Zweifel, der mancherlei Fehler, die ich mache. Er steht unbeirrbar mir zur Seite. Evangelium - das heißt für mich: Da ist eine Kraft für mein Leben, die mich tragen will und kann, in guten und in bösen Tagen, an schwachen und an starken. Das Evangelium ist eine Kraft Gottes, dieses Evangelium ist unlösbar mit Jesus Christus verbunden. Es ist seine Botschaft und sein Leben.

Ich höre: Selig sind, die da Leid tragen, denn sie sollen getröstet werden. Es gibt so viel Freude und Schönes im Leben, aber auch so viel Dunkles. Manchmal denke ich, ich bin von Krankheiten umzingelt und sie bedrohen mich. Dann heißt Evangelium: Ich habe einen mitleidenden Gott, der selbst weiß, was leiden bedeutet. Er nimmt unser Leiden in sein Leiden auf. Sein Verstehen, seine Nähe, sein Mitleiden ist tragende, umhüllende und schützende Kraft, Fluchtpunkt und Zuflucht, Ort des Ausruhens, der geöffneten Geborgenheit. Das Evangelium bedeutet, daß mein Wert und meine Würde nicht abhängen von der Leistung, die ich erbringe, von meiner Arbeitskraft, von meiner Arbeit überhaupt; sie besteht darin, daß Gott sagt: Du bist mein geliebtes Kind. unendlich wertvoll für mich, einmalig, unübersehbar.

Es gibt viel mehr Kummer und Unsicherheit unter uns, als wir wissen und manchmal uns selber zugeben. Da leiden Menschen, weil die Ehe zerbricht oder in Gefahr ist, zu zerbrechen; da türmt sich ein Berg von gegenseitigem Versagen auf, von Vorwürfen, Fehlern.

Das Evangelium weist auf Christus, wie er vergeben hat, mir vergeben hat. Christus sagt mir, daß nur durch Vergeben Neuanfänge möglich sind: in der Ehe und überall, wo menschliche Gemeinschaft zerbricht oder in der Gefahr steht, zu zerbrechen. An Christus, seinem Leben, seinen Taten und Worten orientiert zu leben heißt, sich in den Kraftstrom von Gott zu stellen, Ermutigung zu erfahren für das tägliche Leben. So werden Wege gangbar, obgleich sie es eigentlich nicht sind.

Aber das alles geht über das tägliche Leben hinaus. Das Evangelium ist eine Kraft Gottes, die selig macht alle, die daran glauben - so heißt es in unserem Text. Seligkeit - das ist eine Form des Glücklichseins und geht doch ganz darüber hinaus. Manche von uns haben dies nicht im Lebensblick. Es ist ganz weit weg, es betrifft nicht, ist nicht mein Problem, so sagen sie. Es hat nichts mit dem Leben zu tun, und manche meinen, typisch Kirche! So ist das auch, liebe Gemeinde, das Evangelium ist das entscheidende Wort Gottes über das, worauf alle Zelt und alles Leben hinläuft, auch mein Leben und welche Aussichten, Perspektiven sich damit für mein Leben verbinden.

Vielleicht muß man erstmal an Grenzen im Leben gestanden haben, um ein wenig zu ahnen, was das heißt und daß es mich betrifft. Mancher unter uns wird wissen, was das bedeutet an Sorge und geheimen Ängsten in den Krankheiten und Gefährdungen unseres Lebens. Unfälle umgeben uns und Krankheiten, deren Heilungschancen noch kaum möglich sind. Wer kennt nicht die Angst, die plötzlich überfallen kann, auch junge Menschen, vor dem, was kommt. Älterwerden, Einschränkungen zu erleben läßt die Unausweichlichkeit des Todes nicht mehr verdrängen. Da sagt unser Gott: Da ist Zukunft für dich, Zeit ohne Grenzen und Ende. Deine Lebenszeit öffnet sich in die Ewigkeit.

Auf den Spuren Jesu zu gehen, an ihm orientiert zu leben, bedeutet, daß unser Lebensweg sich nicht im Dunklen und Ungewissen verliert, sondern bei Gott ankommt. Er hat über mein Leben geschrieben: Du bist und bleibst mein geliebtes Kind! Das ist dann nicht nur ein Versprechen Gottes für die Zukunft. Es bedeutet neue Lebensperspektiven für mein Leben in Alltag und Gegenwart. Wenn ich weiß, daß meine Zukunft positiv geklärt ist, wächst daraus Befreiung von Ängsten, Freiwerden von neuer Kraft, Zuversicht, Gegenwart zu gestalten. Es ist Quelle und Grund auch für Lebensfreude und einer Gelassenheit, die ahnend und glücklich weiß, da wartet ein Leben ohne Ende.

Und dann kommt das, liebe Gemeinde, was vielen Menschen, ja auch mir immer wieder Schwierigkeiten macht, ja Menschen zu Ratlosigkeit und Verzweiflung führt. "...Kraft Gottes, die selig macht alle, die daran glauben." Und der Text fährt fort: "Denn daran wird offenbart die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, welche kommt aus Glauben in Glauben" (aus Glauben zum Glauben).

Das ist eine zentrale Stelle für uns alle. Sie ist besonders für Martin Luther und damit für das Werden und den Weg unserer evangelischen Kirche entscheidend geworden. Denn so geht es doch auch uns, wenn wir das alles hören vom Evangelium und seiner Kraft, von der Seligkeit, die auch mich meint. Da geht es um die Frage: Schaffe ich das mit dem Glauben? Er ist doch oft so schwach. Luther ist daran fast verzweifelt und mit ihm und nach ihm viele Menschen. Letztlich kann ich vor Gott wenig vorweisen, was vor ihm Bestand hat.

