Göttinger Predigten im Internet, hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch
Sonntag/Feiertag: 3. Advent
Datum: 14.12.1997
Text: 1. Korinther 4, 1-5
Verfasser/in: Pastor Dr. Hans-Theodor Goebel


Predigttext 1. Kor. 4, 1-5

1 So soll man uns ansehen als Dienstleute Christi und Verwalter der Geheimnisse Gottes.
2 Hierbei verlangt man nun von den Verwaltern, daß einer treu erfunden werde.
3 Mir aber ist es völlig gleichgültig, daß ich von euch oder einem menschlichen Gerichtstag beurteilt werde. Ja auch ich beurteile mich nicht selbst.
4 Ich bin mir zwar nichts bewußt. Aber damit bin ich nicht gerechtfertigt. Sondern der mich beurteilt, ist der Herr.
5 Darum fällt über nichts das Urteil vor dem Zeitpunkt. Bis der Herr kommt. Der wird auch ans Licht bringen, was in der Finsternis verborgen ist, und wird enthüllen das Trachten der Herzen. Und dann wird einem jeden das Lob von Gott zuteil werden.

Predigt

Liebe Gemeinde!

(1.) Kundenorientierung heißt heute eins der Schlagworte. In Gesellschaft und Kirche. Wenn diskutiert wird, warum es nicht gut läuft und wie es besser laufen könnte.

"Warum sind die Wörter 'Service' und 'Kundenorientierung' auf dem Campus [der Universitäten] noch immer Fremdwörter?" - hat der Bundespräsident Roman Herzog öffentlich gefragt. In seiner Rede über die Zukunft unseres Bildungssystems - besonders an den deutschen Universitäten. Anfang November war das.

Nicht lange danach haben Hunderttausende von Studierenden in Deutschland ihre Universitäten bestreikt. Sie finden die Studienbedingungen katastrophal. Sie fühlen sich von der Bildungspolitik schlecht behandelt. Aus der Verschwisterung von Wissenschaft und Wirtschaft artikuliert sich anderer Unmut: Die Universitäten bedienen die Wirtschaft schlecht. Die Wirtschaft braucht Studierte, die in ihren Unternehmen möglichst reibungslos funktionieren. Und damit sie kriegen, was sie brauchen, müssen die Universitäten unter Wettbewerbsbedingungen funktionieren - wie die Unternehmen am Markt. So oder ähnlich hört man es da.

Die Kunden fangen an, sich öffentlich zu wehren. Aus unterschiedlichem Interesse gegen die Politik, die sie schlecht bedient. Vielleicht ist die Unruhe an den Universitäten nur der Anfang einer allgemeinen Unruhe der Unzufriedenen. An einer studentischen Wandzeitung in der Kölner Uni las ich dieser Tage: Die Reform des HRG (Hochschulrahmengesetz) ist nur ein Beispiel für den Rückzug der Politik aus der Verantwortung. Wenn wir etwas verändern wollen, müssen wir uns mit allen Betroffenen der staatlichen Verantwortungslosigkeit solidarisieren und gemeinsam kämpfen. Kundenorientierung - heißt das Schlagwort wirtschaftlich denkender Reformer. Aber die Interessen der Kunden können verschiedene sein.

Und in der Kirche?

Auch als Kirche müssen wir kundenorientiert arbeiten - wird gesagt. Und man sagt es auf dem Hintergrund der vielen Kirchenaustritte in den letzten Jahren. Den christlichen Kirchen laufen sozusagen die Kunden weg. In Kirche und Diakonie wird jetzt an verschiedenen Orten ein sogenannter Leitbildprozeß in Gang gebracht, oder ist schon durchgeführt worden. Nach einem Muster aus der Betriebswirtschaft für industrielle Unternehmen. Das soll umgesetzt werden auf die Kirche. Leitungsgremien, Mitarbeitende und die Gemeinde sollen zusammen erfragen: Welche Ziele haben wir als Kirche? - und: Wie sind wir ausgerichtet auf die Menschen, die wir erreichen wollen? Unsere Kunden eben. Sind wir in der kirchlichen Arbeit auf die hin orientiert?

In unserem Kirchenkreis Köln-Rechtsrheinisch soll dieser Leitbildprozeß im Januar anlaufen.

