Göttinger Predigten im Internet
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Heiliges Christfest II, 26. Dezember 2006
Predigt zu Jesaja 11, 1-8, verfaßt von Dieter Koch
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Liebe Gemeinde,

ein Tor tut sich auf. Das Paradies erscheint. Eine Tür öffnet ihre Pforten und gibt den Blick frei in ein tief ersehntes Land. Universaler Frieden bricht ein, Versöhnung sprosst aus dem Wurzelgrund der Erde. Tier mit Tier und Tier und Mensch sind in einem alle Grenzen sprengenden Brüderbund vereint. Kosmische Geschwisterlichkeit verbindet alle an die Erde gebundenen Wesen: Tier und Mensch – das ist das visionäre Bild von Jesaja 11.

Liebe Gemeinde, ein Tor tat sich auf. Das Paradies erschien. Eine Tür öffnete ihre Pforten und gab den Blick frei in ein tief ersehntes Land. Universaler Frieden, Versöhnung, umfassende Geschwisterlichkeit sind mit dem Anbruch des Evangeliums, mit der Geburt des großen Evangelisten Gottes Jesus Christus unauslöschbar in die Welt, in das Gedächtnis der Menschheit eingegraben. Das ist die Realvision von Weihnachten – trotz und inmitten bleibender Bedrängnis, trotz und inmitten all der Todesgewalten, die nach wie vor regieren, die Angst, Bedrückung, Verzweiflung und Leere schüren. Und die doch seit Gott in Jesus Christus bis in den Wurzelgrund unserer Existenz hinab gestiegen ist und alles von innen her verwandelt hat, seltsam wurzellos, seltsam grundlos, seltsam nichtig geworden sind.

Angst, Bedrückung, Verzweiflung und Leere – sie sind da, wo wir sind, aber wo wir sind, ist auch Gott da in seinem Geist, in seiner Gnade, in seiner Liebe. Wir sind der Ort seiner Herrlichkeit, seit die Herrlichkeit des eingeborenen Sohnes des Vaters voller Gnade und Wahrheit in unser Fleisch gekommen ist, seit der Gottessohn Mensch geworden ist, seitdem das Licht Gottes erstrahlt aus der Tiefe unserer Herzen. Wir sind zur Herrlichkeit Gottes bestimmt, wir sind dazu bestimmt, von Gott verwandelt zu werden, wir sind voraus gerufen in das Land des Friedens. Der Glaube ist das große Versöhnungszeichen in dieser zerrissenen Welt, im Glauben spiegelt sich die ganze Schönheit Gottes und die weite Güte, die dem Kosmos seine Struktur gibt, aus der Tier mit Tier, Tier und Mensch leben, Atem schöpfen und Speise finden.

Herr ich glaube, hilf meinem Unglauben, bricht es da hervor. Denn wir mögen uns nicht täuschen, wir wollen uns nichts vormachen lassen. Der Glaube schöpft aus dem Geheimnis des Friedens, er tröstet das Gemüt, aber er ist zugleich unendlich schwach im Angesicht der Blutgewalt der Geschichte und des die Natur bestimmenden Überlebenskampfes. Vergessen wir nicht: Am heutigen zweiten Weihnachtstag erinnert die Kirche sich gerade im Aufschein des weihnachtlichen Glanzes der Steinigung des Stephanus, des ersten Märtyrers des Glaubens. Er musste sterben für die Freiheit, die er Christus verdankte, für die Liebe, die ihn erfüllte, für die Hoffnung, die er verströmte. Und Jesajas Vision vom universalen Brüderbund quillt hervor aus den Trümmern Jerusalems, aus der geschichtlichen Katastrophe des assyrischen Angriffs im Jahre 701 v.Chr. Hinter seinem Heilsbild dröhnen noch die Militärstiefel und blickt das Auge in die durch Blut geschleiften Mäntel der Gefallenen.

