Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, J. Neukirch, C. Dinkel, I. Karle

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Heiliges Christfest II, 26. Dezember 2006
Predigt zu Jesaja 11, 1-9, verfaßt von Jürgen Ziemer
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Liebe Gemeinde!
Eigentlich ist zu Weihnachten doch wohl alles gesagt!
Die Worte aus dem Jesajabuch erinnern noch einmal an den Heiligen Abend: an die Verheißung des messianischen Kindes aus dem Stamm Isai und an das uns immer wieder bezaubernde Lied „Es ist ein Ros entsprungen, aus einer Wurzel zart.“ So ist es uns vertraut, so hat es sich mit der Geburt Jesu erfüllt.
Aber - so fängt es auch an! Es ist nämlich längst nicht alles gesagt, was Weihnachten für uns zu bieten hat. Heute ist es an der Zeit, den Blick in die Zukunft zu richten. Zu Weihnachten wird nicht nur erzählt, was sich „zu der Zeit des Kaisers Augustus“ begab, sondern es wird auch verkündigt, was noch kommt und worauf wir uns „nach Christi Geburt“ ausrichten können.
Weihnachten – das ist in der prophetischen Perspektive unseres Textes ein Fest der Hoffnung. Da strahlt etwas auf, was unsere Erde heimatlich werden lässt: neue Herrschaft, neue Regeln für ein Leben im Frieden, das diesen Namen auch wirklich verdient. So wird es verheißen.

Ein Kind wird zu einem Herrscher werden, auf dem „der Geist Gottes“ ruht, der „Geist der Weisheit und des Verstandes, der Geist des Rates und der Stärke, der Geist der Erkenntnis und der Furcht des Herrn“.
Herrschaft des Geistes, das wäre wirklich etwas Neues! Es klingt utopisch. Und es ist utopisch! Utopien sind der erste Akt bei der Veränderung der Welt und ihrer Vermenschlichung. Sie öffnen einen Spalt der Tür in das Reich der Möglichen. Die Weihnachtstexte der Bibel zeigen uns, was noch werden kann und werden soll.
Herrschaft des Geistes – das wäre eine Herrschaft, die einzig humanen Zielen folgt und sich an den Verhältnissen orientiert, wie sie wirklich sind. Das wäre eine Herrschaft, deren Entscheidungen transparent sind und einer Logik der Sache folgen. Herrschaft des Geistes – das wäre eine Herrschaft, die Gott kennt und ehrt und seinen Namen nicht missbraucht für eine Politik die sich mit frommen Begriffen schmückt, aber durchsichtigen Interessen dient.

Herrschaft des Geistes? Wie weit ist, was wir erleben und oft selber tun, davon entfernt. Wie schnell handeln wir, auch in unseren kleinen Verantwortungsbereichen bis in die Familie hinein, weniger „aus dem Geist“, als aus Berechnung heraus – also gemäß dem was uns nützt, was uns bestätigt, was kleine Erfolge garantiert, was Quote bringt, Macht erhält, Gewinn maximiert. Herrschaft des Geistes, das ist ein alter Menschheitstraum, der hier im Alten Testament eine so eindrucksvolle Ausprägung erfahren hat. Wir dürfen ihn nicht aufgeben, sonst wäre Weihnachten wirklich umsonst gewesen.
Viele Debatten des letzten Jahres bis hin zu den komplizierten Verhandlungen in den Krisenregionen der Erde zeigen, wie unerfüllt dieser Traum noch ist. Aber wir dürfen nicht resignieren. Herrschaft des Geistes – das ist nichts Irreales. Das ist unter Umständen schon die Bereitschaft, wenigstens für einen Moment, „Weisheit“ und „Stärke“ zu zeigen, die eigenen Interessen zurückzustellen, um z.B. einen Kompromiss zu finden, der zum Leben hilft. Für mich war es ein Zeichen von Herrschaft des Geistes, als in Oslo der Friedennobelpreis an einen Banker aus Bangladesh verliehen wurde, der entgegen den sonst üblichen Regeln ökonomischer Vernunft Kleinkredite an mittellose Frauen vergeben hat. So konnten diese sich eine eigene Existenz aufbauen. Herrschaft des Geistes beginnt, wo Vernunft und Liebe zusammengehen. Und manchmal zeigt sie sich dort, wo wir es nicht erwartet hätten!

