Göttinger Predigten im Internet, hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch

Gottesdienst am 1. Weihnachtstag, 25.12.1997
Titus 3, 4-7
Prof. Dr. Dr. Ulrich Nembach

Liebe Gemeinde,

heute, am Weihnachtsmorgen, läuten alle Glocken. In den Domen und großen Kirchen erklingen nun weltweit auch die Glocken, die in der Adventszeit geschwiegen haben. In der Adventszeit als einer Zeit der Vorbereitung auf Weihnachten blieben sie stumm. Heute, jetzt zu Weihnachten, erklingt ihr Schall über Stadt und Land.

Glocken erfreuen sich einer Beliebtheit, gar einer zunehmenden Beliebtheit. So werden immer mehr Glockenspiele gebaut. In Berlin, im französischen Dom, wurde ein großes, besonders schönes Glockenspiel eingebaut. Es ist faszinierend, schon allein die Glocken anzuschauen. Große, kleine und alle Formen dazwischen hängen dort. Man kann sie hängen sehen. Dann, wenn sie erklingen, ist es wunderbar. Sie zu sehen, gar zu hören, ist fast schon eine Reise wert.

Von einer Reise, ebenfalls einer besonderen Reise spricht unser Text. Er erinnert uns an ein besonderes Erlebnis, eins, das uns geprägt hat und prägt.

(Verlesen des Textes Titus 3, 4-7:) "Als aber erschien die Freundlichkeit und Menschenliebe Gottes, unseres Heilands, machte er uns selig - nicht um der Werke der Gerechtigkeit willen, die wir getan hatten, sondern nach seiner Barmherzigkeit - durch das Bad der Wiedergeburt und Erneuerung im heiligen Geist, den er über uns reichlich ausgegossen hat durch Jesus Christus, unsern Heiland, damit wir, durch dessen Gnade gerecht geworden, Erben des ewigen Lebens würden nach unsrer Hoffnung."

1. Der Text sagt nicht Reise. Er spricht vom Erscheinen, meint aber die Ankunft eines Reisenden. Gott erscheint in seiner Freundlichkeit und Menschlichkeit bei uns. Im Advent haben wir gesungen: Es kommt ein Schiff geladen. Nun ist das Schiff an Land. Gott kommt in Gestalt seines Sohnes selbst. Wenn das nicht freundlich ist, wenn das nicht Liebe ist? Wir sind Gott so wichtig, daß er selbst kommt.

Wir treiben erheblichen Aufwand, wenn wir Geburtstag haben. Das beginnt schon beim Kindergeburtstag. Was muß da alles bedacht werden. Allein die Frage, wer eingeladen werden soll, ist eine Frage, die hin und her überlegt wird. Manche Kinder laden gleich den ganzen Kindergarten ein. Steht später gar ein runder Geburtstag an, wird es noch schwieriger. Und dann erst etwa ein 90ster oder 100ster Geburtstag, was verlangt das an Vorbereitungen!

Nun ist gar der Geburtstag Gottes da. Er ist angekommen. Er bringt auch etwas mit. In manchen Familien ist es üblich, daß ein neugeborenes Kind dem schon vorhandenen Brüderchen oder Schwesterchen etwas mitbringt. Die Freude ist dann noch größer. So ist es auch mit Jesu Ankunft. Er bringt uns etwas mit.

Wir, die Pfarrerinnen und Pfarrer, aber auch die Gemeinden haben uns angewöhnt das, was Jesus mitbringt, zusammenzufassen. Wir reden davon, daß Jesus uns das Leben, die Freiheit bringt.

Weihnachten 1989 hatten wir noch die Friedensgebete und die Kerzen vor Augen in den Kirchen und Straßen der DDR. Da verstanden wir Leben und Freiheit. Wir selbst fuhren damals zu Weihnachten über die nahe Grenze und gingen dort in den Weihnachtsgottesdienst. Es war eine kleine katholische Dorfkirche. Wir waren als Fremde, zudem aus dem Westen, für alle erkennbar. Wir feierten damals zusammen. Wir verstanden, was Leben, was Freiheit ist. Wir erlebten Leben und Freiheit.

2. Inzwischen wollen wir oft Leben erleben, Freiheit genießen. Die Ferienziele sind ausgebucht über Weihnachten. Ein Ausleger unseres Predigttextes schreibt, Gottes Erscheinen richtet sich auch gegen uns selber und unsere tödliche Ich-Bezogenheit. Ja, er spricht von "tödlicher Ich-Bezogenheit".

Ist das nicht übertrieben, wenn nicht gar falsch? Wir wollen doch gerade das Leben. "Endlich einmal raus, um zu leben", sagen wir, wenn wir die Reisebüros stürmen. Wir finden das lebenswert, was wir sehen und was uns gefällt. Die Schaufensterdekoration erfüllt ihren Zweck. Nur: alles steht nicht im Schaufenster. Dort wird nur das gezeigt, was im Laden verkauft wird. Das Problem ist darum, das zu finden, was wir brauchen, aber nicht ausgestellt vor unsere Augen bekommen.

