Göttinger Predigten im Internet, hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch

Sonntag/Feiertag: 3. Sonntag nach Weihnachten
Datum: 11.1.1998
Text: Römer 12, 1-3
Verfasser: Prof. Dr. Klaus Schwarzwäller


Römer 12, 1-3

"Ich ermahne euch nun, liebe Brüder, durch die Barmherzigkeit Gottes, daß ihr eure Leiber begebet zum Opfer, das da lebendig, heilig und Gott wohlgefällig sei, welches sei euer vernünftiger Gottesdienst. Und stellt euch nicht dieser Welt gleich, sondern verändert euch durch Erneuerung eures Sinnes, auf daß ihr prüfen möget, welches da sei der gute, wohlgefällige und vollkommene Gotteswille. Denn ich sage durch die Gnade, die mir gegeben ist, jedermann unter euch, daß niemand weiter von sich halte, als sich’s gebührt zu halten, sondern daß er von sich mäßig halte, ein jeglicher, nach dem Gott ausgeteilt hat das Maß des Glaubens."

Liebe Gemeinde,

"...sondern, daß er von sich mäßig halte ...": Das ist notorisch unüblich in unserer Gesellschaft. Wir haben’s gerade erst erlebt, als zu Weihnachten und zum Jahreswechsel viele sich öffentlich blähten mit Mahnungen und Appellen, mit Aufrufen zu Verantwortlichkeit und hohen Worten von sozialen Tugenden usw. usf.; wir können’s allmählich nahezu auswendig, und es kommt uns schier zu den Ohren wieder heraus. Darunter waren allerdings auch berufene Münder, und wir merkten es daran, daß sie mit diesen abgedroschenen Worten gleichwohl etwas sagten, so daß es uns berührte: Ja, das stimmt; und wir sollten eigentlich ..., wir wollen nun auch ... Es liegt mir fern, das zu verdächtigen; hier ist Respekt am Platz. Doch der kann darüber nicht hinwegbringen, daß dies – wie’s andernorts im Neuen Testament heißt – "das Schema dieser Welt" ist und als solches immer schon auf der Kippe.

Wir kennen dieses "Schema dieser Welt" (leider!) auch – und zwar mehr als genug – aus unserer Kirche mit den vielen Mahnungen und öffentlichen Forderungen, mit dem drängenden guten Zureden und auch dem unverblümten Eintreiben der Früchte, die Gottes Gnade uns geschenkt oder in uns gewirkt habe. Im theologischen Laborjargon redet man da von "(erst) Indikativ – und (dann) Imperativ" und meint damit exakt dies, daß, nachdem Gott uns etwas gegeben hat, wir nun auch in der Pflicht seien, uns zu bewegen und etwas zu leisten. Abermals: Es kommt durchaus vor, daß das alles authentisch ist; und abermals ist dann Respekt am Platz. Nur: Die Tonart des Evangeliums ist das nicht!

Die begegnet vielmehr in diesen – zugegeben: etwas kompliziert klingenden – Sätzen des Paulus. Kennzeichnend für diese Tonart des Evangeliums ist das erste Wort des Abschnitts. Luther übersetzt – durchaus korrekt – "Ich ermahne"; doch es hat auch die Bedeutung "trösten"; wörtlich meint es "herbeirufen". Die griechisch sprechenden Zeitgenossen des Apostels werden alle diese Schattierungen mit im Ohr gehabt haben. Dann aber lasen sie hier keine fromme Forderung, sondern das, was bei uns der Klang der Kirchenglocke sagt: Herbei, herbei! Hier geht’s um Wesentliches!

Dieses Wesentliche liegt darin und darin allein, daß hier jemand durch "die Barmherzigkeit Gottes" und in der von Gott "gegebenen Gnade" redet, zu reden Recht und Befugnis hat. Die Tonart des Evangeliums erwächst aus Gottes Barmherzigkeit und Gnade. Sie klingt und schwingt hierin. Sie bringt uns Gottes Barmherzigkeit und Gnade in Ohr und Herz. Sie ist in immer wechselnden Akkorden die, die die Hirten in der Weihnachtsnacht hörten: "Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volke widerfahren wird. Denn euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr, in der Stadt Davids." Das, das ist es, was diese Sätze des Pauzlus wesentlich macht.

"Und das habt zum Zeichen..." fuhr der Engel in der Heiligen Nacht zu den Hirten fort. Paulus nimmt das hier auf: Nachdem der Herr geboren wurde, gelebt hat, für uns gekreuzigt wurde und zu unserem Heil von den Toten erstand; nach Weihnachten und Ostern also sei dies das Zeichen unter uns: Wir leben aus Gottes Barmherzigkeit und Gnade, lassen uns von innen anrühren und bewegen, erfüllen und fest auf die Füße stellen. Der damalige Bundeskanzler Ludwig Erhard verkündete seinerzeit etwas protzig: "Wir sind wieder wer." Ja, dank der Barmherzigkeit und Gnade Gottes sind wir wieder wer; Gottes Menschen und geliebte Kinder, die als solche der umgebenden Welt und deren Schema gegenüber geltend machen, daß sie wer sind und es sich damit verbitten, vereinnahmt, verrechnet, gedeckelt, gegängelt und mit hohen hohlen Worten beständig zu etwas gedrängt und getrieben zu werden. Und weil wir dank der Barmherzigkeit und Gnade Gottes und also aus höchstem Willen wer sind, haben wir’s nicht mehr nötig, jenes elende Spiel mitzumachen: sich in die Brust zu werfen und mit Worten und Gebärden es aufzudrängen: "Ich bin der Größte!" Ein elendes Spiel nicht nur, weil’s über unsere Kräfte geht und auslaugt, sondern weil es alle menschlichen Beziehungen vergiftet und zerrüttet. Wer wirklich wer ist, hat dieses Spiel nicht mehr nötig, durchschaut es vielmehr und schwankt dabei zwischen Ekel und Mitleid.

