Göttinger Predigten im Internet, hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch

Sonntag/Feiertag: Altjahresabend
Datum: 31.12.1997
Text: Römer 8, 31b-39
Verfasser/in: Dr. Maria Widl, Reichenberg


Zur Vorinformation über meinen Hintergrund:

Ich bin Pastoraltheologin, komme aus der Zulehner-Schule (Ergänzung der Redaktion: Paul Zulehner ist Prof. für prakt. Theologie an der katholischen Fakultät der Universität Wien), habe lange Jahre an der Universität das Pfarrpraktikum begleitet, meine Wiener Heimatpfarre ist von Jesuiten geleitet. Seit etwa 15 Jahren bin ich intensiv in der Erwachsenenbildung und pastoralen Fortbildung tätig. Meine theologische Diplomarbeit (ich bin zudem Mathematikerin) befaßte sich mit Bibelpastoral, meine Dissertation mit "Neuen Religiösen Kulturformen", also das, was man geläufig unter Esoterik und New Age faßt. Gegenwärtig arbeite ich bei Prof. Rolf Zerfaß an einer Habilitationsschrift zum Thema "Sozialpastoral". Meine Bibellektüre ist demnach bürgerlich grundgelegt, befreiungstheologisch stark beeinflußt, von postmoderner Pluralität herausgefordert und von dem Blickwinkel geprägt, wie Bibelworte heute für die Lebensgestaltung relevant werden,

Predigt zu Römer 8,31b-39

Ist Gott für uns, wer ist dann gegen uns?

So beginnt Paulus sein Resumee über den ersten Teil seines Briefes an die Römer - Ist Gott für uns, wer ist dann gegen uns? Ein tröstlicher Text in Zeiten voll Angst und Unsicherheit. Wenn uns der Zeitgeist entgegenbläst - Gott ist für uns! Wenn uns neue Entwicklungen überrollen - Gott ist für uns! Wenn immer weniger mit uns gehen wollen - Gott ist für uns! Wenn uns das Schicksal schlägt - Gott ist für uns! Wenn wir an uns selbst, aneinander, an der Kirche leiden - Gott ist für uns!

Langsam stockt mir der Atem - geht das so einfach? Kann ich einfach über meine Lebensprobleme hinwegglauben? Ist das nicht blanker Zynismus angesichts so vieler Leidenden, Ängstlichen, Verzweifelten rundum? Werden wir die Probleme der Kirche in der heutigen Zeit lösen, indem wir sie zubeten? - Ist Gott für uns, wer ist dann gegen uns? Doch nur ein frommer Spruch für eine Sonntagspredigt?

Doch der Römerbrief ist alles andere als eine Sonntagspredigt. Er ist voll von engagierter, ja feuriger Argumentation. Salopp gesagt: Paulus gibt es den Römern in seinem Brief an sie wirklich kalt-warm.

Gott ist es, der gerecht macht.

So argumentiert Paulus in seiner Zusammenfassung weiter, die wir vorhin gehört haben. Gott ist es, der gerecht macht. Das war sein Thema im ganzen ersten Teil des Briefes. Wie wird der Mensch gerettet? Wie finde ich einen gnädigen Gott? - wie es Martin Luther bedrängend für sich erfahren hat. Ich bin mir nicht sicher, ob uns diese Frage heute noch so beschäftigt. Als moderne Menschen legen wir schließlich nicht die Hände in den Schoß, um auf Rettung zu warten. Wir sind gewohnt, Probleme zu sehen, zu analysieren und nach kompetenten Lösungen zu suchen. Brauchen tüchtige Menschen noch einen Retter?

Zudem sind wir nicht nur tüchtig, sondern auch gewissenhaft. Wir handeln verantwortlich nach bestem Wollen und Vermögen - wieso sollten wir uns vor einem Endgericht fürchten? - Brauchen moderne Menschen noch einen Retter? Ja, vielleicht die Schwachen, die sich selbst nicht so helfen können; vielleicht auch ich selbst in meinen schwachen Seiten und schwachen Stunden - Gott, ein Retter der Schwachen?

Ist Gott aber stark und barmherzig genug, um die Schwachen zu retten? Wie konnte er nur all den Irrsinn zulassen, den dieses Jahrhundert gesehen hat? Wie konnte er zulassen, daß wir Deutsche und Österreicher sein erstes auserwähltes Volk im Namen einer Ideologie nach Auschwitz trieben? - Haben wir uns nicht schon ganz gut an einen schwachen und hilflosen Gott gewöhnt? Lieben wir Weihnachten nicht auch, weil Jesus als strahlendes Baby so herzig, hilflos und unkompliziert ist? Ist uns Jesus nicht als idealistischer und leicht weltfremder Wanderprediger geläufig, der sich nicht arrangieren konnte, und deshalb schon in jungen Jahren an den gesellschaftlichen Realitäten scheiterte?

