Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, J. Neukirch, C. Dinkel, I. Karle

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3. Sonntag nach Epiphanias, 21. Januar 2007
Predigt zu Johannes 4, 5-14, verfaßt von Sylvia Hartmann
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Liebe Gemeinde,

„Es war, als sängen die Engel“ lautet der Titel eines Erlebnisberichtes, den ich als Jugendliche regelrecht verschlungen habe. Erzählt wird das Schicksal von drei, vier Schiffbrüchigen. Sie haben, nachdem ihr Schiff untergegangen ist, Zuflucht in einem Rettungsboot gefunden. Nun treiben sie in der endlosen Weite des Ozeans dahin. Die wenigen Nahrungsmittel, die sie haben retten können, sind bald verzehrt. Ein größeres Problem als der Hunger stellt jedoch der Durst dar. Da sind sie von endlosen Mengen von Wasser umgeben – und leiden trotzdem quälenden Durst. Salzwasser wagen sie nicht zu sich zu nehmen, um ihr Durstgefühl nicht noch zu verschlimmern. Bei einigen wenigen Schauern gelingt es ihnen, Regenwasser aufzufangen. Diese verschwindend geringen Wassermengen halten sie am Leben, bis sie nach langer Zeit von der Besatzung eines vorüberfahrenden Schiffes entdeckt und gerettet werden.

Durst. - Wann haben Sie zum letzten Mal richtigen Durst verspürt? Möglicherweise ist das lange her. Unser Land ist mit großen Mengen an Niederschlägen gesegnet. Nicht immer empfinden wir das als Segen. So wie etwa im Moment, in einem Winter, der sich bis jetzt mehr als Regenzeit erwiesen hat. Da gehen einem der dunkle Wolkenhimmel und das ewige Hantieren mit dem nassen Schirm schon mal mächtig auf die Nerven. Letzten Sommer dagegen, in dem extrem heißen Juli, hätten wir uns besser in eine Geschichte hineinversetzen können wie die von der Begegnung Jesu mit der Frau am Jakobsbrunnen, die uns heute als Predigttext vorgegeben ist. Als Blumen, Büsche und ganze Wiesen vertrockneten, bekamen wir eine Ahnung davon, was es heißt, in einem Land zu leben, in dem Wasser Mangelware ist. Da verspürten wir nach einem erschöpfenden Weg durch sengende Hitze auf einmal Durst. Ein seltenes Gefühl. Und wie gut tat es dann, ihn mit einer Flasche Mineralwasser oder einfach auch nur Wasser aus der Leitung zu stillen. Ohne extra einen Brunnen vor der Stadt aufzusuchen. Ohne das Wasser mühsam aus einem Brunnenschacht nach oben zu befördern.

Wasser – unverzichtbares Lebenselement. Mit dem Wasser fängt alles an. Bei der Schöpfung. In unserer Geschichte. Aber Jesus und die Frau am Brunnen bleiben nicht dabei stehen. Nein, wir ahnen: Auch als ihre Worte noch vom Wasser sprechen, sind die beiden gedanklich schon bei anderem Thema. Bei dem, was für uns allerdings so elementar wichtig ist wie Wasser; was den Durst unserer Seele stillen kann: Nennen wir es Sinn. Oder Wahrheit. Oder Gemeinschaft.

Man kann auf Fluten von Wasser schwimmen und trotzdem Durst leiden. Man kann von zahlreichen Sinnabgeboten umgeben sein – und trotzdem innerlich leer bleiben. Vielleicht fühlen Sie sich manchmal so – obwohl wir in einer Zeit leben, in der uns von vielen Seiten angeboten wird, unser Bedürfnis nach Sinn zu stillen. Das Christentum hat längst sein Monopolangebot auf Sinn mehr in unserem Land. Durch zugewanderte Menschen aus vielen Teilen der Erde sind inzwischen eine Vielzahl von Religionen bei uns zu Hause. Die New-Age- und Esoterikwellen vor einigen Jahren haben Spuren hinterlassen. Aber etwas auch der Wellness- und Körperkult trägt religionsähnliche Züge: „Tu etwas Gutes für Deinen Körper, und Du stehst mit Dir selber im Einklang.“ Vielleicht war es einfacher, in einer Zeit zu leben, in der die Menschen Wasser für den Durst ihrer Seele vorwiegend aus einem Brunnen schöpfen konnten. Aus dem Brunnen des christlichen Glaubens. Ich weiß es nicht, weil ich in einer anderen Zeit lebe. In einer Zeit, in der ich meine inneren Bedürfnisse an vielen Brunnen stillen kann. In der Menschen mir andere Brunnen als den mir vertrauten anpreisen. In der viele mal hier, mal da einen Schluck nehmen und trotzdem durstig bleiben.

