Göttinger Predigten im Internet,
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Drittletzter Sonntag des Kirchenjahres
Datum: 9.11.1997
Text: Lukas 17, 20-30
Verfasser: Prof. Dr. Dr. Ulrich Nembach, Göttingen

Die Predigt ist konzipiert als Rede für die Stephanus-Gemeinde in Geismar, im Süden von Göttingen. Die Gemeinde ist vor 30 Jahren in einem Neubaugebiet gegründet worden, Auf ihrem Gebiet lag eine Kaserne für fast 3000 Soldaten. Inzwischen ist die Kaserne komplett geschlossen worden. Sie wird zur Zeit umgebaut für Wohnzwecke, eine Fachhochschule und Firmen. Die Gemeinde verlor im Zuge der Sparmaßnahmen eine ganze Pfarrstelle, obwohl das Neubaugebiet auf dem ehemaligen Kasernengelände hinzukam.

Predigttext:
"Als er aber von den Pharisäern gefragt wurde: Wann kommt das Reich Gottes?, antwortete er ihnen und sprach: Das Reich Gottes kommt nicht so, daß man’s beobachten kann: man wird auch nicht sagen: Siehe, hier ist es! oder: Da ist es! Denn siehe, das Reich Gottes ist mitten unter euch. Er sprach aber zu den Jüngern: Es wird die Zeit kommen, in der ihr begehren werdet, zu sehen einen der Tage des Menschensohns, und werdet ihn nicht sehen. Und sie werden zu euch sagen: Siehe, da! oder: Siehe, hier! Geht nicht hin und lauft ihnen nicht nach! Denn wie der Blitz aufblitzt und leuchtet von einem Ende des Himmels bis zum andern, so wird der Menschensohn an seinem Tage sein. Zuvor aber muß er viel leiden und verworfen werden von diesem Geschlecht. Und wie es geschah zu den Zeiten Noahs, so wird’s euch auch geschehen in den Tagen des Menschensohns: Sie aßen, sie tranken, sie heirateten, sie ließen sich heiraten bis zu dem Tag, an dem Noah in die Arche ging und die Sintflut kam und brachte sie alle um. Ebenso, wie es geschah zu den Zeiten Lots: Sie aßen, sie tranken, sie kauften, sie verkauften, sie pflanzten, sie bauten; an dem Tage aber, als Lot aus Sodom ging, da regnete es Feuer und Schwefel vom Himmel und brachte sie alle um. Auf diese Weise wird’s auch geschehen an dem Tage, wenn der Menschensohn wird offenbar werden."

Liebe Gemeinde,

es gibt Tage mit sehr guter Fernsicht. Dann können wir, auf einem Berg stehend, weit über Berge und Täler hinwegsehen. An solchen besonderen Tagen informiert der Rundfunk extra über diese Möglichkeit. Nicht wenige nutzen dann die Chance, um an einem solchen Tag auf den Brocken oder die Zugspitze zu fahren. Ich tat das auch und fuhr an einem solchen Tag auf den Brocken. Wunderschön war der Blick und weit. Ich sah die anderen Berge des Harzes. Ich sah Städte, Braunschweig, Halberstadt, Magdeburg. Ich konnte mich gar nicht satt sehen. Erst spät verließ ich den Berg.

Um so eine Fernsicht geht es im heutigen Predigttext. Dieser gleicht dabei einer jener Orientierungstafeln, die auf hohen Bergen für den Blick in die Ferne angebracht sind. Auf diesen Tafeln wird angegeben, wo eine Stadt, ein Dorf, ein anderer Berg liegt. Auf diese Weise können Interessierte sich orientieren, leicht ihr Ziel finden, das sie sehen möchten.

Das Ziel unseres Predigttextes ist zunächst in Jesu Antwort an die Pharisäer das Reich Gottes, auf das die Menschen zur Zeit Jesu in Israel mit Spannung, großer Spannung warteten. Es soll bald, möglichst schon morgen kommen. Jesus wird darum nach diesem Reich gefragt, und er antwortet.

