Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, J. Neukirch, C. Dinkel, I. Karle



Predigreihe zu Paul Gerhardt / 2007
"Befiehl du deine Wege" (EG 361),
Eine Liedpredigt verfasst von Wolfgang Vögele


Vorbemerkung: In der folgenden Predigt gehe ich vor allem auf die ersten vier Strophen des Paul-Gerhardt-Liedes "Befiehl du deine Wege" ein. Es ist sinnvoll, diese ersten vier Strophen als Lied vor der Predigt zu singen. Genauso ist es aber möglich, die vier Strophen vor der Predigt zu verlesen. Die übrigen Strophen kann man nach der Predigt singen lassen: Sie entwickeln weiter, was in den ersten vier Strophen entfaltet wurde. Der Prediger kann die Zuhörer auch auffordern, die Gesangbücher während der Predigt aufgeschlagen zu lassen.

Befiehl du deine Wege und was dein Herze kränkt
der allertreusten Pflege des, der den Himmel lenkt.
Der Wolken, Luft und Winden gibt Wege, Lauf und Bahn,
der wird auch Wege finden, da dein Fuß gehen kann.
Dem Herren mußt du trauen, wenn dir's soll wohlergehn;
auf sein Werk mußt du schauen, wenn dein Werk soll bestehn.
Mit Sorgen und mit Grämen und mit selbsteigner Pein
läßt Gott sich gar nichts nehmen, es muß erbeten sein.
Dein ewge Treu und Gnade, o Vater, weiß und sieht,
was gut sei oder schade dem sterblichen Geblüt;
und was du dann erlesen, das treibst du, starker Held,
und bringst zum Stand und Wesen, was deinem Rat gefällt.
Weg hast du allerwegen, an Mitteln fehlt dir's nicht;
dein Tun ist lauter Segen, dein Gang ist lauter Licht;
dein Werk kann niemand hindern, dein Arbeit darf nicht ruhn,
wenn du, was deinen Kindern ersprießlich ist, willst tun.