Herrschaft des Geistes zeigt sich vor allem im gerechten Handeln. Bei diesem Stichwort wird der Prophet ganz ausführlich. „Gerechtigkeit“ ist Wesenszug Gottes und darum auch Markenzeichen des kommenden Herrschers. Es geht nicht um abstrakte Rechtsnormen, sondern um eine Grundausrichtung, und das heißt vor allem um Gerechtigkeit zugunsten der „Armen“ und der „Elenden“. Auch in unserer weithin entkirchlichten Gesellschaft scheint durchaus ein Empfinden dafür vorhanden zu sein, dass Weihnachten mit den verschiedenen Spielarten sozialen Unrechts nicht zusammenpasst. Verstärkt werden die Fürsorgemaßnahmen für Obdachlose und Asylsuchende, für psychisch Kranke und politisch Verfolgte, für Aidsopfer und Straßenkinder. Spendenbitten erreichen uns jetzt häufiger als zu irgendeiner anderen Zeit des Jahres. Weihnachten lässt die Ungerechtigkeiten deutlicher als sonst im Licht erscheinen. Dabei fallen die offensichtlichen Benachteiligungen eher auf als die verborgenen. Wer findet schon etwas dabei, dass bei einem Hartz IV-Empfänger alle sonst üblichen Diskretionsregeln bezüglich seiner Vermögensverhältnisse außer Kraft gesetzt werden, während der Millionär auf der Wahrung seiner Persönlichkeitsrechte bestehen darf, selbst wenn es Zweifel an seiner Steuerehrlichkeit gibt. Wer schreit auf, wenn die Zensuren der Schulabgänger gegeneinander abgewogen werden, ohne die oft sehr unterschiedlichen Startvoraussetzungen aus ihren Familien mit einzubeziehen, obwohl die Zusammenhänge längst kein Geheimnis mehr darstellen?
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Das Problem ist ja meistens gar nicht nur das Unrecht in seiner nach außen erkennbaren Form, sondern der damit verbundene tiefer liegende Seelenschaden. Wer Unrecht leidet, geht oft stillschweigend davon aus, dass er auch unrecht ist. Das Gefühl der eigenen Wertlosigkeit sitzt bei vielen Armen, Benachteiligten, Gescheiterten tief. Bei manchen führt es dazu, sich aus der bürgerlichen Welt mit ihren Regeln und Normen einfach abzumelden, bewusst oder unbewusst. Wir kennen die Folgen.
Das „Tun des Gerechten“, das Bonhoeffer als Kerntugend des Christseins bezeichnet, ist mehr als eine Spende von Geld: nämlich Ausdruck der Wertschätzung eines Menschen, die Anerkennung seiner Ebenbürtigkeit. Weihnachten geht ein starker Impuls aus, so Unrecht zu wenden: „Die ihr arm sein und elende, kommt herbei, füllet frei eures Glaubens Hände.“ Im Stall von Bethlehem versammelte sich das Volk aus der Unterschicht; die hohen Herren aus Morgenland mussten sich tief herab beugen, und sie haben es getan. Nur so konnten sie Gott nahe kommen, der sich zuerst herabgebeugt hat zu uns, zur Welt, zu den Armen – als Kind in einer Krippe. So wurde Weihnachten zum Anfang einer neuen Herrschaft der Gerechtigkeit, und zur Hoffnung für viele, weit über das Fest hinaus.

Herrschaft des Geistes, Recht für die Armen – und nun kommt noch eine andere Prophetie zum Fest der Hoffnung ins Gespräch: das Ende der Furcht. „Fürchtet euch nicht“ hatten die himmlischen Heerscharen gesungen. Die wunderbaren Bilder des Jesaja geben dem Gesang Farbe: „Wölfe werden bei den Lämmern wohnen“ und „ein Säugling wird spielen am Loch der Otter“. Das wehrloseste neben dem gefährlichsten! Welch ein Bild! Das ist der Gipfelpunkt weihnachtlicher Erwartungen: das Ende der Furcht.
Ist das eine auch nur andeutungsweise realistische Perspektive? Man weiß wohl, dass viele Tierfurcht unbegründet ist, wenn auch nicht jede - aber es geht ja nicht um Tierpsychologie. Die Bilder dieses Textes sind eine Provokation im positiven Sinne, Bilder eines alles umfassenden Gottesfriedens. Es sind Weihnachtsbilder, die das Geschehen der heiligen Nacht auf die ganze Schöpfung ausdehnen. Sie inspirieren auch uns dazu, die Grenzen des Möglichen hinauszuschieben, und dort Vertrauen zu lernen, wo normalerweise nur die Angst regiert. Wie steht es mit den „Wölfen“ und den „Ottern“ in unserer eigenen Umgebung? Wo trauen wir uns nicht mehr hin, und welche Wege vermeiden wir aus purer Angst? Was hindert uns zu leben? Wie bedrohlich sind die, die anders sind als wir wirklich?
Und wie steht es mit meiner „Wolfsnatur“ oder meiner Neigung, Gift zu verspritzen wie eine „Natter“? Oft haben wir mit beidem zu schaffen, unserer „Furcht“ und unserem „Gift“. Beides verstellt uns die Lebensmöglichkeiten.
Es wäre wunderbar, wenn die weihnachtliche Verheißung bei uns zugleich einen Prozess der „Entgiftung“ und „Entängstigung“ in Gang brächte, wenn wir begännen, Unmögliches zu wagen und unserer allzu raschen Gefahrenwitterung zu misstrauen. Das gelingt nur, wenn wir die Verheißung des Textes für uns persönlich gelten lassen – als Kraft eines Friedens, der uns gilt und in uns wirkt. Dann wird sich auch für uns das Land der Verheißung öffnen. Dann wird das Kind in der Krippe gesiegt haben – als der „Friedenskönig“ einer neuen Zeit.

Wann wird das sein?
Wann wird dieses Weihnachten in uns und mit uns anfangen?
„Wenn der Schwache
dem Starken die Schwäche vergibt,
wenn der Starke
die Kräfte des Schwachen liebt,
wenn der Habewas
mit dem Habenichts teilt,
wenn der Laute
bei dem Stummen verweilt
und begreift,
was der Stumme sagen will,
wenn das Leise
laut wird
und das Laute
still,
wenn das Bedeutungsvolle
bedeutungslos,
das scheinbar Unwichtige
wichtig und groß,
wenn mitten im Dunkel
ein winziges Licht
Geborgenheit,
helles Leben verspricht,
und du zögerst nicht,
sondern du
gehst,
sowie du bist,
darauf zu,
dann,
ja, dann
fängt Weihnachten an.“
(Rolf Krenzer, aus: Weihnachtsgedichte, Stuttgart 2006, 21f))

Mitnichten alles schon gesagt. Weihnachten fängt gerade erst an. Lassen wir es geschehen. Amen

Lieder: EG 30. 36

Prof. Dr. Jürgen Ziemer
Bernhard-Göring-Str. 14
04107 Leipzig
ziemer@uni-leipzig.de




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