Um seine Antwort verstehen zu können, müssen wir noch einige Fakten zuvor wissen. Jesu Reden wurden erstaunlich gut überliefert, um uns heute, 2000 Jahre später, zu erreichen. So wurde Jesu Antwort auf diese ihm gestellte Frage schon bald zusammen mit anderen Reden Jesu gesammelt, aufgeschrieben und weitergegeben. Keiner in den christlichen Gemeinde konnte oder wollte an dieser Sammlung von Reden vorbeigehen. Deshalb nahm sie auch Lukas in seine umfassende Darstellung des Lebens Jesu auf, als er sich entschlossen hatte, ein so umfangreiches Werk zu schreiben.

Von Lukas ging es dann mit der Überlieferung ziemlich direkt bis zu uns heute morgen. Da man zunächst nur die Reden von Jesus gesammelt hatte, mußte Lukas den Reden einige Erklärungen hinzufügen Sonst hätten die Leser später nicht mehr verstanden, was Jesus wann zu wem sagte. Es erging Lukas so wie uns, wenn wir auf unseren Urlaubsfotos das Datum vermerken. Oft fügen wir noch die Namen von Personen hinzu, die auf den Bildern zu sehen sind. Kinder schauen später interessiert hin, wenn sie auf alten Fotos ihre Eltern in jungen Jahren oder Tante Renate oder Onkel Thomas sehen. Auf dem Bild allein hätten sie weder die Tante noch den Onkel erkannt. Deshalb steht im Text: Jesus spricht zu den Pharisäern und spricht zu den Jüngern.
Was sagt er?

1. Er antwortet auf eine Frage nach der Zukunft, zunächst auf die, wann das Reich Gottes komme. Die Zukunft interessierte damals besonders in Israel, weil das Land eine schwere Zeit durchmachte. Das Land war von den Römern besetzt worden, und diese hatten eine harte Herrschaft errichtet. In der Situation erhofften sich die Menschen in dem Israel von damals, daß das Reich Gottes die Wende bringen und dann, ja dann, alles, wirklich alles gut werde. Darum erwarteten Alt und Jung mit Spannung das Reich. Je eher es käme, um so besser. Nach Anzeichen für die Ankunft des Reiches schauten die Menschen begierig aus. Niemand wollte die Entwicklung verpassen, falls das Reich leise käme. Niemand wußte, wie es kommen würde, nur daß es bald kommen würde, davon waren alle überzeugt.

Aber Jesu Antwort ist nicht die, die die Leute erwartet, erhofft hatten. Er nennt kein Datum, nicht einmal ein ferneres in der Zukunft. Er sagt: Das Reich Gottes kann man nicht sehen, auch nicht von Bergen und bei guter Fernsicht, Das Reich ist mitten unter euch, sagt er. Luther übersetzte noch schärfer: das Reich ist inwendig in euch, will heißen: in euch selbst drinnen. Man hat oft und viel darüber gerätselt, was das wohl bedeutet: in euch oder inwendig in euch. Gemeinden und Theologen beteiligten sich an der Forscherarbeit, was das heißen könne. Die bislang überzeugendste Antwort ist wohl die: Die Zeit, die ganze Zeit, wie sie sich Lukas darbietet - und nicht nur die nächsten Tage oder Wochen - , läßt sich in vier Zeitabschnitte einteilen, die Zeit vor Jesus, die Zeit mit Jesus, die Zeit nach ihm und die Zeit des Menschensohnes, wie er im Predigttext genannt wird. Er, Lukas, schreibt zur Zeit nach Jesus. Das Gespräch findet zu der Zeit statt, als Jesus lebt. Dabei hat Jesus drei Zeiten im Blick, seine Gegenwart, die Zeit nach ihm - wir können auch sagen, die Zeit, zu der Lukas schreibt - und als dritte die, wenn der Menschensohn kommen wird.

Den Pharisäern sagt Jesus, daß das Reich Gottes unter ihnen, mitten unter ihnen ist. Er selbst, Jesus, ist damit gemeint. Ihn können sie zwar sehen, aber sie erkennen ihn nicht. Sie schauen hin, aber sehen nicht, daß das Reich schon mit ihm gekommen ist. Den Jüngern sagt Jesus später, wie es weitergehen wird. Allerdings ist die Antwort für die Jünger erstaunlich, schier unverständlich.

