Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, J. Neukirch, C. Dinkel, I. Karle

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Heiliger Abend, 24. Dezember 2006
Predigt zu Johannes 7, 28-29, verfaßt von Christoph Dinkel
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Der Predigttext für den heutigen Abend steht in Johannes 7 die Verse 28+29:
Da rief Jesus, der im Tempel lehrte: Ihr kennt mich und wisst, woher ich bin. Aber nicht von mir selbst aus bin ich gekommen, sondern es ist ein Wahrhaftiger, der mich gesandt hat, den ihr nicht kennt. Ich aber kenne ihn; denn ich bin von ihm, und er hat mich gesandt.

Liebe Gemeinde!

In einem Brief an einen Kollegen hat sich der Soziologe Max Weber einmal als „religiös unmusikalisch“ bezeichnet. Er sei weder antireligiös noch irreligiös, nur eben „religiös absolut unmusikalisch“. Webers Formulierung ist zu einer stehenden Wendung geworden. Viele haben sich seitdem in ähnlicher Weise als „religiös unmusikalisch“ bezeichnet, in jüngere Zeit besonders prominent die Philosophen Jürgen Habermas und Richard Rortry. Religion, so unterstellt die Formulierung, ist eine Sache der Begabung, etwas, das man nicht lernen und sich nicht aneignen kann, Religion ist ein Gespür, das man eben hat oder nicht. In der Tat, der Glaube ist nicht jedermanns Ding, das hat schon der Apostel Paulus im zweiten Thessalonicherbrief festgestellt (2. Thessalonicher 3,2). Aber das heißt noch lange nicht, dass religiöse Unmusikalität ein unabwendbares Schicksal ist. Bei Kindern unternimmt man heute ja auch einiges, um selbst bescheidene musikalische Begabungen nach Kräften zu fördern. Kinder erhalten musikalische Früherziehung und werden zum Kinderchor geschickt. Und dort zeigt sich dann schnell, dass eigentlich kaum jemand völlig unmusikalisch ist. Das lässt hoffen, dass es sich auch bei der religiösen Unmusikalität eher um einen Mangel an Bildung und Übung und eben nicht um Schicksal handelt.

Jesus jedenfalls – in unserem Predigttext – sieht seine Zuhörer keinesfalls als hoffnungslose Fälle an. Er spricht sie zwar als solche an, die Gott nicht kennen, aber er sieht durchaus Chancen, dass sich das ändern könnte. Er selbst nämlich, Jesus, kennt Gott sehr gut, denn der hat ihn zu den Menschen und in die Welt gesandt. Jesus beansprucht für sich mithin ein hohes Maß an religiöser Musikalität, er sieht sich gleichsam mit einem „absoluten Gehör“ für die Angelegenheiten des religiösen Musikwesens ausgestattet – und wer wollte ihm dies absprechen?

Wie aber zeigt sich eigentlich religiöse Musikalität? Woran wäre sie denn zu erkennen? Auch dazu gibt unser Predigttext Hinweise. In der Tat ist religiöse Musikalität ähnlich der musikalischen Musikalität eine Frage der genauen Wahrnehmung. Seinen Zuhörern sagt Jesus: „Ihr kennt mich und wisst, woher ich bin.“ Aber wie Jesus das sagt, wird deutlich, dass seine Zuhörer keinesfalls schon wirklich wissen, wer da vor ihnen steht. Sie denken sie kennen Jesus: Klar, das ist der religiöse Lehrer aus Nazareth, sein Vater war Zimmermann und hieß Joseph, seine Mutter heißt Maria. Diese Fakten sind bekannt. Jesus geht es auch keinesfalls darum, sie in Abrede zu stellen. Ihm geht es vielmehr darum, dass seine Zuhörer hinter diesen vordergründigen Tatsachen noch eine zweite Realität wahrnehmen, nämlich, dass er von Gott gesandt ist und dass in dem, was er sagt und tut, Gott selbst in seinem Reden und Handeln zu erkennen ist. Jesus versucht seine Zuhörer mithin sensibel zu machen für die verborgene Wirklichkeit Gottes, die hinter den puren Tatsachen liegt und die deshalb nur bei erhöhter Aufmerksamkeit wahrgenommen werden kann. Jesus gibt seinen Zuhörern sozusagen einen kleinen religiös-musikalischen Erziehungskurs.