(2.) Mitten dahinein redet nun dieser Advents-Predigttext, in dem der Apostel Paulus zu seiner Gemeinde in Korinth sagt: Mir ist es völlig gleichgültig, daß ich von euch beurteilt werde. Ob ich mit meiner Arbeitsleistung von euch oder einer anderen menschlichen Instanz untersucht, analysiert, verhört, beurteilt werde, ist mir ganz egal.

Unerträglich klingt das. Wenn da nicht doch anderes hinter steckt als Arroganz und die Unfähigkeit, Kritik anzunehmen. Zumal Paulus an anderer Stelle derselben Gemeinde schreibt: Er erweise sich allen in allem gefällig (10,32).

Ich glaube in der Tat, wir dürfen hier Paulus nicht aus seiner eigenen Überheblichkeit verstehen. Dann wäre der Bibeltext für uns auch bedeutungslos. Vielmehr hat Paulus im Blick, daß eine Krise bevorsteht, eine Analyse, eine Untersuchung, ein Gericht, demgegenüber alle Kritik der Gemeinde und der Menschen gleichgültig wird, verblaßt. Wie Taschenlampen, mit denen wir ein Gelände absuchen, wenn der Mega-Fluter eingeschaltet wird, so wird alle Kritik bedeutungslos und unscheinbar angesichts der Krise, die auf die Welt zukommt.
Diese Zu-Kunft ist Advent.

Man muß als Apostel, als Pfarrer, als Mitarbeiterin in der Gemeinde, als Christenmensch unter Christenmenschen nicht überheblich werden im Bewußtsein dieses Advent, dieser Krise, in die wir gestellt werden. Nur - eine eigentümliche Freiheit gibt das schon.

Der Pfarrer, der es allen Leuten recht machen will, muß ich dann nicht sein. Und unser Presbyterium muß nicht alles tun, was in der Gemeinde von ihm erwartet wird. Überhaupt muß die Kirche ihre Dienstleistungen nicht einfach den Interessen der Abnehmerinnen und Abnehmer anpassen. Auf dem Markt ist der Kunde König - sagt man auf dem Markt und richtet sich danach. Und manipuliert gegebenfalls auch den Kunden. In der Kirche ist nicht der Kunde König.
Wir stehen vielmehr in der Krise, die von einem Anderen her auf uns zu kommt. Wir stehen schon in der Krise seines Advent. Das entzieht uns der Kritik der Kunden. Das gibt uns eine eigentümliche Freiheit.

(3.) Diese Freiheit gewinne ich ebenso mir selbst gegenüber. Ja auch ich beurteile mich nicht selbst - schreibt der Apostel.

Ich höre sein Wort an mich gerichtet und für mich. Ich denke an die Frage, die mich besetzt: Wie komme ich an als Pfarrer? Wie komme ich mit meiner Predigt an? Welchen Eindruck mache ich, wie finde ich Beifall und werde gelobt? Auch noch mit dem, was ich kritisch über mich denke und gerade jetzt sage. Und die Frage: Wie komme ich bei mir selbst an? Wie stehe ich da mit meiner Arbeit in meinem eigenen Urteil? Diese Frage, diese Fragen - ich kann sie auf sich beruhen lassen. Das ist hier die Botschaft. Das ganze Schwanken und Hin und Her zwischen Ichstärke und Ichschwäche. Wo ich mich einerseits abhängig mache: Was werden die Leute sagen? und mich andrerseits aufblase: Mir ist keiner über.

Ich kann mich auf mich beruhen lassen ist hier die Botschaft des Apostels.

Für jeden Christenmenschen gilt sie. Eine große Freiheit wird mir da zugestellt. Die Freiheit von dem Zwang, mich immer zu kontrollieren: Wie wirke ich und wie komme ich an, bin ich Gewinner oder Versager?