I. Mit dem Herzen lernen
Liebe Gemeinde,
mit quietschender weißer Kreide schrieb ich in Großbuchstaben an die Tafel: P-A-U-L G-E-R-H-A-R-D-T. Und in Klammern dazu die Jahreszahlen 1607-1676. Die aufgeweckten Schüler meiner vierten Klasse schwiegen. Sie hatten den Namen noch nie gehört.
Ich fragte: Könnt ihr euch denken, warum wir über Paul Gerhardt sprechen wollen? Und es dauerte eine Weile und zwei Umwege, bis die Schüler ratend darauf kamen: Genau vor 400 Jahren ist er geboren worden.
Der Pfarrer Paul Gerhardt lebte im 17. Jahrhundert, in einer Zeit von Elend, Krieg und konfessionellen Streitigkeiten, erklärte ich den Kindern. Der Pfarrer Paul Gerhardt schrieb Gedichte, Choräle und Kirchenlieder - so schön und so berührend, daß wir sie heute noch singen, weil Menschen sich, ihr Leben und Leiden darin wieder finden. Viele dieser zu Herzen gehenden Lieder stehen in unserem Gesangbuch.
Die aufgeweckten Schüler waren noch gar nicht beeindruckt. Ein Mensch, der vor 400 Jahren gelebt hat? Das war eher langeweileverdächtig. Also warteten sie geduldig auf das, was noch kommen sollte. Und ich sagte: Wir wollen eines von den Liedern Paul Gerhardts kennen- und auswendig lernen.
Und ich schrieb mit quietschender Kreide die erste Strophe von "Befiehl du deine Wege" in Schülerschönschrift an die Tafel:
Befiehl du deine Wege und was dein Herze kränkt
der allertreusten Pflege des, der den Himmel lenkt.
Der Wolken, Luft und Winden gibt Wege, Lauf und Bahn,
der wird auch Wege finden, da dein Fuß gehen kann.
Wir lasen zusammen, was an der Tafel stand, gemeinsam und einzeln, deutlich und gründlich. Das Interesse der Kinder war langsam geweckt: Wer erteilt einen Befehl? Wer bahnt die Wege? Wer beherrscht die Winde?
Ich sang den Kindern zuerst einmal die Melodie vor. Ich sang die Melodie ein zweites Mal. Die Kinder hörten aufmerksam zu. Wir probierten es gemeinsam, Zeile für Zeile. Es klappte noch nicht besonders gut. Wir probierten es ein zweites Mal. Und es ging schon etwas besser.
Ich fragte: Wie kommt euch die Melodie vor? Wie würdet ihr sie beschreiben? Die Schüler sagten: Die Melodie ist dunkel, ein bißchen traurig. Sie ist auf jeden Fall sehr alt.
Ich fragte: Wenn ihr wählen könntet, welches Instrument würde die Melodie am besten wiedergeben? Wahrscheinlich ein Cello, sagten die Schüler. Das hat so eine tiefe, eindringliche Klangfarbe.
Liebe Gemeinde, wir wollen uns die Melodie von "Befiehl du deine Wege" einmal auf dem Cello anhören, damit uns lebendig in den Ohren klingt, was die Schüler richtig beschrieben haben.
[Cello spielt einmal die Melodie "Befiehl du deine Wege"] (1)
Liebe Gemeinde, wer ein Lied mit dem Herzen lernen will, der muß es immer wieder hören, immer wieder singen, immer wieder nachsprechen. Ich gab den Kindern die Aufgabe, die erste Strophe des Liedes von der Tafel abzuschreiben. Das Abschreiben ist der erste Schritt zum Auswendiglernen. Aber soll man auswendig lernen, was man nicht versteht? Also gab ich den Kindern einige Erklärungen.
Ich sagte zur Klasse: Am häufigsten singen die Menschen dieses Lied bei Trauergottesdiensten, wenn ein Mensch gestorben ist. Findet ihr, daß das paßt?
Ein Schüler sagte: Ja, das paßt, denn es ist so eine dunkle Melodie. Ein anderer Schüler meinte: Es ist gar nicht von Trauern die Rede. Eine dritte Schülerin meldete sich: Das Lied sagt so viel über Wege. Vielleicht ist gemeint, daß ein Weg zu Ende geht.
Ich sagte: Laßt uns gemeinsam die erste Strophe genauer anschauen. Das Lied fängt an: Befiehl du deine Wege... Wer ist da angesprochen? Die Schüler zögerten. Schließlich meldete sich ein Mädchen und riet, mit aller Vorsicht in der Stimme: Da ist Gott angesprochen. Oder? Nein, das ist nicht ganz richtig. Wer könnte angesprochen sein? Ein zweites Mädchen: Der, der redet, angesprochen. Ganz richtig, konnte ich nur bestätigen. Die, die das Lied singen, sind angesprochen. Und die, die das Lied singen, sollen ein Gespräch führen. Mit wem?
Ein Schüler: Na ja, mit Gott sollen sie ein Gespräch führen. Ganz richtig, sagte ich, mit Gott sollen sie ein Gespräch führen.
II. Hubschrauber zwischen Wolken, Luft und Winden