2. Uns wird es gleich genauso ergehen. Wir lieben Angaben über die Zukunft. Wir bezahlen Institute dafür. Wir fragen unseren Arzt, wie es mit unserer Krankheit weitergehen wird, und hoffen auf eine gute und möglichst genaue Antwort. "In zwei oder drei Tagen können Sie wieder nach Hause", hört jede Patientin, jeder Patient im Krankenhaus gern, am liebsten. Genauso gern hören wir Prognosen für die Wirtschaft, für unser berufliches Fortkommen, für die Partnerschaft, die gerade begonnen hat oder die schon Jahre dauert. Heilsbotschaften für die Zukunft sind beliebt. Darum ist es kein Wunder, wenn Leute sich auch heute unter ganz anderen Umständen wie die damals in Israel gern von anderen sagen lassen: Der Menschensohn kommt, vielleicht schon morgen. Du mußt dich darum beeilen, um hinzukommen, dabeizusein. Wenn Leute heute weite, teuere Wege auf sich nehmen, um bei einem Fußballspiel oder einer Formel 1 Meisterschaft dabeizusein, wieviel mehr gilt das für das Kommen des Menschensohnes.

Nur, so lesen wir, Jesus sagt: Nein, so geht das nicht. Der Menschensohn kommt nicht leise, sondern plötzlich und unübersehbar. Der Blitz am Himmel ist nicht zu übersehen. Wir müssen also nicht Prognosen lauschen, die ihn ankündigen. Davor steht das Kreuz, das Leiden. Jesus "muß viel leiden". Das Reich ist schon mit Jesus gekommen. Er kam in diese Welt, "Gott von Gott", wie ein altes christliches Bekenntnis ihn nennt. Der Menschensohn wird später kommen. Und für diese Zeit, die Zeit nach Lukas und auch die von uns heute, stehen die weiteren Ausführungen. Wir lesen dort von Noah und von Lot. Die liegen aus unserer heutigen Sicht in einer noch weiter zurückliegenden Zeit, bevor Jesus in Israel lebte; und weil das so ist, sind sie Jesu Zeitgenossen bekannt. Er kann auf sie hinweisen.

3. Noah und Lot: Die Geschichte von Noah wird auch heute oft erzählt. Aber hier, in unserem Predigttext, wird sie nicht ganz so erzählt, wie wir sie gewohnt sind. Nichts ist gesagt von den Tieren, die in die Arche gingen. Kein einziges Tier wird erwähnt. Genannt - und zwar ausgiebig geschildert - werden die Menschen. Was sie tun, interessiert. Ihre Beschäftigungen sind die normalen, die alltäglichen. Sie essen, sie trinken, sie heiraten, sie lassen sich heiraten.
Später, Jahrhunderte später, sagte einmal ein Mann, als ein Krieg gerade ausgebrochen war. "Business als usual." Alles geht seinen gewohnten Gang. Wir können auch die Worte übersetzen: "Nichts Besonderes, nichts Neues." So, genauso, war es zur Zeit des Noah und ebenso, als Lot lebte, jener Mann, der Sodom fluchtartig verlassen mußte, um dem plötzlichen, alles zerstörenden Unwetter zu entkommen.

Das ist der Punkte der unseren Text interessiert, das Leben und seine plötzliche Veränderung. Wir Deutsche, gerade wir Deutsche, kennen solche Veränderungen auch, und besonders an einem Tag wie heute, dem 9. November, erinnern wir uns daran. Am 9. November 1989 ging die Grenze in Berlin auf; am 9. November 1938 brannten die Synagogen in Deutschland; am 9. November 1918 brach das Kaiserreich zusammen. Weitere Daten könnte ich hinzufügen.