Denn: Der Herr richtet. Kein Andrer. Der Kunde nicht. Und ich selber auch nicht. Das eigene Gefühl, ja auch das eigene Gewissen - sie kommen hier als Richter nicht in Frage.
Paulus schaltet sie nicht ganz aus. Er hat ja sein Gewissen befragt und ist sich nichts bewußt, was er sich vorwerfen müßte. Aber dadurch bin ich nicht gerechtfertigt - schreibt er.
Wir können, ja müssen uns persönlich und im Blick auf unsere kirchliche Arbeit Kirche kritisch befragen. Warum nicht auch in einem Leitbildprozeß. Nur gerät das alles hier in das Licht des Advent und seiner Krise. Auch alles Selbstbewußtsein und alle Ichstärke geraten in das Licht dieser Krise. Sich das klar zu machen, muß wesentliches Element unserer Leitbildüberlegungen sein.

Ein Ausleger hat geschrieben, der ichstarke Stolz des Apostels nähre sich nicht daraus, daß ihm keiner über ist, sondern gerade daraus, daß ihm einer über ist.

Der Herr. Der kommt mit seinem Gericht. Das ist die endgültige Krise. Ihn erwarten, das setzt allem kritischen Management in der Kirche und aller positiven Selbstbeurteilung und Fremdbeurteilung die Grenze, jenseits derer sie bedeutungslos werden. Innerhalb dieser Grenze können und sollen wir kritisch und selbstbewußt, durchaus ichstark miteinander umgehen in der Kirche. Wir haben die Freiheit zu kritisieren und uns kritisieren zu lassen. Und uns davon doch nicht abhängig zu machen. Gerade weil hierbei nicht das letzte Urteil gesprochen wird. Von der letzten Entscheidung sind wir grundsätzlich entlastet. Im kirchlichen wie im persönlichen Leben.

Du kannst dich auf dich selbst beruhen lassen! Die Urteile der Leute und deine Selbstkritik, dein gekränkter Selbststolz, deine Selbstanklage, dein Selbstlob - laß es dahingestellt sein! Der Herr kommt. Darum richtet nicht vor dem Zeitpunkt!

(4.) Was aber wird sein, wenn er kommt? In der großen Krise, in die wir gestellt werden. Wenn er beurteilt. Richtet. Da wird er ans Licht bringen, was verborgen ist - sagt der Text. Das geheime Wollen unserer Herzen.
Ich denke an die Geschichte von der Sintflut, an deren Anfang und Ende es aus Gottes Mund heißt: Das Dichten und Trachten des menschlichen Herzens ist nur böse immerdar. Und ich denke jetzt daran, daß ich auch in meinem kirchlichen Engagement so verzweifelt mich selbst suche, statt Gott und den Mitmenschen. Daß unsere Kirche Selbstdarstellung betreibt und nicht Darstellung unseres Herrn und seiner Barmherzigkeit. Daß wir alle Sünder sind und vor Gott keinen Ruhm haben.

Wenn wir vor ihm stehen und nicht mehr nur vor uns selbst, was wird er dann aufdecken von unseren uns selbst verborgenen Herzensregungen! Dann spricht er das Urteil.
Und nun das Erstaunliche: Da wird einem jedem von Gott das Lob zuteil werden. Schreibt Paulus.

Kann es sein, daß wir uns noch in einem ganz anderen Sinne nicht kennen, als wir meinen? Nicht nur hinsichtlich des Bösen in unseren Herzen, sondern erst recht im Blick auf das, was unser Teil von Gott her ist. Jedem, wirklich jedem wird da von Gott her das Lob zuteil. Auch denen, über die wir den Stab gebrochen haben und sagen: Die intrigrieren und machen gegen uns Stimmung in der Gemeinde.
Auch uns selbst wird Lob zuteil werden. Von Gott her. Obwohl bei uns doch so viel zu kritisieren ist.
Unbegreiflich.
Das Lob, weil es von Gott her kommt, macht die Krise aus. Stellt alle andere Kritik und Selbstkritik in den Schatten. Und ist begründet doch nicht in unseren Verdiensten, sondern in ihm, der uns loben will aus dem Reichtum seines Wohlwollens.

Darum - verstehst du - darum kannst du getrost dich auf dich beruhen lassen. Deinen Widerwillen gegen dich selbst und deinen maßlosen Stolz auf dich selbst, auch die Kritik und das Lob der Anderen, laß das alles - verstehst du - getrost auf sich beruhen und dahingestellt sein. Jetzt. In aller Freiheit. Und freu dich im Advent auf deinen Herrn. Auf unsern Herrn, der auch seiner Kirche entgegenkommt und uns loben wird nach dem Reichtum seines Wohlwollens.