Das hier ist das Zeichen: Wir leben aus Gottes Barmherzigkeit und Gnade und gewinnen dadurch die Freiheit, uns aus jenem elenden Spiel abzumelden. Das ist sozusagen die negative, die Kehrseite dessen, wozu Paulus uns "ermahnt", indem er zum Wesentlichen "herbeiruft". Doch vom Nichtmitmachen kann man nicht leben. Das allein ergibt jene kindische Anti-Haltung, und die ist nicht nur steril, sondern – und das vor allem – ziellos und dazu verdammt, auf der Stelle zu treten. Paulus drückt hier die eigentliche – ein Fotograf würde sagen: die Schokoladenseite – doppelt aus: als Hingabe unserer Leiber zum Opfer und als vernünftigen Gottesdienst. Beides freilich klingt uns nicht geradezu nach einer lediglich veränderten Form jener Botschaft, die der Engel den Hirten sagte! In der Tat, wir müssen genauer hinsehen, müssen uns einlassen, damit es uns aufgeht. Indem uns der Heiland geboren wurde und indem wir von Gottes wegen wer sind, haben wir ein Ziel. Seit mehr als einem halben Jahrhundert beklagen Philosophen und Zeitkritiker den allgemeinen Verlust von Sinn und Ziel, erweisen sich die Institutionen als entleert, begnügen sich Politik und Wirtschaft damit, Sinn und Ziel auf der allerobersten und vordergründigsten Bedürfnisschicht anzupreisen oder vielmehr deren modischen Ersatz zu bieten. Doch bei alledem wachsen Hunger und Durst, Fragen und Sehnsucht nach Werten, nach Verläßlichem, nach echtem Sinn, nach Zielen, die da lohnen. Man muß nur einmal in irgendeiner Buchhandlung sich ansehen, wie groß die Esoterik-Abteilungen sind, und man bekommt einen Eindruck dessen, wie verbreitet, wie dringlich und wie tief diese Fragen sind.

Ein Ziel zu haben, ein Ziel, das lohnt, das echt ist, für das man sich verschwenden kann, das ist viel, ja, das ist etwas ganz Hohes, ganz Wertvolles – und ich sage das in einer Mischung aus Trauer und Fassungslosigkeit: Denn seit der Weihnachtsbotschaft haben wir ein Ziel, und Paulus bringt es uns auf seine Weise vor Augen, und zugleich ertappe ich mich und meine Umgebung dabei, wie wir nicht kapieren, wie wir uns ablenken lassen, wie wir in Ziellosigkeit verfallen. Warum auch immer das geschehen mag – jedenfalls ist uns ein Ziel geschenkt: (in meinen Worten umschrieben) die Bestimmung unserer "Leiber", also unser Leben zur Ehre Gottes in der Höhe, zu Frieden unter uns Menschen und beides im Wahrnehmen von Gottes Willen und Wohlgefallen.

Ja, das sagt sich rasch und glatt. Doch auch wer in einem 610-Mark-Job fast food verkauft oder für die Umsatzsteigerung eines Großkonzerns zu rackern hat, geht hierin ja nicht auf; Leben ist mehr als das. Und damit es mehr ist und mehr sein kann, bedürfen wir des Ziels, und da hindert nichts, ganz klein, doch klar anzufangen, indem wir das "Ehre sei Gott in der Höhe" für uns zu buchstabieren beginnen: Wie wird in meinem Leben und Lassen Gott in der Höhe Ehre erwiesen? "Wer bin ich schon, daß durch mich dem hohen Gott Ehre werde!?" mag dabei im Herzen aufschießen – eben: daß ich kleiner Mensch dessen gewürdigt bin, Gott Ehre zu geben, für mich selbst, womöglich öffentlich, darin bin ich wer, und darin habe ich ein Ziel.

Gottes Ehre durch uns beginnt damit, daß wir ihn als Gott anbeten. Das konkretisiert sich darin, daß wir ihm danken – danken für unser Leben, für Freud und Leid, für Arbeit und Brot, für getreue Nachbarn und für unsere Gesundheit. Nichts von alledem ist selbstverständlich, das wissen wir aus Erfahrung. Indem wir dieser Erfahrunge folgen und Gott danken für alles, was uns ausmacht und zukommt, beginnt die Veränderung durch die Erneuerung unseres Sinnes, von der Paulus hier redet. Denn indem ich Gott danke – Gott danke-, bin ich, wie es der Philosoph Sören Kierkegaard einmal untertreibend genannt hat, "auf Gott aufmerksam". "Auf Gott aufmerksam" zu sein und zu bleiben – auf die Länge geht das nicht ohne Ringen mit ihm und gerade deswegen nicht ohne die immer tiefer in uns sich einwurzelnde Frage nach seiner Ehre, nach Frieden unter uns und nach seinem Willen und Wohlgefallen. Eines zieht hier das andere nach sich: und Neujahr ist ein guter Anlaß, mit dieser Erneuerung unseres Sinnes, mit diesem Buchstabieren zu beginnen und damit das geschenkte Ziel zu erkennen und zu erfassen.

"Und seht, was in dieser hochheiligen Nacht der Vater im Himmel für Freude uns macht!" Damit hat es angefangen, und damit beginnt es auch für uns. Was uns in Fragen, Probleme und Bruchstücke zerfällt, hier hat’s seine Einheit und Quelle. Hier ist unser Ziel verbürgt.

Amen.

 

Prof. Dr. Klaus Schwarzwäller, Göttingen


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