Ich kann das, was ich meine, auch anders ausdrücken. Wir freuen uns Weihnachten über die Geschenke. Das gilt für Große und Kleine. Wir sind glücklich, wenn wir das bekommen, was wir uns schon immer gewünscht haben. Darum schreiben Kinder Wunschzettel; manche, wenn sie noch nicht schreiben können, malen ihre Wünsche an das Christkind.

Trotzdem gibt es eine Steigerung. Mir ergeht es jedenfalls so und, ich denke auch Ihnen, besonders freue ich mich über das, was ich ganz unerwartet geschenkt bekomme. So ist es auch Weihnachten.

Luther sagte einmal: der Mensch liebt, was ihm als liebenswert begegnet. Gott dagegen schafft das Liebenswerte. Ich kann im Sinne Luthers fortfahren: Jesus kommt und bringt das Liebenswerte, nämlich Freiheit und Leben mit.

Heute geht es nicht um die Grenze zwischen Deutschland Ost uns West, sondern die zwischen Arbeit und Arbeitslosigkeit, Krankheit und Gesundheit. Die Freiheit von diesen Zwängen beginnt heute, Weihnachten. Manche und mancher mag denken: Muß man Arbeitslosigkeit und Krankheit gerade Weihnachten und dann noch im Gottesdienst am 1. Feiertag erwähnen? Reicht dafür nicht das ganze Jahr?

Ich denke, gerade heute ist der Tag dafür. Wir feiern Weihnachten, das Geschenk des Lebens. Wir feiern nicht das Ende von Arbeitslosigkeit und Krankheit, aber das Ende der Angst vor ihnen. Die Hirten kehrten nachher wieder zurück zu ihren Herden. Und dennoch war nichts mehr so wie vorher. Seit jener Nacht erklingt immer wieder der Gesang, den die Hirten gehört hatten: Ehre sei Gott in der Höhe. Wir haben ihn vorhin zu Beginn unseres Gottesdienstes gesungen.

Unser Text nennt gleich eine ganze Reihe von Neuerungen, die es vorher nicht gab. Er spricht von der Wiedergeburt, d.h. von uns als neu gewordenen Menschen; er spricht vom Heiligen Geist, der uns gegeben und zwar reichlich gegeben wurde, d.h. Gott läßt uns an seinem eigen Geist teilhaben, so können wir erkennen, daß Weihnachten ist; der Text spricht von der Gnade und vom ewigen Leben, d.h. Gott ist uns freundlich gesonnen und er schenkt uns Leben, selbst wenn wir krank sind oder sterben.

Es ist richtig, ja, gut, daß Weihnachten alle Glocken läuten. Ein englisch-sprachiges Lied meint dasselbe, wenn es vom Rufen spricht. "Go, tell it on the mountain, that Jesus Christ is born!" Frei übersetzt: Geht, ruft es hinaus: Jesus Christus ist geboren!

(Hier kann das Lied gesungen werden. Vielleicht ist es vor dem Gottesdienst von der Organistin oder dem Organisten mit der Gemeinde geübt worden, falls es unbekannt ist.)

3. Die uns von Gott geschenkte Wiedergeburt und mit ihr Gottes Gnade und sein Geist sind verbunden mit der Taufe. Der Text nennt das das Bad der Wiedergeburt. Die Taufe wurde durch Weihnachten möglich, ist ein weiteres Geschenk, das Jesus mitbringt.

Uns ist die Taufe vertraut, steht meistens am Anfang unseres irdischen Lebens. Darum nehmen wir sie in unserer Erinnerung oft nicht wahr. Wir denken an sie, meistens nur bei passenden Gelegenheiten. Solche Gelegenheiten sind dann Taufen von anderen Kindern, von den eigenen, gar von den Enkeln. Dabei ist die Taufe der Grund unseres Christ-Seins persönlich und aller Christen, auch unserer Gemeinde als Gemeinschaft der Getauften, unseres gemeinsamen Gottesdienstes.

In der Weihnachtsgeschichte ist immer die Rede von den Hirten. Sie erfahren gemeinsam die sensationelle Nachricht von der Geburt. Sie gehen zusammen nach Bethlehem. Sie kehren gemeinsam zu den Herden zurück.

Mir steht noch immer ein drittes Reise-Erlebnis lebhaft vor Augen, wenn es inzwischen auch lange zurückliegt. Ich war sonntags in Neuseeland auf einen Universitätscampus eingeladen. Ich war zu früh, weil ich sonntags wegen der öffentlichen Verkehrsmittel sonst nicht hingekommen wäre. Ich stand allein herum, nicht wissend, was ich machen sollte, zumal wegen des Sonntags die Gebäude verschlossen waren. Plötzlich kam eine Maori-Frau vorbei. Es war in Neuseeland. Sie sprach mich auf englisch an, obwohl sie sonst Maori sprach. Sie kleidet ihre Anrede in eine Frage: "Do you feel a bit alone", fühlen Sie sich etwas allein gelassen? Als ich erstaunt wegen dieser Anrede und zugleich verlegen antworte: "Ja, ein bißchen schon", lud sie mich zum Gottesdienst ein. Dort wurde ich begrüßt - auf Maori. Von der Predigt verstand ich nicht viel. Ich dachte mir, daß die Predigt gar nicht so verschieden von den Predigten unserer Theologiestudenten sei. Später erfuhr ist, daß der Prediger ein Theologie-Student war, der seine erste Predigt hielt. Ich war fremd, verstand die Sprache nicht und war doch zu Hause, in einer Gemeinde. Der Anfang dieser Gemeinde wie der christlichen Gemeinde überhaupt ist Weihnachten.