Paulus besteht darauf, daß Gott mächtig ist. Wir sind nur Ton in seiner Hand; wie könnte das geformte Material vom Töpfer eine Rechtfertigung für sein Vorgehen verlangen - argumentiert er. Gott entscheidet, wen er erwählt; das können auch die Heiden sein. Gott erwählt Heiden, um sein Volk herauszufordern. Sie sollen den Glauben an ihn wieder ernst nehmen. Paulus besteht darauf, daß es auf den Glauben ankommt, nicht auf die Werke, die guten Taten. Allein durch den Glauben sind wir gerechtfertigt.

Das hat Tradition in der Bibel. Abraham und Sarah - ein altes kinderloses Ehepaar "jenseits von gut und böse", wie wir sagen, dieses alte Ehepaar wird mit reichen Nachkommen gesegnet, die die ganze Erde bevölkern; die beiden tragen nur den Glauben dazu bei. Ein kleines unscheinbares Volk von Halbnomaden, von den damaligen Großmächten nach Belieben hin- und hergeschoben, immer von fremden Mächten beherrscht, wird von Gott erwählt und erhält ein reiches fruchtbares Land zur Heimat. Sie sollen aus Glauben von Ägypten aufbrechen, durch die Wüste ziehen, sich nach den Geboten richten, einen Tempel bauen. Und Jesus, ein Zimmermannssohn aus einfachen Verhältnissen, empfangen und geboren von einer Frau, die das Unmögliche glaubte.

Gegen solche frommen Gedanken sträubt sich der moderne Verstand. Sind wir gefordert, das Unmögliche zu glauben? Ist mit Glauben vor allem gemeint: Glauben wider alle Vernunft? Jesus stellte ein Kind in ihre Mitte: Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder... Was zeichnet ein Kind aus? Was fasziniert uns an ihnen immer wieder? Kinder sind neugierig, unternehmungslustig und lernbereit. Sie sind mit ganzem Herzen bei der Sache. Sie sind offenherzig und spontan; sie lachen und weinen ohne Scheu. Sie sind voll Vertrauen und bereit, sich formen zu lassen,

Weihnachten ist ein Fest des Kindes und ein Fest für Kinder. Gern vergißt man dabei, wie kinderfeindlich unsere Gesellschaft organisiert ist. Eben wird wieder darüber verhandelt, wie viele Abtreibungskliniken es in Bayern geben muß oder darf - Kinder sind heute nicht einfach ein Segen, Wunschkinder möchte man schon; und manche Paare investieren sogar viel Geld und Technik, um eines künstlich zu bekommen. Viel zuviele Kinder sind dagegen unerwünscht, werden abgeschoben, flüchten von zu Hause, verbringen ihr Leben in Banden auf der Straße - da muß man nicht nur an Pater Sporschills Straßenkinder in Rumänien denken, denen er mit der Caritas nach Kräften ein Zuhause gibt. Gerade gab es wieder große Randale in Nürnberg, weil ein autonomes Jugendzentrum geschlossen worden soll. Jugendliche ohne Hoffnung und Zukunft.

Nun könnte man sagen, verwahrloste Kinder sind eben ein Unterschichtphänomen, bei uns ist das ganz anders. Jedoch gerade eben legen Studenten seit Wochen das Unileben lahm, weil es in ihren Augen mit der Hochschulpolitik so nicht weitergehen kann. Sie möchten ein Anrecht auf Studentenförderung, das sie unabhängig macht von den finanziellen Zuwendungen der Eltern, und sie möchten weiter frei studieren können ohne Einschränkung durch die Anforderungen der Wirtschaft. Die Jungen haben große Ansprüche an ihre Freiheit und Selbständigkeit. Gleichzeitig stoßen sie damit gegen eine gesellschaftliche Ordnung, wo nur der etwas zu reden hat, der auf eigenen Füßen steht - also über ausreichend selbst verdientes Geld verfügt.

Diesbezüglich haben die Jungen keine große Zukunft vor sich. Viele stehen vor der Arbeitslosigkeit, bevor sie noch jemals Arbeit hatten; nicht einmal in die Statistik kommen sie so hinein. Wer Arbeit findet, macht selten, was seinen Interessen, Fähigkeiten und Idealen entspricht. Wer heute einen Beruf ergreift, wird höchstwahrscheinlich im Laufe seines Lebens mehrmals umschulen müssen, mindestens dazwischen immer wieder arbeitslos sein, die durchlaufende Arbeitsbiographie wird es kaum noch geben. Die heutigen Jungen werden jahrelang reichlich Rentenbeiträge bezahlen, um die Renten derer zu finanzieren, die jetzt wirksam auf ihre wohlerworbenen Rechte pochen können; sie selbst werden wohl nie eine solche erhalten.

