Göttinger Predigten im Internet, hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch

Sonntag/Feiertag: 1. Advent
Datum: 30.11.1997
Text: Römer 13, 8-14
Verfasser/in: Hans-Gottlieb Wesenick, Göttingen


Predigttext Römer 13, 8-14

Textfassung Lutherbibel 1984

8 Seid niemandem etwas schuldig, außer, daß ihr euch untereinander liebt; denn wer den andern liebt, der hat das Gesetz erfüllt. 9 Denn was da gesagt ist (2. Mose 20,13-17): "Du sollst nicht ehebrechen; du sollst nicht töten; du sollst nicht stehlen; du sollst nicht begehren", und was da sonst an Geboten ist, das wird in diesem Wort zusammengefaßt (3. Mose 19,18): "Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst." 10 Die Liebe tut dem Nächsten nichts Böses. So ist nun die Liebe des Gesetzes Erfüllung. 11 Und das tut, weil ihr die Zeit erkennt, nämlich daß die Stunde da ist, aufzustehen vom Schlaf, denn unser Heil ist jetzt näher als zu der Zeit, da wir gläubig wurden. 12 Die Nacht ist vorgerückt, der Tag aber nahe herbeigekommen. So laßt uns ablegen die Werke der Finsternis und anlegen die Waffen des Lichts. 13 Laßt uns ehrbar leben wie am Tage, nicht in Fressen und Saufen, nicht in Unzucht und Ausschweifung, nicht in Hader und Eifersucht, 14 sondern zieht an den Herrn Jesus Christus und sorgt für den Leib nicht so, daß ihr den Begierden verfallt.




Predigt

Liebe Gemeinde!

"Ihr kennt doch schließlich die Zeit! Ihr wißt, was die Stunde geschlagen hat!" sagt der Apostel Paulus. Wissen wir's wirklich?

Klar wissen wir das: Heute ist der 1. Advent, und der gibt gleichsam das offizielle Startkommando für die hektische Zeit vor Weihnachten. Aber nein, die ist natürlich nicht gemeint! Im Gegenteil: Insgeheim möchten wir ja so gern, daß uns diesmal die Adventszeit als stille, besinnliche Zeit gelingt, daß wir wirklich zugehen und uns vorbereiten auf das Kind im Stall und etwas erfahren von dem, was die Engel den Hirten in Bethlehem gesungen haben, nämlich das von dem "Frieden auf Erden bei den Menschen seines Wohlgefallens". Dieses Jahr wirklich!

Aber indem wir uns das so vornehmen, spüren wir zugleich die Zwiespältigkeiten unseres Lebens: wie wir immer irgendwie "dazwischen" stecken: zwischen Nacht und Tag, zwischen Schlafen und Wachen, zwischen dem, was wir eigentlich wollen, und dem, was wir tatsächlich tun.

Und auch mit der Zeit, die wir doch schließlich kennen müßten, wie der Apostel meint, ist das eine schwierige Sache. Dieser Tage wurde mir ein Buchprospekt zugeschickt. Beim Blättern stieß ich auf den Titel "Die Wiederentdeckung der Zeit". Ach, war die denn verloren gegangen? Das ging mir gleich durch den Kopf.

Wenn man ein wenig über die Zeit nachdenkt, wird es allerdings schwierig damit. Denn dabei kommt einem ja unweigerlich die eigene Lebenszeit mit zu Bewußtsein. Wo sind die Jahre geblieben? Und man fühlt sich dabei wie in einem ständig weiterrollenden Wagen, den nichts aufhalten, an dessen Kurs keiner etwas ändern kann.

Günter Eich hat diesen Alptraum einmal in einem Hörspiel beschrieben: da leben Menschen wie in einem Eisenbahnwagen; tagein tagaus rollen sie dahin, immer weiter, ohne Halt. Sie wissen: dieser Zug ist unser Leben. Einige erinnern sich: Es müßte noch etwas anderes geben. Die anderen dagegen wollen nichts weiter wahrhaben als das, was sie nun einmal gewohnt sind, eben dieses Leben - im Dunkel, auf Schienen, in einem fahrenden Zug, für den alle Weichen bereits gestellt sind.