Schauen wir aus dem Blickwinkel religiöser Musikalität auf die beiden Weihnachtsgeschichten der Bibel im Lukas- und im Matthäusevangelium, so fällt auf, dass auch in ihnen die religiös-musikalische Begabungen durchaus unterschiedlich verteilt sind. Maria und Elisabeth, die beiden Kusinen, sind wohl die religiös musikalischsten von allen Beteiligten. Ihnen muss man nicht lange erklären, was die Schwangerschaft Marias bedeutet. Sie wissen, dass das Kind in Marias Bauch zugleich Gottes Sohn ist. Joseph ist da schon schwerer von Begriff. Aber mit Hilfe nachhaltiger Lektionen durch einen Gottesboten wird auch er sensibel für das große Ereignis und steht Maria und dem Jesuskind bei. Die Hirten auf dem Feld bei Bethlehem und die Weisen aus dem Morgenland scheinen in Punkto religiöser Musikalität echte Naturbegabungen zu sein. Den Hirten genügt der Hinweis des Engels und den Weisen ein Stern am Himmel, um sich auf den Weg zu machen, den neugeborenen Gottessohn zu besuchen. Hirten wie Weise, das fällt auf, sind Menschen, die viel Zeit zu ruhigem Beobachten haben. Sie sind sensibel für kleinste Veränderungen, andernfalls würden sie am Himmel nichts wahrnehmen oder drohende Gefahren für ihre Herde nicht rechtzeitig erkennen. Religiös total unbegabt ist hingegen der König Herodes. Er fürchtet, das neugeborene Kind könne seinem Herrschaftsanspruch gefährlich werden und trachtet ihm deshalb nach dem Leben. Herodes spielt in der Weihnachtsgeschichte sozusagen die Rolle des religiösen Banausen, der von Tuten und Blasen überhaupt keine Ahnung hat.

Wo aber würden wir uns auf der Skala religiöser Musikalität einordnen? Als Banause würde sich hoffentlich niemand von uns sehen, schließlich sind Sie und seid Ihr ja alle in die Kirche zum Heiligabendgottesdienst gekommen. Ansätze für religiöse Musikalität sind also mindestens vorhanden. Bei vielen wird es über Ansätze sogar weit hinausgehen. Sicher sind sogar einige Hochbegabte in Sachen Religion unter uns, die Kinder zum Beispiel. Kinder, darauf hat Jesus schon hingewiesen, sind ihren Eltern in religiösen Fragen oft weit voraus. Von ihrer Sensibilität für Gottes verborgene Welt könnten die meisten Erwachsenen viel lernen.

Aber ob wir nun religiös nur mäßig oder im Gegenteil hoch musikalisch sind – die Weihnachtsbotschaft ist für alle bestimmt. Weihnachten lehrt uns, auf die verborgene Welt Gottes zu achten. In einem ärmlichen Stall, abseits der Weltgeschichte kommt Gott als kleines Kind zur Welt. Die himmlische Macht setzt sich in Jesus den Gefahren und Risiken irdischen Lebens aus. Ein sterblicher Mensch wird zum Werkzeug und Boten Gottes. In all seinen Worten und in all seinen Taten steht Jesus für Gottes Liebe zu den Menschen ein. Durch Jesu Reden und Handeln hindurch erkennen wir den Schöpfer unseres Lebens, der sich uns Menschen zuwendet und die Welt erneuern will. Diese Botschaft von Weihnachten ist nicht immer leicht zu glauben. Manches in unserem Leben spricht gegen sie. Oft wird die Botschaft von Gottes Liebe auch übertönt vom lärmenden Trubel unseres Alltags, von all dem Ärger und all den Freuden, denen wir täglich ausgesetzt sind. Aber einmal im Jahr, wenigstens einmal im Jahr schütteln wir ab, was uns für gewöhnlich gefangen nimmt. Wenigstens einmal im Jahr, wenigstens heute wollen wir uns auf unsere Begabung besinnen und unsere brachliegende religiöse Musikalität beleben. Mit Krippe und Baum, mit Gebäck und Geschenken, mit Kerzen und Zimtgeruch wecken wir unsere Sinne auf und werden aufmerksam auf die Welt Gottes, die hinter den einfachen Tatsachen unserer Welt zu erkennen ist. Allen Einwänden, allen Enttäuschungen und Zweifeln zum Trotz nehmen wir an Weihnachten die Botschaft wahr, dass Gott diese Welt mit ihrem Glück und ihrem Leid trägt, dass Gottes Sohn in Jesus zu uns gekommen ist und dass Gott uns Menschen liebt, ganz gleich, ob wir religiös nun besonders musikalisch sind oder nicht. – Amen.

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Zitatnachweis: „Ich bin zwar religiös absolut unmusikalisch und habe weder Bedürfnis noch Fähigkeit, irgendwelche seelischen ‚Bauwerke’ religiösen Charakters in mir zu errichten..., aber ich bin nach genauer Prüfung weder antireligiös noch irreligiös“ (Max Weber zit. nach: Volker Drehsen, Protestantische Religion und praktische Rationalität..., in: Wolfgang Steck (Hrsg.), Otto Baumgarten. Studien zu Leben und Werk (Schriften des Vereins für Schleswig-Holsteinische Kirchengeschichte II/41), Neumünster 1986, 197-235. 230, Anm. 42.)

Prof. Dr. Christoph Dinkel
Pfarrer
Gänsheidestraße 29
70184 Stuttgart
E-Mail: dinkel@email.uni-kiel.de

 


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