Wie ist das eigentlich mit den 10 Geboten und mit der Nächstenliebe? Wie ist es eigentlich mit dem Glauben, mit dem Vertrauen auf Gott und daß ich mein Leben ganz an ihm ausrichte? Ist nicht oft unsere Hoffnung zu Gott so, daß er alles verzeihen muß? Verhalten wir uns nicht oft Gott, seinem Evangelium gegenüber so, als ob es eine Gnade von uns wäre, zumindestens eine nicht selbstverständliche Freundlichkeit, daß wir uns um ihn kümmern, uns zu ihm auf den Weg machen?! Und er muß da sein, selbstverständlich, und wehe, er antwortet, er handelt nicht, wie ich er erwarte und letztlich auch verdiene. Wenn ich dann spüre: Alle meine Anstrengungen lassen mich leer, es ist so. als ob er nicht zuhört, da ist, ganz ferne ist - wie denke ich dann über Gott?

Liebe Gemeinde, von uns aus schaffen wir das nicht mit Gott, und Gott ist zu gar nichts uns gegenüber verpflichtet. Aber, da ist unser Gott anders als ich: Er will mir alles schenken, weil ich es nicht schaffe, weil er mich liebt. Das ist seine Art der Gerechtigkeit. Sie wird dann für mich Wirklichkeit, wenn ich mich ihm gegenüber preisgebe, nicht auf mein vermeintliches Recht poche, sondern die leeren Hände zu ihm ausstrecke, daß er sie füllt. Wenn ich ahne, daß ich nur eine Chance bei ihm habe, wenn er vergibt, wenn ich ihm immer wieder darum bitte. Wir sind Bettler, das ist wahr, sagt Luther. Aber er macht uns so reich, daß wir genug haben zum Leben und zum Sterben. "Ich schäme mich des Evangeliums nicht", heißt dann auch: "vor Gott muß sich niemand schämen", weil "Gott sich nicht unseretwillen schämt".

Entscheidend wird sein, liebe Gemeinde, sich Gottes Handeln gefallen zu lassen, auch wenn ich es oft nicht begreife; ihm sich zu öffnen zu einem vertrauenden Empfangen. So nimmt er uns mit auf seinen guten Weg des Lebens bis hinein in die Ewigkeit. Ich werde das spüren, gerade dann, wenn ich es dringend brauche, wenn ich dieses Evangelium, meinen Gott, in mein Leben hineinreden lasse, still werde, mich auftue, ihn in mich hineinkommen lasse. Mich meinem Gott so auszusetzen, einmal alles wegzuschieben, was zwischen uns getreten ist, das ist wichtig. Meine ganze Unruhe, meine Geschäftigkeit, der Stolz auf meine Leistungen, aber auch meine Fragen, Zweifel, Müdigkeit können wie eine Mauer sich zwischen mich und meinen Gott schieben. Der höchste Berg ist, wenn Menschen meinen, sie brauchen ihn nicht, und dann werden sie irgendwann abstürzen von diesem Berg. Sie merken es vielleicht nicht, aber irgendwie tut es ihnen sehr weh. Sich der Kraft des Evangeliums auszusetzen, läßt Menschen spüren, daß sie aus Gottes Kraft und seiner Liebe leben werden.

Damit verändert sich Leben, und diese Veränderung ist ein Wachstumsprozeß. Es wird froher und glücklicher. Wohl bleiben Tiefen verschiedenster Form, Bedrohungen und manchmal auch Katastrophen, aber ich erlebe sie an Gottes Seite, und sie zerstören nicht die Zuversicht und Hoffnung, die lebt vom Blick auf den mich trotz allem liebenden Gott, den gnädigen. Vielleicht sehe ich oft nur das Kreuz und den so scheinbar ohnmächtigen Christus, der an ihm hängt. Doch dahinter steht schon die Auferstehung, das neue Leben, das Gott hinaufführt und das als Gottes Wirklichkeit meine Wirklichkeit umgibt.

Wenn sich so Leben verändert, und meine Wirklichkeit von Gottes Nähe gehalten und durchdrungen ist, dann soll ich dies auch leben für andere Menschen, für meine Welt und Gesellschaft. Das Evangelium meint Frieden, diese Gerechtigkeit Gottes, die vor Gott gilt und die Liebe heißt. Sie gilt es zu leben, mit anderen und für andere. So kann Gemeinschaft neu werden, geheilt werden. Sie schickt mich auf den Weg, diese Gerechtigkeit nachzubuchstabieren im Leben,

daß ich Liebe übe, wo man sich haßt;
daß ich Frieden bringe, wo der Unfriede herrscht;
daß ich verzeihe, wo man sich verzeiht;
daß ich verbinde, wo Streit ist;
daß ich die Wahrheit sage, wo Irrtum ist;
daß ich Hoffnung wecke, wo Verzweiflung quält.

Liebe Gemeinde, unser Text ist ein ganz großes Wort Gottes, seine zentrale Botschaft, die Zusage seiner alles übersteigenden Liebe. Er ist eine "Anleitung zum Glücklichsein". "Deshalb schäme ich mich des Evangeliums nicht, denn es ist eine Kraft Gottes die selig macht alle. die daran glauben. Denn darin wird offenbart die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, welche kommt aus Glauben zum Glauben. Der Gerechte wird aus Glauben leben."

Amen

Henje Becker, Wolfenbüttel