Plötzlich werden die Leute wach. Der Zug fährt schneller. Das kann nichts Gutes bedeuten. Wohin geht die Fahrt? Offenbar unaufhaltsam weiter - ins Verderben. "Hilft uns denn niemand?" fragt angstvoll ein uralter Mann. Sein Enkel fragt dagegen: "Wer, wer könnte uns denn helfen?"

Ist unser Leben wirklich so festgelegt, so aussichtslos, so unveränderbar und so ohne Hilfe? Wird es dann am Ende auch dieses Jahr wieder nichts mit dem seligen Advent?

Viele Menschen sind müde geworden, weil sie meinen: Für mich gibt es keine Aussichten mehr! Nicht nur Alte denken so, sondern auch immer mehr Junge. Wir können es ihnen nicht verdenken, wenn die Arbeitslosenzahlen schier unaufhaltsam steigen und mancher die Anzahl von 5 Millionen im nächsten Jahr jetzt für möglich hält, und wenn es immer weniger Arbeitsplätze gibt und gerade junge Menschen immer schwerer eine Anstellung finden. Das Leben ist für viele sehr anstrengend geworden. Immer mehr Umwege sind nötig. Rückschläge häufen sich. Viel Vergeblichkeit ist da, viel Enttäuschung.

Wenn wir das aber erleben - wie reagieren wir darauf? Lassen wir's geschehen und weiterlaufen? Fragen wir nicht mehr nach? Lassen wir die anderen machen und sehen allenfalls zu, auf die eigenen Kosten zu kommen, so lange das geht?

Nach Meinung des Apostels Paulus reagieren so Menschen, die der Nacht verfallen sind. Sie werden ratlos, erschrecken, fliehen in Betäubungen - Mallorca-Party, hemmungsloses Vergnügen, Alkohol, Drogen, fliehen in lauter verzweifelte Bemühungen also, ihre Aussichtslosigkeit und die geheime Angst vor Dunkelheit und Leere zu überspielen.

Das alles hält der Apostel für Schläfrigkeit; so denken und handeln Menschen, die im Dunkel leben. Dagegen heißt für ihn das Gebot der Stunde: Aufwachen, den Schlaf aus den Augen reiben, hinsehen und wahrnehmen, daß alles, was geschieht - mit uns und um uns herum - daß dies alles uns angeht und herausfordert, aber daß es uns nicht überfordert. Und das heißt: Man kann ja doch etwas machen!

Paulus begründet seine Meinung eigenartig: "Unser Heil ist jetzt näher als zu der Zeit, da wir gläubig wurden." Er blickt also zurück - in die Vergangenheit, hält sie neben die Gegenwart und stellt fest: es stimmt, die Zeit ist vorangeschritten. Sie hat sich nicht im Kreis bewegt. Es ist nicht immer wieder dasselbe gewesen. Nein, die Zeit ist weitergegangen, und wir sind weitergekommen.

Das beschreibt Paulus in allerlei Bildern und sagt mit ihnen: Die Nacht geht zu Ende. Zwar ist es noch dunkel, aber am Horizont dämmert es bereits. Der Tag ist nahe und mit ihm das helle Licht. Darauf können wir fest rechnen, darauf können wir uns jetzt schon einstellen. Wir gehen ja Gott entgegen. Und bei Gott, da ist unser Heil! Sein Licht erhellt unser Dunkel. Und es macht auch unsere Zukunft hell mit dem Lichtschein seiner neuen Welt. Dieses göttliche Licht ist seine Liebe. Gottes Liebe wird alle Dunkelheit, alles angstvolle Fragen, alle Sorge, alle Mutlosigkeit und Resignation, alles Leid vertreiben. In seiner Welt gibt es sie jetzt schon. Wir können sie erfahren.