Die heutigen Jungen haben katastrophale Weltaussichten vor sich. Die weltweiten Vorräte an Rohstoffen sind innerhalb weniger Jahrzehnte im Raubbau ausgebeutet, das Weltklima möglicherweise irreversibel gestört, die Urwälder werden abgeholzt, die Wüsten dehnen sich aus, Afrika versinkt in Bürgerkrieg und Elend, die Wirtschaftsdiktaturen Lateinamerikas und Asiens werden uns nicht mehr lange als billige Zulieferer dienstbar sein, europäische Wirtschaftsflüchtlinge überschwemmen die reichen Länder oder müssen mit harten Polizeimaßnahmen oder hohen EU-Fördergeldern draußen gehalten werden. Die sozialen Verhältnisse im Land sind am Kippen, die meisten können ohne dauernde Medikamente und Aufputschmittel nicht mehr leben, die Hälfte aller Kinder lebt als Scheidungswaisen, Gewalt ist - mindestens in den Massenmedien alltäglich geworden. Den Kindern bauen wir Käfige - Spielplätze, Kinderzimmer, Stundenpläne, Massenspielzeug; freie "Spielräume" für Bewegung und Kreativität sind in einer automobilisierten Gesellschaft zu gefährlich.

Die Jungen sehen wenig Zukunft und Hoffnung in der Gesellschaft, die wir ihr aufgebaut haben und ihr hinterlassen werden. Sollten wir uns dafür schuldig fühlen? Haben wir nicht unter großen Entbehrungen mit harter Arbeit aufgebaut, was die Jungen nun nur noch ausnützen müssen - und sind noch undankbar dabei? Sind wir nicht selber hilflos angesichts all der Sachzwänge und Mechanismen, die der einzelne sowieso nicht beeinflussen kann? Steht nicht auch die Politik mit ihren guten und friedlichen, aber umständlichen und langwierigen demokratischen Prozessen auf verlorenem Posten angesichts der schnellen und harten Entscheidungen einer globalen Wirtschaft? Sind wir nicht doch unter der Hand zum Zauberlehrling geworden, der die Kräfte nicht mehr los wird, die er rief? - Vielleicht doch: Nur ein Gott kann uns retten!?

Was kann uns scheiden von der Liebe Christi? Bedrängnis oder Not oder Verfolgung, Hunger oder Kälte, Gefahr oder Schwert? All das überwinden wir durch den, der uns geliebt hat.

So wieder Paulus, mit großer Zuversicht. Woher nimmt er das Vertrauen, woher diese große Sicherheit? Paulus baut auf den Glauben an den einen Gott, der uns alles gibt. Er argumentiert: Er (Gott) hat seinen eigenen Sohn nicht verschont, sondern ihn für uns alle hingegeben - wie sollte er uns mit ihm nicht alles schenken? Gott hat uns in seinem Sohn mit dem Allerwertvollsten beschenkt; also wird er uns auch alles andere geben, was wir brauchen.

Das Problem, so Paulus, ist nicht das Geschenk; Gott beschenkt uns mit allem, und wir können uns darauf verlassen. Das Problem, so Paulus in der ersten Hälfte seines Briefes, ist unser Glaube. Paulus hat dabei nicht die Ungläubigen im Blick, nein, auch die Heiden sind von Gott berufen. Er meint auch nicht die Sünder; nein, er bekennt sich selbst zu seiner Schwachheit, die ihn immer wieder entsetzt. Und er betont, daß Christus für unsere Sünden gestorben ist; um wieviel mehr steht er jetzt auf unserer Seite, wo wir durch seinen Tod und seine Auferstehung gerechtfertigt sind. Das Glaubensproblem für Paulus ist der Götzendienst: nicht dem wahren Gott, sondern anderen Götzen huldigen, das ist das Problem.

Gott ist es, der gerecht macht.

