Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, J. Neukirch, C. Dinkel, I. Karle

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Altjahresabend (Silvester), 31. Dezember 2006
Predigt zu Johannes 8, 31-36, verfaßt von Wolfgang Vögele
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


„Da sprach nun Jesus zu den Juden, die an ihn glaubten: Wenn ihr bleiben werdet an meinem Wort, so seid ihr wahrhaftig meine Jünger und werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen. Da antworteten sie ihm: Wir sind Abrahams Kinder und sind niemals jemandes Knecht gewesen. Wie sprichst du dann: Ihr sollt frei werden? Jesus antwortete ihnen und sprach: Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wer Sünde tut, ist der Sünde Knecht. Der Knecht bleibt nicht ewig im Haus; der Sohn bleibt ewig. Wenn euch nun der Sohn frei macht, so seid ihr wirklich frei. Ich weiß wohl, daß ihr Abrahams Kinder seid; aber ihr sucht mich zu töten, denn mein Wort hat bei euch keinen Raum. Ich rede, was ich von meinem Vater gesehen habe; und ihr tut, was ihr von eurem Vater gehört habt.“

1. Melancholie der Unterbrechung

Liebe Gemeinde, zwischen den Jahren, vom zweiten Weihnachtsfeiertag bis Neujahr brechen bei vielen Menschen vorübergehend die täglichen Gewohnheiten ab. Mit einer Vollbremsung stoppen sie den eingespielten Trott des Normalen. Und plötzlich laufen die Tage leer, die sonst ungefragt mit vielen zur Routine gewordenen Aufgaben gefüllt sind.

Und der Mensch, das Gewohnheitstier seiner Alltage (1) , erkennt plötzlich: Ich kann mich ohne weiteres aus dem Korsett des Alltags herauswinden. Wie viel Zeit habe ich plötzlich, wenn ich die Stunden nicht mehr meinen lieb und selbstverständlich gewordenen Gewohnheiten und Aufgaben opfere? Und es befällt den, der nachdenkt, ein merkwürdiges Gefühl, das er ebenso für Erschrockensein wie für Staunen halten kann. Der gefüllte Tagesablauf leert sich ganz plötzlich: Selbstverständlichkeiten fallen in sich zusammen. Liebgewordene Rollen und Masken, hinter denen sich die Person trefflich verstecken konnte, werden ohne Not abgelegt. Ohne Masken und Rollen, ohne Selbstverständlichkeiten und Gewohnheiten, das ist ähnlich wie Nacktheit: Man fühlt sich am Jahresende plötzlich der Geländer beraubt, die im täglichen Trott geholfen haben. Das versetzt einen Menschen schnell in eine gewisse Melancholie, und manchmal fängt er dann an, Fragen nach dem Sinn des Alltags zu stellen. Er denkt darüber nach, was er mit seinen Geländern, Masken und Rollen verloren hat. Er sucht den Weg zurück in den Alltag.

2. Hagelschlag der großen Worte

Und er sucht Hilfe bei den Weisheitslehrern und Ratgebern. Finden er kann sie sicher im Johannesevangelium. Die Wahrheit wird euch frei machen, sagt der Weisheitslehrer aus Nazareth. Wahrheit (2) ist ein großes Wort: Es wiegt schwer und es kann leicht mißbraucht werden.

Große Wörter stürzen am Jahresende oft wie Hagelschlag auf die Menschen ein, aus den papierenen Silvester-Ausgaben der Tageszeitungen, aus den geschwätzigen Fernseh-Talkshows (Jahresrückblick!), aus den salbungsvollen Politikeransprachen. Das virtuose Jonglieren mit den großen Wörtern, die symbolische Politik, viel zu reden und wenig zu tun: die Politiker beherrschen das sehr gut, die Journalisten beherrschen das sehr gut, und manche Bischöfe beherrschen das auch sehr gut. Allerdings gilt für diese großen Worte: viel Ballaststoffe, wenig Nährwert.

Und kein Leser, kein Zuschauer, kein Zuhörer kann sich gegen diesen Hagelschlag aus großen Wörtern wehren. Sie reden alle von der Freiheit. Sie reden alle von der Gerechtigkeit. Sie reden alle von der Verantwortung. Sie reden alle von der Solidarität. Und jeden Leser, jeden Zuhörer und jeden Betrachter, der vom Hagelschlag der großen Worte getroffen wird, bringt sich davor in Sicherheit, wenn er das Gefühl hat, daß ihn nur leere Worthülsen treffen, die keine nährende, erhellende Substanz enthalten.