Der Liederdichter Paul Gerhardt nimmt die Sängerinnen und Sänger seines Liedes bei der Hand und führt sie behutsam auf einen neuen Weg. Vorsichtig führt er sie hinein in ein Gespräch mit Gott. Am besten wird das an der zweiten Strophe sichtbar:
"Dem Herren mußt du trauen, wenn dir's soll wohlergehn;
auf sein Werk mußt du schauen, wenn dein Werk soll bestehn.
Mit Sorgen und mit Grämen und mit selbsteigner Pein
läßt Gott sich gar nichts nehmen, es muß erbeten sein."
Hier wird die Kehrtwendung, auf die Gerhardt die Sänger seines Liedes einstimmen willen. Er will sie auf einen neuen Weg führen, dem die Sänger vertrauen sollen. Ich will das in einem Bild beschreiben.
Stellen Sie sich vor, Sie sehen irgendwo im Schwarzwald einen einsamen Wanderer, der merkwürdigerweise im Rückwärtsgang den Bergweg hochläuft. Und er geht nicht nur rückwärts, er hält auch den Blick beständig auf sich selbst gerichtet. Er orientiert sich nicht. Er kümmert sich nicht um die Richtung. Er nimmt nicht wahr, was um ihn herum geschieht. Er beachtet nicht die drohenden Gefahren, den steilen Abhang zu seiner LInken. Er könnte stolpern und mit einem anderen Wanderer zusammenstoßen. Und es ist zweifelhaft, ob dieser Wanderer jemals das Gipfelziel finden wird. Eher wird er irgendwann verzweifelt stehen bleiben, weil er nicht richtig vorankommt.
Dieser rückwärtslaufende Wanderer ist für Paul Gerhardt der Mensch, der sich Sorgen macht, der sich grämt, der sich peinigt. Im Unterricht sprach ich mit den Schülern lange über das Grämen. Grämen, das sind übertriebene selbstbezogene Sorgen. Grämen, das ist auch Selbstmitleid. Grämen, das ist der verengte Blick auf sich selbst, die Traurigkeit, die entsteht, wenn jemand in sich selbst und in seiner Trauer gefangen ist. Der rückwärtslaufende Wanderer nimmt die selbsteigene Pein wichtiger als alles, was um ihn herum geschieht. Und diesem komischen Wanderer sagt Paul Gerhardt: Dreh dich einfach einmal um. Gehe vorwärts, nicht rückwärts. Und: Blicke nicht nur auf dich selbst. Blicke dich um. Blicke auf dein Ziel, dorthin, wo du ankommen willst.
Probiere das einmal aus: Wenn du von dir selbst wegblickst und dich umschaust, dann siehst du viel mehr von der Landschaft. Wenn du nach vorne blickst, dann kannst du dich viel besser orientieren. Denn du siehst dein Ziel. Und wenn du nicht mehr rückwärts gehst, sondern vorwärts, dann kommst du besser und schneller voran. Du siehst die Landschaft und den Himmel und die Berge und den vor dir liegenden Weg. Und noch viel mehr: Du gehst dann nicht mehr auf deinen eigenen, sondern auf Gottes Wegen. Du gehst auf den Wegen desjenigen, der die wunderbare Landschaft und den weiten Himmel und die Berge und die steilen und die flachen Wege geschaffen hat.
Der Blick richtet sich neu aus: auf Landschaft und Himmel statt auf den Wanderer selbst. Der Gang verändert sich: vom gefährlichen Rückwärtsgang zum zielsicheren Vorwärtsgang mit festem Schritt. Und schließlich verändert sich auch das Denken: von der selbstbezogenen Grübelei zum Beten, zum Gespräch mit Gott. Befiehl du deine Wege der allertreusten Pflege des, der den Himmel lenkt.
Um nochmals auf den Schulunterricht zu kommen: Ich gab den Kindern die Aufgabe, die erste Strophe des Bildes zu malen: einen Weg zu malen, dazu eine Landschaft, dazu Wanderer, die auf dem Weg gehen, dazu Wolken, Luft und Winde. Als die Kinder die Bilder fertig gemalt hatten, schauten wir uns die verschiedenen Wegstrecken an: Breite Wege waren darunter, dann flache, steile und enge Wege. Manchmal mühte sich ein Wanderer allein an einer anstrengenden Steigung, ein anderes Mal ging eine Gruppe von Wanderern gemeinsam auf einer ebenen und breiten Straße.
Auf einem der Wege-Bilder war zwischen Wolken und Winden ein schwarzer Hubschrauber zu sehen. Das passiert regelmäßig, wenn ich die Kinder malen lasse. Ich bin froh, wenn es nur Hubschrauber sind, und keine Monster oder Raumschiffe oder irgendwelches intergalaktische Schießgerät. Mit dem Hubschrauber schwebt die moderne Zeit ins idyllische und beschauliche Bild vom Wanderer, der seines Weges geht. Und das ist auch richtig so. Menschen waren immer Wanderer, als Nomaden, die nach Weidegründen suchten, als das wandernde Gottesvolk Israel, das sich durch die Wüste ins gelobte Land quälte, als Pilger, die sich auf den Weg zu den großen Wallfahrtskirchen machten, als Flüchtlinge, die Hungersnöten und wirtschaftlichem Elend zu entkommen suchten. Das Gehen auf einem Weg ist ein Bild für das Leben selbst.