Alle diese Ereignisse kamen mehr oder weniger plötzlich überraschend. Der Brand der Synagogen, von den Nazis geplant, organisiert, kam für die Menschen in Deutschland überraschend. Sie waren schockiert, tief betroffen, wie der Schriftsteller und Theologe Jochen Klepper in seinem Tagebuch vermerkt, er, der später, von den Nazis in die Enge getrieben, mit Frau und Tochter Selbstmord begehen mußte. Der 8. November 1989 kam ebenfalls überraschend. Günter Schabowski, als Mitglied des Politbüros der SED für die Presse zuständig, wußte noch nicht einmal in dem Augenblick, als er die Öffnung der Mauer ankündigte, was er sagte. Heute wissen wir, daß er meinte, eine großzügige Reiseerleichterung anzukündigen. Tatsächlich waren seine Worte das Ende der Berliner Mauer, ja der DDR. Alles, was in jener Nacht und in den Tagen danach folgte, war nur die Folge der Worte von Schabowski auf jener Pressekonferenz.

Genauso, plötzlich, wird der Menschensohn kommen wenn er wiederkommt. Wir erinnern uns: Unser Predigttext spricht zunächst von Jesu Zeit damals und dann von der Zeit nach ihm. Hier geht es nun um diese Zeit danach. In dieser Zeit wird eines Tages der Menschensohn kommen. Wie können, ja sollen wir uns darauf vorbereiten?

4. Das ist die Frage, die sich uns allen stellt. Nur, ich muß gestehen, ich bin in einer Situation, wo ich wenig darauf antworten kann. Das mag manche und manchen enttäuschen. Das kann ich sogar verstehen. Wir sehen gern in die Ferne, - auf den Bergen und deshalb auch zu Hause. Jesus sagt - und es liegt ihm viel an seinen Worten, wie der weitere Text zeigt -: Lauft nicht hin, wenn Leute sagen, hier oder dort ist der Menschensohn.

Die Zeit nach Jesus ist eine Zeit des Wartens. Warten ist nicht jedermanns Sache. Manche aber lieben das Warten geradezu. Ich denke zum Beispiel an die Angler. Sie sitzen am Wasser und warten. Sie stehen dafür nicht selten frühmorgens auf, und das in ihrer Freizeit, wenn sie eigentlich liegenbleiben und einmal richtig ausschlafen könnten. Sie lassen sich auch finanziell ihr Hobby einiges kosten. Dann warten sie.

Ich schaute einmal einem Angler längere Zeit zu, wie er so da saß. Später kam ich mit ihm ins Gespräch. Es war spannend, ihm zuzuhören. Nicht das Anglerlatein war spannend, obwohl es auch schon seine Reize hat zu hören, wie ein gefangener Fisch wächst, immer länger wird. Man hat schließlich fast den Eindruck, ein Wal sei gefangen worden, möglichst noch in dem kleinen Teich, den der Anglerverein gepachtet hat. Nein. Spannend fand ich, wie begeistert jener Mann von seinem Hobby, den Vorbereitungen, seiner Vorfreude sprach. Der Mann war wirklich be-geistert und konnte dadurch auch mich be-geistern.

Die Rede im Predigttext handelt vom Alltag, dem sehr alltäglichen Alltag mit seinem Essen und Trinken, und dem besonderen Alltag, wie er sich bei einer Hochzeit darstellt. Kurz: Alltag meint unser Leben. Dieser Alltag braucht auch den Blick in die Ferne. Jeder Unternehmer muß sich fragen, wie es mit der Konjunktur weitergehen wird, damit er planen kann. Kann er es sich leisten, die neue Maschine zu kaufen, oder muß er sich die Maschine leisten, um gegen die Konkurrenz bestehen zu können? Immer mehr Arbeitnehmer müssen sich heute fragen: Wie sicher ist mein Arbeitsplatz? Wie werde ich morgen leben? Arbeitslosengeld, Arbeitslosenhilfe, Sozialhilfe morgen sind weniger als mein Lohn heute. Und überhaupt, werde ich einen neuen Arbeitsplatz bekommen, wenn ich meinen jetzigen verliere? Die Zukunft ist Teil der Gegenwart. Das ist richtig. Heute zu heiraten heißt, mit der bzw. dem anderen morgen zusammenzuleben.