Jesus und die samaritanische Frau leben in einer ähnlichen Zeit. Die Zeit, in der alle Menschen in Israel ihr Bedürfnis nach Sinn, Wahrheit, Halt einzig und allein am Brunnen Jakobs zu stillen suchten, ist ferne Vergangenheit. Die Zeit, als die Religion der Väter, der Glaube Abrahams, Isaaks und Jakobs, Moses und Davids die wesentliche Sinnquelle darstellte.

Immer wieder in ihrer Geschichte mussten sich die Israeliten mit anderen Sinnangeboten auseinandersetzen. Eine solche Auseinandersetzung vor ca. 600 Jahren hat ihre Spuren bis in die Zeit Jesu hinterlassen. Da eroberten die Babylonier Israel, deportierten einen Teil der einheimischen Bevölkerung, siedelten aber auch Fremde in Israel an. Hier wie dort wurden die Israeliten mit Menschen konfrontiert, die sich aus anderen Sinnquellen speisten. Samaritanerinnen wie die Frau am Brunnen sind Nachfahren derjenigen, die damals den Weg der Vermischung und Anpassung wählten. Indem sie Jesus als Juden anspricht, stellt sie ihn in die Tradition derjenigen, die ihren Durst weiterhin allein an der Glaubensquelle der Väter zu löschen suchen. Und so wie in trockenen Ländern reale Wasserquellen heiß umkämpft sind, so sind es bis heute die Quellen des Glaubens. Menschen gehen sich im Kampf um das, was sie für den Brunnen des Sinns und der Wahrheit halten voller Verachtung aus dem Weg, wie damals Samaritaner und Juden, oder bekämpfen sich sogar bis aufs Blut.

Es ist verwirrend herauszufinden, wo man seinen Durst am besten löscht, wenn man von vielen Brunnen umgeben ist. Auch die Suche nach der richtigen Sinnquelle ist bei einem reichen Angebot nicht einfach. Die Frau in unserer Geschichte geht auf ihre eigene Art mit dieser Mühsal um. Sinn, Nähe, das Gefühl, im tiefsten angesprochen und gemeint zu sein – all das ähnelt ja dem, was wir auch in gelingenden Beziehungen zu anderen Menschen erfahren. So sucht sie, ihr Bedürfnis nach Wertschätzung und Gemeinschaft in der Beziehung zu Männern zu stillen. Aber es ergeht ihr dabei wie einer, die ihren körperlichen Durst durch Salzwasser zu stillen sucht: Der Durst wird immer größer. Sie lässt sich von Beziehung zu Beziehung, von Mann zu Mann treiben – und bleibt doch innerlich leer. Sie erfährt keine wirkliche Nähe. „Fünf Männer hast Du gehabt, und der, den du jetzt hast, ist nicht dein Mann,“ sagt Jesus ihr in der Fortsetzung des Wortwechsels in unserem Predigttext auf den Kopf zu.

Viele von uns leben in leben in weniger bewegten, bürgerlichen Verhältnissen – und doch kann uns Ähnliches geschehen. Ich denke noch einmal an das erst wenige Wochen zurückliegende Weihnachtsfest zurück. Dieses Fest des Glaubens ist von vielen zu einem Familienfest umgedeutet worden. Die perfekte familiäre Harmonie wurde erwartet – und endete nicht selten in Streitigkeiten und Enttäuschung. Statt aus dem Brunnen des Glaubens haben viele versucht, Wasser für den Durst ihrer Seele aus dem Brunnen der Familie zu schöpfen – und sind unbefriedigt geblieben. Das Familienleben gibt das nicht her. Nicht, weil wir beziehungsunfähiger wären als Menschen anderer Zeiten. Sondern weil wir Wasser aus dem falschen Brunnen schöpfen.