Bach läßt in seinem Weihnachtsoratorium den Chor singen: Preiset, frohlocket! Lassen Sie uns einstimmen in das Lied "Nun singet und seid froh", Lied Nr. 35 im EG.

4. "Als aber" so beginnt der Predigttext. So leiten gewöhnlich Erzähler eine unangenehme Überraschung ein. Das folgende Ereignis bringt die Beteiligten aus ihrer Ruhe, oft aus ihrem Gleichgewicht. Ein Bote erscheint oder gar der Chef selbst und teilt uns etwas Unangenehmes mit.

Von Erscheinung ist auch in unserem Text die Rede. "Als aber" und dann erscheint, aber nun nicht etwas Unangenehmes, sondern sehr Schönes. Gottes Freundlichkeit, seine Liebe, er selbst erscheint.

Weihnachten geschieht nicht außerhalb unserer Welt, nicht außerhalb unserer Jahre. Weihnachten findet mitten drin statt und ist doch anders, als was sonst mitten drin geschieht. Wir sehen das Besondere gar nicht. Schnell gehen wir über Weihnachten hinweg. Vielleicht denken wir noch, besonders die Kinder: So ein Tag, so wunderschön wie heute, der dürfte nicht vergehen. Aber nach einer Woche, im neuen Jahr wenden wir uns wieder dem Alltag zu, wie wir sagen.

Dabei geschieht, erscheint Weihnachten im Jahr, im Alltag. Die Hirten werden während ihrer Arbeit angesprochen und kehren nach ihrem Gang nach Bethlehem zu den Herden zurück, aber sie sind nicht mehr dieselben. Sie tun dieselbe Arbeit wie vorher. Sie leben in denselben Verhältnissen und sind doch andere geworden. Sie kehren zurück und loben Gott wegen alle dem, was sie gehört und gesehen hatten. Früher hatten sie auf ihren Wegen nicht Gott gelobt. Als Hirten müssen sie weiterhin auf ihre Herden aufpassen. Als Menschen, die die Engel sahen und die in Bethlehem gewesen waren, erinnern sie sich an Gott. Sie loben ihn.

Unsere Gemeinden sind das ganze Jahr über da; unsere Gottesdienste mit dem Lob Gottes finden jeden Sonntag statt. "Als aber" Gott erschien, erschien er nämlich nicht, um gleich wieder spurlos zu verschwinden.

Ich habe die Predigt begonnen mit dem Hinweis auf die Glocken und das Glockenspiel im französischen Dom in Berlin, das eine Reise wert ist. Das "Als aber" beendet den Vergleich mit dieser wie jeder anderen Reise. Das "Als aber" beendet jeden Vergleich. Weihnachten ist unvergleichbar. Weihnachten ist einmalig. Gottes Erscheinen in Jesus ist einmalig. Jede Reise verblaßt in der Erinnerung - früher oder später. Bilder, Videos, Fotos, können die Erinnerung zurückrufen, aber dann verblaßt sie wieder und oft endgültig.

Gottes Sohn, Jesu Erscheinen, hinterläßt dauerhafte Spuren. Jesus läßt uns die Gnade Gottes. Die an uns geschehene Taufe bleibt. Gott kommt uns Weihnachten so nah, daß er uns nicht vergißt. Die Taufe, die uns das ganze Leben begleitet, ist eine Folge von Weihnachten. "Als aber" Gott erschien, änderte sich alles, alles. Darum preisen ihn die Engel, die Hirten ...und die Christenheit heute morgen auf der ganzen Welt.

Amen

Hinweise zur Predigt:

Die Predigt ist konzipiert als Rede für eine Gemeinde wie die Stephanus-Gemeinde im Süden Göttingens mit ihrer gemischten Bevölkerungsstruktur. Die Gemeinde verlor gerade im Zuge der Sparmaßnahmen eine ganze Pfarrstelle, obwohl sie wächst, weil eine auf ihrem Gebiet gelegene einstige große Kaserne vollständig aufgesiedelt wird. Exegetisch habe ich mich leiten lassen u.a. von Victor Hasler, Die Briefe an Timotheus und Titel, Züricher Bibelkommentare. Systematisch-theologisch und homiletisch half mir Johannes Heidler in GPM 1997. Persönliche Erlebnisse und Lieder prägen die Weihnachtszeit wie kaum eine andere Jahreszeit. Deshalb fanden sie starken Eingang in die Predigt und wurden zur Brücke zwischen Text und uns.

Prof. Dr. Dr. Ulrich Nembach Platz der Göttinger Sieben 2, 37073 Göttingen, Tel. 0551-39 79 39.