Wenn sich nach Weihnachten ein neues Jahr ankündigt, dann hat der Hagelschlag aus großen Worten seine Hochsaison. Da biedern sich einige an, die ausnutzen wollen, daß die Menschen ihre zweifelnden Fragen stellen, wenn sie zwischen Weihnachten und Neujahr aus ihren täglichen Selbstverständlichkeiten herausfallen.

3. Wanderung der Wahrheit

Mir ist eine Geschichte wichtig geworden, die ich vor über zwanzig Jahren zum ersten Mal gehört habe. Ein alter, lebenssatter Theologieprofessor erzählte am Ende seines Vortrags eine rabbinische Geschichte.

„Kommt ein Schüler zu einem Rabbi. Er fragt den Lehrer: Rabbi, was ist Wahrheit? Und der Rabbi denkt lange nach. Und schließlich sagt er: Geh weiter.“

Diese rabbinische Geschichte enthält eine Reihe von überraschenden Parallelen zur Geschichte des Lehrers Jesus aus dem Johannesevangelium. Zweimal wird von einem Gespräch erzählt. Zweimal antwortet ein Lehrer auf drängende, grundsätzliche Fragen. Zweimal reden Angehörige des jüdischen Volkes miteinander. Zweimal scheinen die Gesprächspartner nicht die Antworten zu hören, die sie hören wollten. Zweimal geht es um die Wahrheitsfrage.

Liebe Schwestern und Brüder, ich möchte mich gerne einmischen in diese Gespräche und auch meine Wahrheitsfragen stellen. Einfache Schülerfragen sind das. Wer nach der großen, das Leben bestimmenden Wahrheit fragt, bleibt zeit seines Lebens ein Lernender.

Das große Wort von der Wahrheit wird an den 365 Alltagen eines Jahres in sehr kleiner Münze ausgezahlt. Silvester ist ein Tag des Innehaltens, an denen man die kleinen Münzen der Wahrheit, die sich über das Jahr angesammelt haben, einmal nachzählen kann. So klein können die Münzen sein, daß jemand die Wahrheit in den täglichen Routinen, vom Aufstehen über das Arbeiten bis zur Abendschau ganz übersieht.

Wo also verbergen sich im Leben eines Jahres und eines Tages die wertvollen Münzen der Wahrheit?

Ich skizziere vier Menschentypen, die Antworten geben. Nennen wir sie den Faktensucher, den Gefühlstrinker, den Wahrheitswanderer und den Glaubenden.

4. Kult der Wirklichkeit

Für den Faktensucher ist die Welt um ihn herum wichtiger als sein Kopf, als sein Denken. Der Faktensucher sagt sich: Die Wahrheit liegt nicht mir in mir selbst, sondern in der Wirklichkeit verborgen. Die Wahrheit ist mir in der Wirklichkeit vorgegeben, die ich erlebe. Die Frage: Was ist Wahrheit? beantwortet der Faktensucher so: Wahrheit liegt für mich in dem, was ich erlebe, in den Fakten. Nüchtern und pragmatisch bemühe ich mich, die Wirklichkeit so wahrzunehmen wie sie ist, auch wenn sie brutal, unangenehm und kaum zu ertragen ist. Was ich nüchtern wahrnehme, das akzeptiere ich auch so. Mir sind die rosaroten Brillen zuwider, mit denen andere sich Wirklichkeiten schön reden. Aber solche Menschen scheitern dann auch oft an ihren Illusionen.

Ich sehe die Wirklichkeit wie sie ist. Ich sehe sie nicht so, wie ich sie gerne hätte. Ich verschließe die Augen nicht vor dem, was mich erschrickt und mir Angst macht. Ich gehe nüchtern und pragmatisch damit um. Ich halte auch meine Gefühle im Zaum. Ich nehme alles wahr, was das letzte Jahr diesem Land und mir selbst gebracht hat. Wenig Gutes war dabei, und vieles, was gute Politik verzögert hat. Ihm fällt der lange Streit um die Gesundheitsreform ein, aber er stört sich nicht daran, daß kein besseres Ergebnis zustande kam. Mehr war eben nicht möglich.