Anders ausgedrückt: Warten ist auch eine Form, in die Zukunft zu blicken. Der Unterschied zwischen Warten und dem Hinterherrennen hinter jeder Prognose, jedem Guru ist gravierend, entscheidend. Jener Angler macht sich wie alle Angler auf den Weg. Er nimmt seine Angelrute, die Haken und alles das andere mit, was er braucht. Er trifft die nötigen Vorbereitungen. Studenten, die ins Semester fahren, nehmen den Computer und all das andere mit, was sie brauchen. Sie wären töricht, wenn sie das nicht täten. Das gehört zu ihren Aufgaben, die sie heute erfüllen müssen, Dabei hoffen sie, eines Tages ein gutes Examen zu machen und danach einen guten, möglichst sicheren Arbeitsplatz zu finden. Heute, wenn sie sich auf den Weg machen, ist ihre konkrete Aufgabe, die Sachen einzupacken und mitzunehmen.

Darum gleicht unser Predigttext mit seiner Aufforderung, zu warten und nicht in Aktionismus zu verfallen, einer Tafel auf einem Berg mit guter Fernsicht. Dort steht auf dieser Tafel auch eine Richtungsangabe für das Kommen des Menschensohnes. Es ist ein Pfeil, der ins Tal weist. Wenn man ihm mit dem Blick folgt, sieht man dort unten den Angler sitzen, der wartet. Das mag manchen irritieren, andere schockieren. Das Reich Gottes ist entsprechend der Erwartung in Israel zur Zeit Jesu etwas Großes, Gewaltiges, etwas, das einem riesigen Berg vergleichbar ist. Dasselbe gilt für das Kommen des Menschensohnes. Man muß darum beide klar erkennen und insbesondere sich darauf einstellen können.

Einstellen soll heißen zu warten? Eine solche Antwort haben Jesu Zeitgenossen so wenig erwartet wie viele unter uns heute. Sie sind deshalb irritiert. Dazu kommt, daß Jesus auf das Alltägliche verweist. Eben auf eine Einstellung wie die eines Anglers im Tal, am Teich. Um das Alltägliche geht es der Bibel und den rechten Gebrauch des Alltags. Das Alltägliche ist wichtig, so wichtig, daß es in der Bibel immer wieder vorkommt. Der Alltag zu Noahs und - gleich doppelt - auch der zu Lots Zeit wird genannt. Auf sie verweist unser Text.

Auf den Alltag blicken wir heute wie stets im Gottesdienst, wenn wir im Vaterunser um das tägliche Brot bitten. Wir bitten um das tägliche Brot, um das für heute und nicht um das für morgen. Jener reiche Kornbauer, von dem die Bibel ebenfalls erzählt, vergißt diese Tatsache. Er schaut so sehr in die Ferne der Zukunft, daß er radikale Neubauten plant. Dabei vergißt er die Gegenwart, die kommende Nacht. Noch vor dem Bitten um das tägliche Brot steht im Vaterunser aber die Bitte um das Reich Gottes und sein Kommen. Wir beten: "Dein Reich komme." Wir beten! Wir laufen nicht einer Prognose hinterher, auch keiner von Theologen angefertigten.

Anders ausgedrückt: Berg und Tal gehören zusammen. Sie bilden gemeinsam eine Landschaft, etwa das Leinetal mit Göttingen mitten drin. Berg und Tal gehören auch zusammen im Sinne Jesu, wobei die Tafel auf dem Berg mit dem Pfeil ins Tal zeigt, wo Warten angesagt ist, wo jener Angler am Teich sitzt und wartet. Luther bringt Berg und Tal, das Kommen des Reiches Gottes und unser Warten darauf auf den Punkt, wenn er unser Bitten um das Kommen des Reiches Gottes in die Worte kleidet: "Gottes Reich kommt wohl ohne unser Gebet von ihm selbst, aber wir bitten in diesem Gebet, daß es auch zu uns komme."
Amen

Prof. Dr. Dr. Ulrich Nembach, Platz der Göttinger Sieben 2, 37073 Göttingen E-Mail: unembac@gwdg.de