Doch wo und wie können wir das? Wo spüren wir etwas von dieser Morgendämmerung, von dem neuen Licht? Jeden Tag wieder erleben wir soviel Lieblosigkeit und Kraftlosigkeit. Kann man denn Gottes Liebe herbeireden? Ist das nicht eine billige Vertröstung, womöglich auch wieder nur eine Fluchtbewegung in die Innerlichkeit, in eine Innenwelt, die mit den Realitäten nichts zu tun hat?

Auffällig ist, daß Paulus hier gar nicht argumentiert; in den voraufgehenden Kapiteln seines Briefes an die Christen in Rom hat er das bereits ausgiebig getan. Er will auch nichts "beweisen". Er erzählt ganz einfach von seinem Glauben und erinnert daran: Das ist doch auch euer Glaube! Und er erinnert an die Liebe, nennt sie "Erfüllung des Gesetzes". Wo wir wirklich Gott lieben, da wenden wir auch unserem Mitmenschen unsere Liebe zu, und wo wir das tun, da ist Gottes Heil. Wird es nicht schon hell? Ist es nicht Zeit, aufzustehen vom Schlaf und auf die Kraft seiner Liebe zu setzen, auf sie vertrauen?

Wir leben im Jahr 1997 nach Christi Geburt Es ist wie alle Jahre ein "Jahr des Herrn", annus domini. Und heute haben wir den 1. Advent. Advent heißt "Ankunft", und gemeint ist damit Gottes Ankunft. Advent will uns erinnern, an unseren christlichen Glauben erinnern und auf dessen zwei grundlegende Überzeugungen hinweisen. Die eine lautet: Gott wird kommen am Ende der Zeit und sein Reich, seine Herrschaft über alle Welt in Herrlichkeit aufrichten. Davon sprach Jesus ständig in seiner Verkündigung.

Die andere grundlegende Überzeugung unseres Glaubens lautet: Gott ist schon gekommen. In Jesus Christus ist er Mensch geworden. Dies feiern wir an Weihnachten. Von dem Licht in der Krippe wirft das Licht des kommenden Tages seinen hellen Schein auf die ganze Welt. Dieses Licht strahlt uns Menschen und die Dinge um uns herum an, und in diesem Licht bekommen sie ein anderes Aussehen.

Nicht von ungefähr gehören deshalb zur Advents- und Weihnachtszeit die zahlreichen Kerzen: am Adventskranz zuerst, an Zweigen und Gestecken und schließlich am Tannenbaum. Die Kerzen sind Symbole, sind Hinweise auf jenes Licht, das Gott mit der Geburt seines Sohnes in unsere Welt gesandt hat. "Die Finsternis vergeht, und das wahre Licht scheint jetzt." (1. Joh. 2, 8) Das predigen die Kerzen zu Advent und Weihnachten geradezu, als wollten sie sagen:

Was uns überall so dunkel erscheint, das erscheint im Licht der unendlichen Möglichkeiten Gottes als etwas, was überwunden wird. Es bekommt eine andere Bedeutung, als unser Augenschein sie wahrnimmt. Die Dinge und die Menschen, die Verhältnisse und die festgefahrenen Fronten bekommen im Licht der Liebe Gottes gleichsam andere Vorzeichen, nämlich Vorzeichen des Lebens, der Rettung, der Befreiung für uns, für andere Menschen, für unsere Welt.

Das ist so wie bei einem Akkord in der Musik. Gebe ich zum Beispiel in einem Dreiklang nur einer Note ein anderes Vorzeichen, so ändert sich gleich alles. Ein trauriger, mutloser Akkord klingt auf einmal fröhlich, hoffnungsvoll, mitreißend, ermutigend.