Doch in der Tiefe der Katastrophe wird ein Wort geboren, das Hoffnungsbild der Versöhnung. Statt in Rache zu schwelgen, statt die Assyrer dem herbei geflehten Feuerbrand zu überliefern, statt ihnen Höllentorturen zuzuwünschen, sieht der Prophet die Bestien um Asyl bitten, sieht er die Starken um Einlass suchen beim Schwachen. Eine tiefe Umwertung der herrschenden Werte klopft an: „Nicht der Feind, sondern das Feindsein werde überwunden. Nicht die Schwachen finden sichere Hut beim Starken, sondern umgekehrt. Statt in Abhängigkeit von der Gnade und Mildtätigkeit der Mächtigen sehen wir die Schwachen als selbstbewusste, souveräne Subjekte. Leopard und Böcklein sowie die Jungen von Kuh und Bär lagern beieinander – alles liest sich wie eine prophetische Vorankündigung jener festlich-frohen Gemeinschaft beim Mahl, die Jesus den Sündern schenkte und in der er die Väter Israels und die Heiden im kommenden Reich Gottes vereint beisammen sah. In einem Land, wo ein kleiner Junge Kalb und Jungleu zusammen zu den Weiden führen kann, muss niemand mehr unter einem Mangel an Orientierung und Leitung leiden“(Grimm, 49) - alles geschieht gewaltfrei und versöhnt. Kuh und Bär sind gute Nachbarn geworden. Entzücken und Lust liegen auf Tier und Mensch. Im Schättern (umgangssprachlich für das glucksende Lachen) eines Babys, das angstfrei vor dem Loch der Viper spielt, in der Entdeckerfreude eines Kleinkindes, das mit seiner Hand in der Höhle der Kobra gräbt, bricht Glück auf – und der Fluch des Lebens, der Bann von Fressen und Gefressenwerden, die als Naturgesetz sich darstellende Sündenmacht von Blutgier, Raub und Mord ist aufgehoben – das Leben erblüht. Es ist das Bild des Schöpfungsmorgens, der Vorschein des Paradieses. Wann nur – fragen wir – wird es wahr werden, wo nur erfahren wir solch versöhnte Gemeinschaft? Wie nur kann sie Raum greifen – die Wirklichkeit achtsamer Güte, weiter Liebe, freien Spiels, drängt es uns zu rufen, die wir im Glauben davon berührt sind, die wir im Geist sie verschmecken, und die wir doch zugleich uns oftmals an Händen und Füßen gebunden erleben, ausgeliefert an Angst, Bedrückung, Leere und Verzweiflung?

Liebe Gemeinde, das Hoffnungsbild, das uns Jesaja schenkt, ist stilistisch eine Perle der hebräischen Poesie und zugleich in seiner Botschaft ein Juwel der hebräischen Bibel. Der Tierfrieden, indem das Paradies wieder erscheint, dieses Traumbild der Versöhnung, das Fluch und Rache endgültig verabschiedet sieht, diese blühende Landschaft, in der Wolf und Schaf den Friedensschal umeinander gebunden haben, und der Löwe nicht länger mit fletschenden Zähnen reißt, der Räuber nicht länger als König sich inszeniert, die Bestie hinfort nicht länger regiert, sondern die Unschuld eines Kindes und sein freies Lachen für das Wohl und Heil gelingenden Lebens stehen, der Tierfrieden in Jesaja 11 ist die Frucht, das Ergebnis, das Hervorsprossen wohltätiger Gerechtigkeit.

Alles, was so friedlich, so jeglicher Feindschaft enthoben daherkommt, die Überwindung des Feindseins an sich verdankt sich der Gerechtigkeit, verdankt sich dem Walten des Gerechten. Der Atemraum der Versöhnung, die Lebenswelt wahrer Entfeindung hat eine Struktur, ohne die sie nicht sein kann: Gerechtigkeit. Die Gerechtigkeit, die in der ersten Hälfte dieses Gedichts aufbricht, ist selber visionär. Sie zeichnet das Bild des idealen Königs, sie sehnt den einen, den weisen und einsichtigen Volksführer herbei. Er soll es richten. Nur wo Gerechtigkeit waltet, kann Frieden wachsen. Nur wo der Gerechtigkeit verpflichtete Leute am Ruder sind, kann Versöhnung Wurzeln treiben. Nur wo von der Spitze eines Landes her alles auf Solidarität und auf Erhalt von Rechtssicherheit, Würde und Achtung für jedermann ausgerichtet ist, nur in einem Land, indem der Schwache nicht weiter erniedrigt und der Arme nicht ausgegrenzt wird, kann Gemeinschaft und gesellschaftliches Leben recht gedeihen. Frieden ist die Frucht der Gerechtigkeit (Jes 32,17). Gerechtigkeit ist die Voraussetzung einer ausgesöhnten Gesellschaft.