Nur Gott, sonst keiner. Daß es auch heute bei den Glaubensproblemen nicht um die Heiden und die Sünder, sondern um den Götzendienst geht, hat die Befreiungstheologie ganz neu ins Gespräch gebracht. Wer ist unser Gott? Ist es der Mammon, von dem Jesus sagt, wir können nur einem Herrn dienen, Gott oder dem Mammon? Man spricht heute treffend von "Konsumtempeln" von der "Medienorgel" und vom "Hausaltar Fernsehen". Die Werbung verspricht uns Glück, Seligkeit und das Blaue vom Himmel; voll mit ausdrücklicher und versteckter religiöser Symbolik. "Der Handel klagt, daß das heurige Weihnachtsgeschäft hinter den Erwartungen geblieben ist", kann man in den Nachrichten hören. Weihnachten ist die umsatzstärkste Zeit im Jahr, in der - so die Werbebotschaft -"stillsten Zeit des Jahres" wird das meiste Geschäft gemacht.

Nun ist Wirtschaft nichts Schlechtes. Das Kriterium für den Götzen finden wir auch in der Bibel. "Wo dein Herz ist, dort ist auch dein Gott." Das, was dich beschäftigt, dein Herz höher schlagen läßt, dir schlaflose Nächte bereitet, deine Gedanken besetzt, dir Sorgen macht und höchste Freude bereitet - das ist dein Gott. Wenn dagegen der Profit regiert, der Mensch als Arbeitskraft und Konsument hauptsächlich dem Geldgewinn dient, die Politik an ihrer Gemeinwohlperspektive gehindert wird um des wirtschaftlichen Vorteils willen, der große Reichtum steuerschonend in Stiftungen zum eigenen Nutzen eingebracht wird, der Betrug am Konsumenten zum legalen Wirtschaftsmittel wird, das Ansehen eines Menschen von seinem Bankkonto abhängt, vom großen Haus und den teuren Urlaubsreisen, wenn Spekulationsgewinne auf Kosten anderer nicht als obszön, sondern als effizient gelten - dann ist der Götze Mammon im Spiel.

Welchem Gott dienen wir? Ist nicht das Auto zum Götzen geworden? Ihm werden selbstverständlich Menschenopfer dargebracht; zehntausende Tote jährlich auf Deutschlands Straßen, das vielfache an Schwerverletzten. Das zugehörige Glaubensbekenntnis lautet: "Freie Fahrt für freie Bürger." Faktisch jedoch sind Verkehrsmeldungen in der Regel Staumeldungen. Wer in der Großstadt etwas schnell transportiert haben will, nimmt den Fahrrad-Botendienst, weil der schneller ist als die Autos. In jedem Fünfsitzer sitzt während der Woche nur ein Mensch - ein Mann in der Regel. Er hat keineswegs viel zu transportieren, die großen Lasten werden von Frauen bewegt, zu Fuß oder per Fahrrad. "Die Autoindustrie ist sehr zufrieden", konnte man kürzlich in den Nachrichten hören. "Die Neuzulassungen von PKWs sind im letzten Jahr wieder um 3% gestiegen; statistisch verfügt jeder zweite deutsche Erwachsene über ein Auto." Es ist keine besondere Glanzleistung der Intelligenz, wenn tagtäglich im Berufsverkehr Millionen von Einzelmenschen mittels 60, 90 oder 120 PS fast eine Tonne Stahl und Kunststoff bewegen, um 80 oder 90 kg Mensch zu befördern. Das Auto - ein Götze?

Welchem Gott dienen wir? Im zweiten Teil des Römerbriefs spricht Paulus auch die Gaben des Geistes an, die dem Aufbau der Gemeinde dienen, sein Zentralthema im ersten Korintherbrief. Er spricht dabei griechisch von "oikodomé", das hieß profan einfach "Hausbau". Wir leben heute in einer Zeit der globalen Vernetzungen, wo unser "oikos", unser Wohnort, der ganze bewohnte Kosmos geworden ist - wie es schon in der Verheißung an Abraham hieß, die wir angesichts seines Glaubens erwähnt haben. Deshalb beschäftigen uns auch "Ökonomie" und "Ökologie" so sehr. Unsere Geistesgaben haben wir also erhalten, um die Welt so menschengerecht und lebenswert zu gestalten, daß wir gar nicht anders können, als Gott zu danken und ihn zu loben. Ertappen wir uns nicht oft dabei, auf unsere Begabungen und Talente stolz zu sein und unser Ego zu pflegen? Oder anders: Vergraben wir nicht oft lieber kleinmütig unsere Talente, damit wir nur ja auf Nummer sicher gehen?

Angesichts all dessen heißt die unheimlich starke "Weihnachtsbotschaft" des Paulus: Ich bin gewiß: Weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Gewalten der Höhe oder der Tiefe noch irgendeine andere Kreatur können uns scheiden von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserem Herrn.

Amen

Dr. Maria Widl, Geisberg 8, D-97234 Reichenberg


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