(5.) Zuletzt: Paulus sagt am Anfang unseres Textes: So soll man uns ansehen als Dienstleute Christi und Ökonomen der Geheimnisse Gottes.

Die Geheimnisse Gottes - sie liegen verborgen in seiner Weisheit. Die in unsrer Welt nicht als Weisheit gilt. In der Torheit des Kreuzes. Das Geheimnis seiner Liebe liegt darin verborgen. Der Liebe, in der Gott sich uns ganz geöffnet, sich uns ganz gegeben hat.
In diesem Geheimnis Gottes liegt auch das Geheimnis des Menschen. Das Geheimis von dir und mir. Hier liegt begründet, daß in der letzten Krise unseres Lebens einer jeden und einem jeden Lob von Gott zuteil wird.

Wie werden wir zu treuen Verwaltern der Geheimnisse Gottes? Was für eine Ökonomie gilt für das Geheimnis Gottes und des Menschen? Es gilt, das Geheimnis zu wahren, das Geheimnis des Menschen nicht anzutasten. In Kritik und in Selbstkritik das Geheimnis gelten zu lassen. Für jeden Menschen. Wie für mich selbst. Das Geheimnis einzubringen. Wo Menschen beurteilt werden nur nach dem, was sie leisten. Wo auch die Kirche, in der Menschen arbeiten, so beurteilt wird. Wo man fast alles zur käuflichen Ware macht und vermarktet. Auch die Menschen. Auch die Kirche. Auch das, was Menschen bilden soll an unseren Universitäten.

Da gilt es, das Geheimnis Gottes und des Menschen wahren: Daß in der letzten Krise Gott uns Menschen lobt, weil er uns liebt - und werde Gott darüber zum Tor in der Welt. Das Geheimnis zu wahren ist treuer apostolischer Dienst eines jeden Christenmenschen.

Wer so lebt, lebt in aller Freiheit - im Advent.

Amen.

Pastor Dr. Hans-Theodor Goebel, Im Wasserblech 1c, 51107 Köln
Tel. 0221 - 86 11 35, Fax: 0221 986 24 09.

Anmerkungen zur Predigt


Exegetisch ist der Zusammenhang mit 3,21-23 beachtet: die Freiheit derer, die "Christi sind". Der Predigttext 1 Kor 4,1-5 hat ein Achtergewicht in Vers 5. Die "Geheimnisse Gottes" verstehe ich von den Kapiteln 1 und 2 her: die Weisheit Gottes in der Torheit des Kreuzes. Hier liegt im Geheimnis Gottes das Geheimnis des Menschen begründet. Der Text redet zunächst vom Apostel und seinem Dienst (Verse 1f), ich halte ihn aber mit Klein für "verallgemeinerungsfähig".
Systematisch: Vom Ende, von Gottes Gericht her widerfährt jetzt und hier Entlastung und Freiheit. Weil von Gott her Lob unbedingt widerfährt, kann der Christenmensch sich getrost dem Advent überlassen.
Homiletisch: Die Predigt geht ein auf den strukturellen Leitbildprozeß in der gegenwärtigen Kirchensituation und auf die persönliche Pfarrerproblematik (Wie ich ankomme?). Weitet die Pfarrerproblematik aber aus auf die Situation des Christenmenschen überhaupt. Das Geheimnis des Menschen wahren, ist als Konsequenz aus der eschatologischen Orientierung zu verstehen, wie in diesem Geheimnis Gottes auch seine Gerichtsentscheidung ihren Grund hat. Die gegenwärtige Bildungskatastrophe und die Unruhe an den Universitäten dient als Einleitung, durch die das Thema der Kundenorientierung außerkirchlich angezeigt werden soll, sie ist zugleich ein Feld, in dem es das Geheimnis des Menschen zu wahren gilt. So am Schluß der Predigt nur noch angedeutet.

Literatur: Neben den Kommentaren von H. Conzelmann (Meyers KEK, 1969) und W. Schrage (EKK, 1991) besonders anregend: Günter Klein in: GPM 52, 1997, 25-32.


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