Gottes Liebe will die Vorzeichen in unseren Klageliedern ändern, damit daraus fröhliche, hoffnungsvolle, zuversichtliche und mutige Lieder werden. Gottes unwiderrufliche Liebe zu uns, zu unseren Mitmenschen, zu unserer Welt annehmen und gelten lassen - das ist ein hoffnungsvolles Erwachen und Aufstehen vom Schlaf. Da wachsen uns auf einmal neue Kräfte zu, so daß wir "die Werke der Finsternis", wie Paulus sagt, ablegen und die Waffen des Lichtes in die Hand nehmen und kämpfen gegen alles, was unsere Welt verdunkelt. "Waffen des Lichtes"? Kämpfen? Ja, es kostet schon Kraft und Fantasie, es kostet Tapferkeit, Überwindung und viel Geduld, mit Gottes Liebe gleichsam als Waffe in der Hand gegen Angst und Resignation, gegen Betäubung und Flucht, gegen das maßlose "Verbrauchen" von Menschen und Sachen anzukämpfen und Menschen und Dinge im Licht des neuen Tages wahrzunehmen. Aber solch ein Kampf ist nicht vergeblich.

Liebe Gemeinde, wir leben zwischen dem 1. Advent, als Christus zur Welt kam, und dem 2. Advent, wenn Gott endgültig kommt. Unsere Zeit ist die Zeit zwischen den Adventen. Gott hat sie uns gegeben und zur Zeit der Liebe bestimmt. Die Liebe treibt den Menschen aus sich selbst heraus, aus dem engen Gehäuse, in das er sich immerfort in sich selbst verkrümmt, treibt ihn hinaus zu den anderen Menschen, die unter der Dunkelheit leiden und noch nichts bemerkt haben davon, daß "der Tag nahe herbeigekommen" ist.

Erkennen wir unsere Zeit als "Zeit der Liebe"? Haben wir begriffen, daß die Stunde gekommen ist, aufzustehen vom Schlaf und hellwach auf Gottes kommenden Tag zuzugehen? Dann wollen wir unsere Zeit nutzen, uns erfüllen lassen von der Liebe Christi und in seinem Lichte "am Tage" leben. Der Herr Christus soll unser Leben bestimmen.

Amen.


Pastor Hans-Gottlieb Wesenick, Grotefendstr. 36, 37075 Göttingen Predigt über Röm. 13, 8-14 am 1. Dezember 1997, 1. Advent, in der Corvinus-Kirche zu Göttingen

Predigttext in der Übersetzung der "Guten Nachricht":
8 Bleibt niemand etwas schuldig - außer der Schuld, die ihr niemals abtragen könnt: der Liebe, die ihr einander erweisen sollt. Wer den Mitmenschen liebt, hat alles getan, was das Gesetz fordert 9 Ihr kennt die Gebote: "Brich nicht die Ehe, morde nicht, beraube niemand, blicke nicht begehrlich auf das, was anderen gehört." Diese Gebote und alle anderen sind in dem einen Satz zusammengefaßt "Liebe deinen Mitmenschen wie dich selbst." 10 Wer liebt, fügt seinem Mitmenschen nichts Böses zu. Also wird durch die Liebe das ganze Gesetz erfüllt. 11 Macht ernst damit - und das erst recht, weil ihr wißt, was die Stunde geschlagen hat! Es ist Zeit für euch, aus dem Schlaf aufzuwachen. Denn unsere endgültige Rettung ist nahe; sie ist uns jetzt näher als damals, als wir zum Glauben kamen. 12 Die Nacht geht zu Ende, bald ist es Tag. Deshalb wollen wir alles ablegen, was zur Finsternis gehört, und wollen uns mit den Waffen des Lichtes rüste 13 Wir wollen so leben, wie es zum hellen Tag paßt. Keine Sauf- und Freßgelage, keine sexuellen Ausschweifungen, keine Streitigkeiten und Rivalitäten 14 Laßt Jesus Christus, den Herrn, euer ganzes Leben bestimmen, und hätschelt nicht eure alte selbstsüchtige Natur, damit die Begierden keine Macht über euch gewinnen.


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