Im übrigen: Auch Paul Gerhardt wollte mit seinen Versen kein geschöntes und harmoniesüchtiges Bild malen. Gerhardt lebte in einer Zeit der Kriege, der Hungersnöte, der unzulänglichen medizinischen Versorgung, der rücksichtslosen Plündereien. Und der schwarze Hubschrauber zeigt eine Gegenwart, in der Menschen zwar eine Vielzahl technischer Hilfsmittel zur Verfügung haben, in der sie aber gleichwohl dem Leid, der Krankheit und der Trauer nicht entkommen können. Alle Technik kann nichts daran ändern, daß Menschen denselben Lebensweg von der Geburt bis zum Tod zurücklegen wie vor 400 oder 4000 Jahren.
III. Gott der Wegbereiter
Im ersten Schritt seines Liedes lädt Paul Gerhardt die Sänger und Leser seines Liedes ein, ihren Lebensweg nicht mehr im Rückwärtsgang zu gehen. Sie werden ermuntert, nicht mehr auf sich selbst und in sich selbst zu schauen. Stattdessen orientieren sie sich im Vorwärtsgang. Und sie sehen viel besser: den Weg, auf dem sie gehen, die Landschaft, in der sie sich befinden, und die anderen Wanderer, die vielleicht mit ihnen zusammen gehen. Und im Gehen und Schauen merken die Sänger und Leser: Ich sehe nicht nur die Landschaft. Ich sehe nicht nur den Weg. Ich sehen nicht nur die Wolken. Ich sehe nicht nur den Weg. Sondern in dem allen zeigt sich der barmherzige Gott, der die Welt gut geschaffen hat: Berge und Wege, Hubschrauber und Wolken, schließlich die Menschen. Und das ist kein Gott, den das Schicksal der Menschen unbeteiligt läßt. Nein, Gott begleitet alle Menschen auf ihren Wegen, so schwer diese auch sein mögen. Und Gott will keine Grübeleien, kein "Grämen", wie es in der zweiten Strophe heißt, er will, daß der Mensch Gott anspricht. Er will das Gebet. Schon darin besteht seine Barmherzigkeit, daß er dieses Gespräch mit den Menschen sucht: Der Weg will erbeten sein.
Und dieses Gebet wird erhört. Denn Gott kann schwierige, steile, hindernisreiche Wege freimachen, einebnen, aufschütten, erleichtern. Ich lese die vierte Strophe des Liedes:
"Weg hast du allerwegen, an Mitteln fehlt dir's nicht;
dein Tun ist lauter Segen, dein Gang ist lauter Licht;
dein Werk kann niemand hindern, dein Arbeit darf nicht ruhn,
wenn du, was deinen Kindern ersprießlich ist, willst tun."
Zwei Erfahrungen liegen Gerhardts Lied nach meiner Überzeugung zugrunde. Die erste Erfahrung ist die Erfahrung der Mühsal des Lebens, die immer wieder in Verzweiflung führt. Die zweite Erfahrung ist die Hoffnung auf einen Gott, der den Menschen zwar kein irdisches Leid erspart, sie aber im Letzten erlöst. Das ist die Geschichte des Jesus von Nazareth, zwischen Galiläa und der Wüste, zwischen Jericho und Jerusalem. Leiden - und doch Erlöstwerden.
Und dieser Erfahrung gehen Menschen bis heute auf ihrem Lebensweg nach. Und es gelingt Gerhardt, genau diese Gottes- und Wandererfahrungen in kräftigen und trösten Worten Sprache zu geben. Und es ist die unendliche Stärke dieser Verse, daß sie in aller Nüchternheit des Elend, die Grübelei und die Traurigkeiten von Menschen beschreiben. Und mit denselben starken Worten kann Gerhardt auch dem Trost und der Barmherzigkeit Gottes Raum geben, der dieses Elend von Menschen überwindet.
Haben das meine zehnjährigen Schüler schon verstanden? Ich bin mir nicht sicher. Vielleicht haben sie nur die Worte des Liedes auswendig gelernt. Aber sicher bin ich mir: Irgendwann werden sie anfangen, ihre eigenen Erfahrungen mit dem Sinn der Verse zu machen. Denn dieses Lied ist stark und kräftig genug, einen Menschen einen ganzen Lebensweg lang trösten zu begleiten. Amen.


PD Dr. Wolfgang Vögele
Christuskirche - Nordpfarrei
Riefstahlstr.2
76133 Karlsruhe

E-Mail: wolfgang.voegele@aktivanet.de

Bermerkung:
(1) Wer keinen Cellisten zur Verfügung hat, kann die Melodie auch mit einem tiefen Orgelregister spielen lassen.

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