Der Faktensucher kommt gut in der Welt zurecht, aber gleichzeitig macht er sich auch zum Sklaven dieser Wirklichkeit: Er steht in der Gefahr, viel zu willfährig zu akzeptieren, wo er auch gestalten könnte. Der Faktensucher überschätzt die Macht der Wirklichkeit.

5. Kult der Gefühle

Der enthusiastischen Gefühlstrinker ist das genaue Gegenteil des nüchternen Faktensuchers. Die Wirklichkeit, das, was er um sich herum erlebt, ist dem Gefühlstrinker leidlich gleichgültig. Ihm ist die Hauptsache, daß er sich gut fühlt. Er sucht die Ekstase, den Rausch, die gute Stimmung, den Enthusiasmus, und darüber kann er alles andere um sich herum vergessen. Wer ihn fragt: Was ist Wahrheit?, der erhält eine klare Antwort: Für mich als Gefühlstrinker liegt die Wahrheit in der Schönheit. Wahrheit, das ist mein eigenes Hochgefühl, die überschwängliche Stimmung. Aber wo der Faktensucher die Wirklichkeit überschätzt, da unterschätzt sie der Gefühlstrinker. Seine Stimmung, seine Gefühle und Gedanken stellt er über alles. Und damit unterschätzt er alles, was um ihn herum geschieht. Nicht daß er diese Wirklichkeit ignorieren würde, aber er nimmt nur das aus dieser Wirklichkeit wahr, was seiner guten Stimmung dient. Alles andere blendet er großzügig aus. Er macht die Wirklichkeit zur Dienerin seines Hochgefühls. Seine Wahrheit scheitert, weil er diese Wahrheit ganz allein leben will. Denn die Wirklichkeit dient nicht nur unseren Hochgefühlen.

6. Weiter gehen

Der Wahrheitswanderer schließlich zeichnet sich dadurch aus, daß er immer gehend in Bewegung bleibt. Er ist der Schüler, der aus der Wahrheitsgeschichte des Rabbi gelernt hat. Er geht weiter. Er versklavt sich in keine von beiden Richtungen: Er muß nicht immer guter oder gar überschwänglicher Stimmung sein, und er weiß als Wanderer, daß nach einer steilen Strecke auch wieder ein flaches Stück kommt. Was ihn vor allem anderen auszeichnet, sind Geduld und Gelassenheit und ein Stück respektierter, angenommener Unvollkommenheit. Er muß nicht auf jede Frage eine bis ins letzte befriedigende Antwort haben. Die Frage: Was ist Wahrheit? kann er offen lassen. Für ihn ist der Weg das Ziel; er will in Bewegung bleiben, so lange weiter gehen, bis sich ihm diese letzte Frage von selbst beantwortet.

7. Wahrheit des Glaubens

Der letzte Wahrheitssucher, der Glaubende schließlich, weiß sich mit dem Wahrheitswanderer verwandt. Auf einer längeren und mühsamen Wegstrecke hat er gelernt, daß er die wichtigen Fragen seines Lebens nicht mit der einfachen Vernunft des Berechnens beantworten kann. Und er verkauft sich nicht an die Wirklichkeit, denn das ist ihm zu zynisch. Und er verkauft sich nicht an seine Gefühle, denn er weiß, wie schnell Enthusiasmus auch wieder verfliegen kann. Genauso weiß er, wie hartnäckig Traurigkeit sich im Kopf einnisten kann. Aber er kann geduldig weiter gehen, bis sie wieder verfliegt.

Auch der Glaubende stellt die Wahrheitsfrage. Aber die Wahrheit ist nicht die Wirklichkeit, vor der kapituliert. Und die Wahrheit ist nicht sein Gefühl, das er profiliert und aufpäppelt. Die Wahrheit ist auch nicht der Weg, auf dem er immer weiter geht, ohne nach dem Ziel zu fragen.

Die Wahrheit ist für ihn eine Begegnung. Der Glaubende weiß: Ich werde dem begegnen, der Gott und Mensch zugleich ist. Wie der Wahrheitswanderer ist der Glaubende einer, der sich auf einem langen Lebensweg befindet. Aber er unterscheidet sich vom Wahrheitswanderer darin, daß er einen Begleiter hat.