Jesus sagt der Frau am Brunnen die Wahrheit über ihre Beziehungen auf den Kopf zu – aber das hält ihn nicht davon ab, mit ihr zu reden. Sie ist eine Frau, eine Samaritanerin, noch dazu ein Mensch mit fragwürdigem Lebenswandel – für manchen Zeitgenossen wären dies schon drei Gründe, den Umgang mit ihr zu meiden. Jesus aber sucht das Gespräch mit ihr und setzt sich mit dem, was dabei zutage tritt, auseinander. Für ihn ist sie eine ernstzunehmende Gesprächspartnerin. Achtung, Interesse, Wahrheit – all dies erlebt die Frau am Brunnen in der Begegnung mit Jesus – und es tut ihr so gut wie ein Schluck Wasser in der Wüste, wie eine Handvoll Regenwasser nach langem Treiben auf einem trügerischen Meer voller Salzwasser. Eine Handvoll Interesse, Zuwendung, Wahrheit nur – doch zum ersten Mal scheint der Durst nachzulassen. Eine Vermutung wird in ihr wach: Derjenige, mit dem ich hier rede, ist menschlicher als viele Männer und Frauen, die ich kenne – und doch wohl mehr als ein Mensch. Ob er der Messias Gottes ist?

Ich bin angenommen. Ich bin ernst genommen. Ich darf meine Schattenseiten offen legen, ohne dafür verurteilt zu werden – wer dies erlebt, dessen tiefes inneres Sehnen wird gestillt. In der Begegnung mit Jesus ist diese Erfahrung möglich. Ja, wer sich auf das Gespräch, den Kontakt mit ihm einlässt, der entdeckt bald, auf welch tiefen Brunnen er hier gestoßen ist. Hier können wir mehr schöpfen als das etwas trügerische oder abgestandene Wasser manch menschlicher Kontakt- und Beziehungsversuche: das lebendige Wasser der Zuwendung Gottes, das Durst nachhaltig stillt.

Jesus verspricht sogar noch mehr: Er spricht von „Wasser, das in uns eine Quelle des Wassers werden wird, das in das ewige Leben quillt“. In der Begegnung mit Jesus und in seiner Nachfolge werden wir zu Menschen, die nicht mehr jeden Tropfen an Aufmerksamkeit in ihrer Umgebung aufsaugen müssen wie Löschpapier, das Feuchtigkeit aufsaugt. Wir werden zu Menschen, die so etwas wie eine Quelle in sich haben. Von denen etwas ausgeht, die sich verströmen können, ohne leer zu werden.

Wie das aussieht? Ich stelle mir das so vor: In der Nachfolge Jesu wird es möglich, Familien- und Freundesbande zu pflegen und sich daran zu freuen, ohne dass Krisen und Streitereien eine Katastrophe darstellen. Der Partner ist ein wichtiger Mensch für mich – aber er stellt nicht den Sinn meines Lebens dar. Meinen Durst nach Sinn und Anerkennung stille ich an anderer Stelle. Deshalb kann ich meinem Partner Freiräume zugestehen und Differenzen zwischen uns aushalten. Auch ein Kind ist nicht die Erfüllung meines Lebens – deshalb kann ich es seinen eigenen Weg suchen und finden lassen. Ich glaube, dass Beziehungen auf dieser Grundlage nicht an Stabilität und Haltbarkeit verlieren, sondern gewinnen. Denn so etwas wie ein gegenseitiges „Sich Verbrauchen“ ist nicht mehr nötig.

Sicheres Wissen um den Brunnen, der für mich durstlöschendes Wasser bereithält, könnte aber auch die Brunnenkämpfe dieser Welt entschärfen. Denn solches Wissen gibt mir Selbstbewusstsein in der Auseinandersetzung mit Menschen, die andere Brunnen anpreisen. Ich brauche mein Wissen auch nicht eifersüchtig zu hüten, denn da ist genug Wasser, um den Durst vieler Menschen zu löschen. Ja, ich kann weite Wege zum anderen zurücklegen, weil ich so etwas wie eine innere Quelle in mir trage.

Für jene Schiffsbrüchigen, von denen ich eingangs erzählte, verbindet sich ihr körperliches Durstgefühlt im Laufe der Zeit mit den Bedürfnissen ihrer Seele. So wird ihre Rettung zu einer Glaubenserfahrung. Auch die samaritanische Frau geht vor die Tore der Stadt, um Wasser zu schöpfen, und entdeckt dabei Brunnen, an dem sie den Durst ihrer Seele löschen kann; Wasser, das Kraft gibt, dem Leben eine neue Richtung zu verleihen. „Über einen Sünder, der Buße tut, wird Freude sein vor den Engeln Gottes“, sagt Jesus einmal. Einen Schluck Wassers zu uns zu nehmen, das den Durst unserer Seele löscht – so einfach ist der erste Schiritt auf dem Weg der Buße. Wer weiß? Vielleicht freuen sich dann auch um unsretwillen die Engel. Amen.

Sylvia Hartmann
syl.hartmann@web.de


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