Was Jesaja zeichnet, den Anbruch der gerechten Zeit, ist eine visionäre Phantasie. Der Messias, der ihm vor Augen tritt, ist eine Erfüllungsgestalt, die Raum und Zeit sprengt – und doch ist es undenkbar, dass ohne solches sich in menschlicher Weise verdichtendes weises Handeln, ohne solche einen Mensch mit Haut und Haaren durchtränkende Gerechtigkeit unsere sittliche Berufung, unsere Bestimmung, dem Guten zu dienen, auskommen kann. Wir brauchen als inneres Leitbild die Möglichkeit, aufschauen zu können, auf den vollkommenen Menschen, der unabhängig und frei, sich gänzlich der Solidarität verschreibt, der aus Einsicht handelt, im Vollbesitz der Menschen möglichen Intelligenz wahrnimmt und dann entscheidet, was allen gut tut, der seinen natürlichen privaten Egoismus überwunden hat und dient – dient – dient, dem einen dient, dass das Leben blühe, so dass die Bestien, die sich bisweilen in Menschenart kleiden, von echter Gerechtigkeit bekehrt, um Heimstatt bitten, um gnädige Aufnahme bei denen, die sie zuvor in ihrer Gier gedemütigt hatten. Wir brauchen dieses in höchstem Maße positive Bild des Menschen, der weise ist, und einsichtsvoll, tatkräftig und durchsetzungsstark, vorausschauend und strukturell denkend, der von Ehrfurcht bestimmt ist und von Gottesliebe.

Im Alten Orient und im Alten Testament zeichnete man so das Idealbild des Herrschers und man suchte, die Könige dieser Norm zu unterwerfen. Die Christenheit sieht im Leben des Jesus von Nazareth dieses Königtum erfüllt, ein Königreich der Liebe und der Güte. Wir bekennen den Meister aus Galiläa, den Anfänger und Vollender des Glaubens, den König der Herzen als den Gesalbten, den Messias, den Christus Gottes. Wir feiern am heutigen Tag sein Kommen und singen: Lob, Preis und Dank, Herr Jesu Christ, sei dir von mir gesungen, dass du mein Bruder worden bist und hast die Welt bezwungen; hilf, dass ich deine Gütigkeit stets preis in dieser Gnadenzeit und mög hernach dort oben in Ewigkeit dich loben“(Johann Rist, EG 33,3) Denn Er ist die in die Geschichte eingetretene Realvision des Messias und sein Friedenswerk das Realsymbol des gnädigen Gottes, der an uns, in uns und mit uns handelt, des einen himmlischen Vaters, in dessen Vatergüte allein universale Versöhnung ihren Grund findet.

So öffnet sich der Blick wieder auf Weihnachten, auf das Fest der Geburt dieses Erlösers, in dem die Messiassehnsucht des alten Israels so überraschend in Erfüllung ging – und doch darin nicht gänzlich aufgeht. Denn es bleibt noch in und durch unser Tun und Lassen zu richten, dass unsere Welt, unsere Zeit, unser Land und diese Erde nicht nur im Glauben Frieden schmecke, sondern den Frieden der Gerechtigkeit in Wort und Tat, mit Mund und Händen realisiere. Die Menschen werden es danken, die Heimgesuchten, die Leidenden, die Opfer, die Armen, die Verzweifelten und Gebrochenen, und die Natur wird es danken, wo immer ein Vorschein der Vollendung in die Beziehungen von Tier und Mensch fällt. Wo immer die Güte Jesu uns antreibt, gütiger miteinander umzugehen, wo immer wir über anderen nicht den Stab brechen, sondern einander in Liebe führen, wo immer die Gewaltlosigkeit die Gewalt besiegt, wo immer der Arme sein Recht findet, wo immer der Frieden seine Chance bekommt und das Schaf – o Gotteswunder – dem Wolf bei sich Gastrecht gewährt – wird das Leben erblühen.

Universaler Frieden, Versöhnung, umfassende Geschwisterlichkeit sind mit dem Anbruch des Evangeliums, mit der Geburt des großen Evangelisten Gottes Jesus Christus unauslöschbar in die Welt, in das Gedächtnis der Menschheit eingegraben. Aus seiner Hoffnung lasst uns leben und Gott trauen, seinem Geist der Güte, der Gerechtigkeit und der Liebe. Der heutige zweite Weihnachtstag ruft uns aus der andächtigen Versenkung in die Geburt Christi in seine Nachfolge: „Nimm an des Christus Freundlichkeit, trag seinen Frieden in die Zeit! …Schreckt dich der Menschen Widerstand, bleib ihnen dennoch zugewandt“ (Dieter Trautwein, EG 56,4f) Amen.

Eine Nachbemerkung: Der Prediger weiß Dr. Werner Grimm aufrichtigen Dank zu sagen für seine eindrückliche Textbearbeitung in den Göttinger Predigtmeditationen 55 (2000/01), S. 45-57.

Pfarrer Dr. Dieter Koch
Stuttgart-Riedenberg
dieter-k-koch@web.de


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