Für den Evangelisten Johannes ist Jesus Christus der Begleiter, der lebendige Sohn Gottes. Die Wahrheit ist kein Lehrsatz. Die Wahrheit ist kein Gefühl. Die Wahrheit ist ein Gegenüber, ein Mensch und ein Gott zugleich, ein lebendiger Begleiter, der, zu dem der Glaubende betet. Wer ihm glaubt, der hält die eigenen Gefühle nicht mehr für das Wichtigste. Wer ihm glaubt, der nimmt die Wirklichkeit nicht mehr so völlig ernst, daß sie zur alles bestimmenden Macht wird. Wer ihm glaubt, der erkennt den Egoismus der eigenen, kleinen Interessen, das, was die Bibel Sünde nennt. Der Glaubende jedoch scheitert nicht an dieser Sünde, sondern er weiß, daß sie sein Wegbegleiter auf sich genommen hat. Der Glaubende weiß: Ich bin schon gerettet, obwohl ich mich noch auf der mühsamen Wanderung des Lebens befinde.

Der Glaubende erlebt auf seinem Lebensweg dieselbe Mühsal und dasselbe Elend wie alle anderen, die sich auf der Suche nach Wahrheit befinden und nicht glauben. Der Jahresweg des Glaubenden verändert sich nicht.

Wohl aber verändert sich die Perspektive, aus der der Glaubende diesen Jahresweg wahrnimmt. Das Ich, die Gefühle oder die Wirklichkeit sind nicht mehr die Mauern, die ein Leben eingrenzen und die Sicht versperren. Die Mauern werden dem Glaubenden plötzlich durchsichtig, sie werden durchsichtig auf Gott hin.

Und in diesem Durchsichtigwerden liegt die ganze Wahrheit Gottes. Die Wahrheit wird euch frei machen. Das ist die Freiheit, die Jesus Christus uns verspricht: Weder die Wirklichkeit noch unsere Gefühle, weder das Ich noch die Sünden beherrschen uns vollständig. Im Lichte des befreienden Christus wird das alles ein wenig leichter, ein wenig durchsichtiger, ein wenig erträglicher.

8. Meditation der Freiheit

Ich schaue auf die Wirklichkeit, auf das, was ich täglich erlebe. Und ich entdecke nicht mehr nur die Langeweile, das Elend, die Armut. Sondern ich sehe den Gott Jesu Christi, der von der Schöpfung bis zur Erlösung diese Welt segnend und heilend empfängt. Dieser Gott Jesu Christi läßt, bei all seinem Zorn, den wir auch spüren, unsere Lebenswege nicht los. Er begleitet uns.

Ich spüre, was mich täglich an Gefühlen überfällt und überrascht, meinen Ärger, meine Liebe, meine Fürsorge, meine Zweifel. Und ich sehe die Menschen, über die mich ärgere, Ich sehe die Menschen, die ich liebe. Ich sehe die Menschen, für die ich sorge. Ich sehe die Menschen, an denen ich zweifle. Und ich entdecke in den Gesichtern all dieser Menschen auch das Gesicht Jesu Christi. Welchem Menschen auch immer ich begegne, Jesus Christus war schon bei ihm und hat auch ihn gerettet.

Ich schaue auf den Weg, den ich täglich gehe. Ich spüre die Kraft und die Mühe, die mir der Weg macht. Ich sehe schon weit voraus, wenn es mir zu steil wird. Und dennoch weiß ich, daß diese Weg, mein eigener Weg, nur ein kleiner Teil des einen großen Weges ist. Dieser Weg führt allein zu dem Ziel, nach dem wir uns sehnen. Wir gehen dem lebendigen Christus entgegen. Wir gehen ihm entgegen, weil er uns längst entgegengekommen ist.

Die Wahrheit ist kein Lehrsatz.
Die Wahrheit liegt nicht in der Wirklichkeit verborgen.
Die Wahrheit ist auch kein enthusiastisches Gefühl.
Die Wahrheit ist auch kein Weg ohne Ziel.

Vielmehr ist die Wahrheit eine Begegnung. Sie ist Begegnung mit dem Jesus Christus, der uns in aller Freiheit auf dem Weg zu Gott begleitet. Auf diesem Weg, im alten und im neuen Jahr, erwartet uns der segnende, der rettende, der heilende Gott. Amen.

(1) Zum Projekt einer evangelischen Alltagsethik vgl. Wolfgang Vögele, Weltgestaltung und Gewissheit, Münster 2007.

(2) Das schönste, lesenswerteste (und kürzeste) Buch über Wahrheit seit neuestem: George Steiner, Warum Denken traurig macht, Frankfurt/M. 2006.

PD Dr. Wolfgang Vögele
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